Byzanz, Eurasiens Wunde. Das Sykes-Picot-Abkommen vor 100 Jahren und Europas orientalische Schuld

„Alle heutigen Konflikte des Nahen Ostens gehen zurück auf den Ersten Weltkrieg.“ (David Fromkin)

Das osmanische Reich, das politisch auf der Friedenskonferenz von Sèvres im Jahre 1920, geistlich mit der Absetzung des letzten Kalifen, des gewesenen Sultans Abdülmecid des Zweiten, im Jahre 1924 nach langem, mählichem Verfall zu Ende ging, stand am 28. Juni 1914 an der letzten Schwelle zu seinem Untergang. An jenem Tag – es herrschte bestes, sonniges Balkanwetter oder, wie man in der weiter nördlichen, waldigen und regnerischen norischen Tiefebene sagte: Kaiserwetter – begaben sich Seine K. u. K. Hoheit der Erzherzog-Thronfolger von Österreich, Königlicher Prinz von Ungarn und Böhmen, Franz Ferdinand, und seine morganatische Gemahlin, die Herzogin von Hohenberg, leider nur eine einfache Hoheit und auch dies, da eigentlich eine geborene Gräfin aus landständigem Adel, nur von Kaisers Gnaden, zum Abschlussempfang in den Konak, den Sitz des Statthalters zu Sarajewo. Keine sechs Jahre war es her, dass durch kaiserliche Entschließung Bosnien und die Herzegowina, um deren Besitzes willen ein Menschenalter zuvor beinahe ein Weltkrieg entbrannt wäre, offiziell der österreichisch-ungarischen Monarchie einverleibt wurden, unter Sonderverwaltung aus Wien, versteht sich, um den ewigen Zwist zu vermeiden, der seit dem Ausgleich von 1867 zwischen der cisleithanischen Reichshälfte und den Ländern der Heiligen Stephanskrone tobte. Heute, an diesem schicksalhaften 28. Juni, wurde ein Weltkrieg daraus. –

Nach dreißig Jahren international, kraft nämlich der zu Berlin unter der bauernschlauen, aber nicht immer vorausschauenden Regie des pommerschen Kavallerieoffiziers Otto von Bismarck getroffenen Vereinbarungen sanktionierter Militärverwaltung, hatte also der Kaiser Franz Joseph, der erste und letzte seines Namens, in einer solennen Deklaration und pünktlich zur Feier seines sechzigjährigen Regierungsjubiläums, die vollständige Herauslösung der westbalkanischen Provinz aus dem ottomanischen Reichsgebilde verfügt – freilich nicht ohne vorher Rücksprache mit Russland, dem alten Feind und Nachbarn, getroffen zu haben, das sich durch den Ballhausplatz im Gegenzug die freie Durchfahrt durch Bosporus und Dardanellen zusichern ließ. So wurde Bosnien und die Herzegowina zur letzten friedlichen Landerwerbung einer europäischen Monarchie auf dem europäischen Kontinent.

Wo heute Bosnien liegt, wenige Tagesmärsche vom Lauf der Donau entfernt, siedelten im Altertum, zweitausend Jahre zuvor, die Kelten. In seiner Anabasis des Alexander schildert Arrian, wie der junge Makedonenkönig, ehe er den Weg nach Osten einschlug, mit ihren Abgesandten zusammentraf. Auf die Frage, was sie denn am meisten auf der Welt fürchteten, gaben sie indessen nicht die erhoffte und erwartete Antwort – nämlich ihn, der die Frage stellte, selbst –, sondern sagten, so will es die Legende, sie fürchteten nur dies eine: dass ihnen der Himmel auf den Kopf falle.

Herausforderung weckt Eroberungslust, Schlichtheit aber, sie mag Ausdruck innerer Stärke sein oder nicht, macht gleichgültig. Der große Alexander merkte, was er merken sollte, an dieser Antwort: dass auf dem Balkan, in dessen Herzen er als Sohn des Königs Philipp des Zweiten im prächtigen, aber barbarischen Pella geboren, für ihn keine Lorbeeren zu gewinnen seien. So wandte er sich, nicht unbeeindruckt zwar, wieder ab von den merkwürdigen, unrasierten Männern in ihrer primitiven, bäurischen Tracht und nahm in Angriff, was seinen Namen ins Buch der Geschichte einschreiben sollte, so lange es eine Menschheit geben mag: den Zug nach Asien, das große europäisch-asiatische Reich.

Der Kampf um den Balkan, so ließe sich sagen, dieser Kampf, der schon bald, keine zweihundert Jahre nach des großen Alexanders Tod, zum Schicksalskampf Europas werden sollte und dies geblieben ist bis auf den heutigen Tag, da durch den Schlauch dieser Halbinsel tagtäglich Zehntausende Flüchtige, vom ägäischen Meer kommend, den schweren, hoffnungsvollen Gang nach Mitteleuropa, nach Deutschland auf sich nehmen: dieser Kampf war im Grunde immer ein Kampf um das Stammland Alexanders, ein ewiger tomb raid mit der obskuren Wiegen- und Grabesstätte des Ruhmreichen und Vielgeliebten als Gralsburg, als heiß ersehntem und nie gefundenem Munsalvasch.

Darein, in diese topographische Heldenerzählung fügt sich die geologische Stellung des Balkans als Schnittpunkt Europas und Asiens. Hier verläuft, neben dem Ural und dem Kaukasus, die dritte, große, lange und breite Grenze, die Asien von Europen reißt, doch die Liebe nicht schreckt; die, wie eben jede Grenze, beide in einem unauflöslichen clinch zu dem großen Einen verbindet, das wir langsam wieder Eurasien zu nennen uns gewöhnen.

In die Meldungen um die Krim, Griechenland und Syrien, alle drei im Schnittpunkt der großen Landmasse, die Zbiginiew Brzezinski in seiner Programmschrift „The Grand Chessboard“ von 1997 denn auch the Eurasian Balkans, den „eurasischen Balkan“ nannte, mischte sich im Spätsommer 2014 die Nachricht, beim makedonischen Amphipolis, in alter, längst versunkener Zeit einst eine Stadt von historischem Rang, eine Grabanlage von bis dahin unbekannter Ausdehnung und Pracht aufgefunden zu haben. Rasch wurden, insbesondere in griechischen Medien, Vermutungen laut, hier könne sich das Grab des großen Alexanders befinden. Und wenn auch wohl eher der Wunsch der Vater solcher Gedanken sein mag, so wäre es doch ein arger Zufall, wenn das Grab von Amphipolis und damit der Alexandermythos, der in the nutshell den eurasischen enthält, nicht ausgerechnet in jenem historischen Augenblick ins kollektive Bewusstsein Europas gerückt wäre, in dem die Frage nach und der Kampf um die Neuordnung Europas und Eurasiens in ihre entscheidende Phase zu treten begannen.

In dem Dreieck, dessen gedachte Hypotenuse, auf dem Balkan, längs der alten kroatischen Militärgrenze, beginnend, hinüber nach Markanda, dem heutigen Samarkand in Usbekistan sich erstreckt, während seine imaginären Katheten, die linke etwas kürzer, die rechte etwas länger, spitz aufeinander zulaufend durchs östliche Mittelmeer hier, durch Afghanistan und Persien dort, am südlichsten Punkt der arabischen Halbinsel sich vereinigen: in diesem Dreieck vollzieht sich der Kern dessen, was wir Weltgeschichte heißen. Auf den Sinai führte der ägyptische Prinz Mose, ein israelitischer Bastard und daher ausgeschlossen von der legalen Thronfolge, zu der er doch mehr legitimiert als irgendein anderer, seine Getreuen, ausgelöste und entlaufene Sklavenarbeiter und Esoteriker, um aus ihnen das Muttervolk einer neuen Herrscherschicht in dem politisch aufgewühlten phönizischen Landstreifen längs der Mittelmeerküste zu schaffen. Zur Oase Siwa nahm Prinz Alexander, König der Makedonen aus menschlichem und bald Kaiser des Orients aus göttlichem Recht, den Umweg auf dem Marsch nach Susa und Persepolis, vielermahnt und getadelt von seinen Generalen, diesen zeitraubenden Unsinn zu lassen, nichtsahnend, unwissend sie um den tieferen Grund, der den Ahnenden und Suchenden, dessen Achilleertum nur der eine Teil seiner Seele war, diesen Umweg nehmen ließ. Nach Ägypten schließlich führte auch, so will es das Evangelium, den neugeborenen Heiland seine erste Reise, auf der Flucht vor den Häschern des Herodes.

Und schließlich: Ägypten war auch das erste Opfer der islamischen Expansion. Keine fünf Jahre nach dem Tod des Propheten im Jahr des Herrn 632, der fünf Sechstel seines Lebens ein Verfolgter, Geächteter und Flüchtender war, bis er im sechsten der stolze, brutale und unbestrittene Anführer einer stetig wachsenden Schar von Getreuen, ihm auf den Tod Verfallenen wurde: keine fünf Jahre also nach dem Tode Mohammeds schwappte die Sturmwelle seiner Gläubigen – denn so nannte sich die neue Religion, schlicht und outspoken: Islam, „Glaube“ – von der arabischen Wüste, wo sie sich aufgestaut, hinüber ins stolze, reiche und schöne Ägypten, das China Europas, die älteste Stätte menschlicher Kultur am Schnittpunkte der drei Erdteile Afrika, Asien und Europa. Ägypten, das ein halbes Jahrtausend lang eine römische Provinz mit einer griechischen Bevölkerung gewesen, fiel unter die Banner der Gotteskrieger, die, vom südlichsten Rand der eurasischen Wüste kommenden, aufbrachen, Eurasien sich zu unterwerfen.

Von diesem Ägypten, wie vom Orient im Ganzen, dessen Länder in rascher Folge dem Ansturm der Mohammedaner erlagen, sprachen die Griechen, die einst von der Costa Brava bis auf die Krim die gesamte Mittelmeerküste besiedelt und ins reinigende Bad ihrer Zivilisation getaucht hatten, noch im zwanzigsten Jahrhundert als von „ihrem Osten“, nannten es tin kath’ imas anatoli. Konstantinos Kafavis, der größte Dichter der „neugriechischen“ Athener Schule, wurde Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Sohn einer griechischen Kaufmannsfamilie in Alexandria geboren. Etwa um dieselbe Zeit heiratete die phanariotische Kaufmannstochter Eleni Valtazzi, die reichste Erbin Konstantinopels, den österreichischen Diplomaten Albin Vetsera, einen baronisierten slowakischen Aufsteiger in die Wiener „Zweite Gesellschaft“. Ihre gemeinsame Tochter Mary (eine unter zahllosen Legenden will, dass sie gar die Frucht einer Liebschaft zwischen der Helene Vetsera und dem Kaiser Franz Joseph höchstselbst gewesen) ging zwanzig Jahre später, an einem Januarmorgen des Jahres 1889, mit dem Kronprinzen Rudolf von Österreich, dessen letzte sie ebenso wie er ihre erste Liebschaft gewesen, im Jagdschloss Mayerling in den Tod.

Das Griechentum, dessen Geschichte der europäische Norden mit der durch Kaiser Justinian verordneten Schließung der athenischen Akademie im Jahre 529 in einer gewissen bornierten Einfalt gern für abgeschlossen hält (dies eine Behauptung, die von der westeuropäischen Geschichtswissenschaft des Aufklärungszeitalters aufgestellt und in Umlauf gebracht wurde), reichte ethnisch und geistig vom Südzipfel Italiens, wo heute noch ein griechisches Idiom gesprochen wird, bis nach Ägypten, Palästina und Syrien. So wie vor zweitausend Jahren mit Kleopatra, einer Prinzessin aus ptolemäischem Hause, eine Griechin auf dem ägyptischen Thron saß, so bildeten hellenisierte Assyrer die Stammbevölkerung der römischen Ostprovinz Syria, welche 637 in arabische, vier Jahrhunderte später dann in seldschukische Hände überging. –

Wenn wir heute von einer Syrienkrise reden, so haben wir es also tatsächlich mit einer Krise des griechischen – und das heißt: des europäischen – Orients zu tun. Die romantisierende morgenländische Erzählung vom islamischen Orient, von feilschenden Kamelhändlern, vorbeiziehenden Karawanen und wirbelnden Derwischen, vom morgendlichen Rufen des Muezzin und von den Geschichten der Scheherazade, die sich in Europa in den Jahrhunderten nach dem Scheitern der Kreuzzüge, der großen, nie verwundenen Kränkung des politischen Selbstbewusstseins des christlichen Kontinents, konsequent einübte, hat die Erinnerung an die europäische Urgestalt des Orients ebenso ausstreichen geholfen wie jene an die orientalische Urgestalt Europas.

Doch es war eine phönizische Prinzessin mit semitischem Namen, die der Stier Zeus vom Libanon nach Kreta entführte, und es war ein balkanischer Prinz mit dem vorderasiatischen Namen Alaksandus, der seine westlichen Heerscharen über Halys, Euphrat und Tigris bis nach dem Nil, bis an den Indus führte. Die europäische Idee des Königtums, noch heute sichtbar repräsentiert durch popkulturelle Identifikationsfiguren wie die Prinzen William und Harry Wales, ist ein orientalischer Import, die vorgeblich primitive, altertümliche Wirtschaftsform des Orients aber, ablaufend nach den Gesetzen von Tausch und Täuschung, ist nichts als die, um zivilisatorische, also normativistische Milderungen, bereinigte Variante der Beute-Ökonomie, die David Graeber als das Wesen des Kapitalismus, also des westlichen Wirtschaftslebens jüngst herausgestellt hat.

Erst das Aufkommen des Islam im siebten Jahrhundert nach Christus bewirkte jene tiefgreifende Disruption zwischen Europa und dem Orient, also wörtlich: dem Osten, dem östlichen Flügel Europas, die bis heute nicht mehr überwunden wurde. Wir haben es hier gleichsam mit einer geistigen Kontinentaldrift zu tun mit der paradoxen Wirkung, dass etwa der griechische und der türkische Teil Thrakiens, künstlich auseinandergehalten durch die im Frieden von Bukarest 1913 gezogene Grenze, einander fremder sind als die USA und Russland, die zwei Ozeane voneinander trennen. Taylor Swift und Helene Fischer sind Kinder eines gemeinsamen Stammes, aber an der Ostgrenze der Türkei beginnt für den Europäer und den Asiaten jeweils eine fremde Welt.

Nachdem das Projekt der Kreuzzüge, angestoßen durch den Hilferuf des byzantinischen Kaisers an die lateinische Welt, gescheitert war, klaffte der Riss zwischen Abendland und Orient immer weiter auf. Nun waren es nicht mehr wie in den Jahren der Conquista die „Sarazenen“, also arabische Reiterheere, vor denen Europa zitterte, sondern die seldschukischen Türken, ein westmongolisches Nomadenvolk, das seit dem elften Jahrhundert die ganze eurasische Steppe überschwemmte, 1453, nach tausend fehlgeschlagenen Versuchen und einem heldenhaften Abwehrkampf des sterbenden byzantinischen Kaisertums, Konstantinopel nahm und seine Macht bis nach Mitteleuropa ausdehnte. Fast zwei Jahrhunderte lang war Budapest eine türkische Stadt, und zweimal, 1529 und 1683, standen die Heere des Sultans vor Wien. Als er endlich zurückgeschlagen wurde; als Russland um die Wende vom siebzehnten zum achtzehnten Jahrhundert als ein zweites Byzanz sich zu erheben begann und schließlich, sous les aigles orientales, unter den Bannern des Generals Bonaparte, der merkwürdigerweise den griechischen Vornamen Napoléon trug, die türkische Herrschaft in Griechenland und auf Westbalkan langsam zerbrach: da war auch die Disruption zwischen West und Ost irreversibel geworden. Am augenfälligsten drückte sie sich darin aus, dass man von nun an den Sultan nicht mehr als Antichristen behandelte, sondern als seriösen diplomatischen Gegenpart, geographisch ein Nachbar, geistig aber wie vom andern Ende der Welt. Genau hundert Jahre lang ging dies so: von 1814, als der Kaiser der Franzosen, der von einem vereinigten West- und Ostrom träumte und gegen den sogar England, Russland und die Türkei in der wohl sonderbarsten Allianz überhaupt sich verbündeten, in Fontainebleau zum Abschied von seiner Garde und seiner Macht die Trikolore küsste, bis 1914, als sich der Sultan von den Westmächten, die ihm hundertmal den Thron gerettet, losriss und auf die Seite der Mittelmächte stellte.

Der Erste Weltkrieg, der im selben Jahr und auf dem Balkan ausbrach und dessen heimlicher, geistiger Schwerpunkt nicht etwa am Rhein oder an der Weichsel lag, sondern auf einer Linie von Neurussland über die Levante bis nach dem Sinai verlief, bot den westlichen Großmächten England und Frankreich, die in diesen Krieg als Wirtschaftskrieg hineingegangen waren, die Gelegenheit, sich aus der Erbmasse des Osmanischen Reiches sattsam zu bedienen. Die Wunde der gescheiterten Gallipoli-Expedition, auf der australische und neuseeländische Truppen in einem schweren, blutigen Ringen versucht hatten, dem Zaren den Weg auf Konstantinopel freizuschießen und so eine Bresche in die ewig wankende Südostfront des Mittelmächteblocks zu schlagen (auf andere, geschmeidigere Weise, nämlich im Wege des Kriegseintritts Griechenlands auf Seiten der Entente am 28. Juni 1917, ausgerechnet an einem 28. Juni, sollte diese Strategie schließlich doch noch zum Erfolg führen), war noch nicht verheilt, die zusammengeschmolzenen Reste des Australian New Zealand Army Corps mit letzter Kraft nach Thessaloniki geflüchtet (was, welch Pointe, erst seit drei Jahren überhaupt wieder eine griechische Stadt war, nachdem die Türken sie den Venezianern fünfhundert Jahre zuvor entrissen hatten): da begannen bereits der französische Diplomat François Georges-Picot und der britische Oberst Baronet Mark Sykes die Verhandlungen über das mit Spannung und Gier erwartete Dismemberment des osmanischen Ostens.

Der Länderschlauch zwischen Antolien und Ägypten, der Halbmond im engeren Sinne, hatte nie wirklich türkisch-osmanisch gedacht und gefühlt. Die Mamelucken in Ägypten machten unter dem Mäntelchen der türkischen Oberherrschaft stets ihre eigene Politik, was im Aufstand des Muhammad Ali zur Napoleonzeit gipfelte, während nach der Machtübernahme durch die Seldschuken im frühen zweiten Jahrtausend Syrer und Iraker im Norden, Araber im Süden der dann osmanischen Ostprovinzen ein Momentum latenter Aufsässigkeit bildete. Als es mit der Macht des Sultans nach dem Frieden zu Karlowitz 1699 unwiderruflich zu Ende ging, entstand – mitten im achtzehnten Jahrhundert, dem Äon der europäischen Aufklärung, die, transmittiert durch die griechische Diaspora, bis auf den Balkan hin ausstrahlte und dort die Abschüttelung des osmanischen Jochs vorbereitete – wiederum in der arabischen Wüste mit dem Wahabitismus eine neue, orthodoxe und radikale Strömung des Islam, die sich in zweihundertfünfzig Jahren mit Macht zur Gegenpotenz gegen die aufgeklärte, säkulare christliche Welt aufbaute, die nun abwechselnd „Europa“, „Westen“,„Abendland“ oder schließlich „Erste Welt“ hieß. (Was wir heute als Krieg zwischen dem „Westen“, der in diesem Fall besser Euroatlantis hieße, und dem Islam erleben, ist ein genuines Ergebnis dieses Antagonismus und kein Produkt von CIA-Geheimfonds und Washingtoner Think Tanks.)

Zutreffend beziehungsweise umfassend ist keine dieser vier Bezeichnungen. So bleibt paradoxerweise nur das Prädikat „christlich“, um den Kulturraum zu beschreiben, der, von San Francisco nach Wladiwostok sich erstreckend, in einem Jahrhundert, politisch gezeichnet von drei großen Herrschern: Peter, Friedrich und Napoleon, Schluss machte nicht zwar mit seiner Christlichkeit, aber – mit dem Christentum als Dogma, mit seiner Identität als Glaubensraum. In der Kontraposition von Aufklärung und Wahabitismus finden wir den Konflikt vorgeformt, der im Ersten Weltkrieg schlussendlich aufbrach mit der arabischen Rebellion, die, mit britischem Geld finanziert, die osmanischen Strukturen unterminieren und so, zum zweiten Mal nach Gallipoli 1915, nun also 1916, die Südostflanke des Mittelblocks aufknacken sollte.

Wie Gallipoli, so scheiterte auch dieser Plan, nicht ebenso krachend, aber dafür gründlicher. Gallipoli hatte, was undenkbar gewesen in der neuesten Geschichte Europas, die unter dem Stern des britisch-russischen Gegensatzes gestanden, die russische Herrschaft in Kleinasien vorgesehen, also die heißersehnte und langangekündigte Aufrichtung des Dritten Roms und die, wenn auch russisch gesteuerte, Erfüllung der griechischen megáli idéa, der „Großen Idee“ eines wiedererstandenen griechischen Raums am Westrand des eurasischen Balkans, eines „Griechenlands der fünf Meere“, beginnend beim ionischen, endend am Schwarzen Meer. Dieser Plan – wie ernst und unernst er auch immer gemeint gewesen sein mag – bedeutete einen Twist in der gesamten, hundertjährigen Tradition europäischer, und das heißt: westeuropäischer Orientpolitik, die seit dem zweiten Koalitionskrieg immer die Türkei gleichsam „übersprungen“ und direkt nach dem Nahen Osten gegriffen hatte.

Ägypten, Syrien, Irak, diese territoriale Füllmenge zwischen Afrika, der rudis indigestaque moles im Süden, und Russland, dem unter einer deutschen Dynastie und ostslawisch-skandinavischen Adelsgeschlechtern aus dem ewigen Eise erwachten Bären in Hyperboreia, waren der Kuchen, um den es den big players England, Frankreich und Russland bereits auf dem Wiener Kongress eigentlich ging – nicht die Frage, ob Tirol bei Bayern bleibe, Hessen-Homburg seine Souveränität wiedererlange und Isenburg-Birstein sie verliere. Nur ans Sultanat und seine Heimstatt, an die Türkei selbst, deren Name auf Landkarten der Zeit stets mit unverschämt großer Laufweite gedruckt wurde, weil er ja von der mittleren Adriaküste bis hin an die persische Grenze reichen musste, traute man sich damals nicht heran – und tat nach dem Paukenschlag der griechischen Befreiung zwischen 1821 und 1830, die die komplette Außen- und Innenpolitik des postnapoleonischen Europas durcheinanderwirbelte, alles dafür, sie zu erhalten – eine Politik, die 1915 nicht endete und heute, 2015, mutatis mutandis im Zeichen Merkelscher Bittgänge nach und Obamascher Garantieerklärungen für Istanbul wieder im Schwange ist.

Nach dem blutigen Zwischenspiel von Gallipoli, das durch deutsche Sperrminen und Schiffsartillerie beendet wurde – hier und nicht im Skagerrak erfüllte die manische, teure und anachronistische kaiserliche Flottenrüstung paradoxerweise ihren eigentlichen Sinn –, da man im deutschen Großen Hauptquartier schon die Befehle für die Operation Chi (das Codewort für Verdun) schrieb, griffen die Westmächte, deren östlicher Verbündeter 1915 auf breiter Front empfindliche Niederlagen hatte einstecken müssen, vorausschauend wie immer in ihrer Geschichte, die mit so vorteilhaften geopolitischen Bedingungen gesegnet (die eine an zwei, die andre gar an vier Seiten vom Meer umschlossen, dem besten Schutzwall überhaupt), nach Mesopotamien und teilten es untereinander auf: Syrien, wozu man auch den Libanon zählte, kam an Frankreich, der Irak, das alte Babylon, an Großbritannien, während man Palästina mit Jerusalem gemeinschaftlicher Verwaltung vorbehielt, die auf dem Vertrag zu San Remo 1920 in ein Völkerbundsmandat umgewandelt wurde. Dreißig Jahre und einen Völkermord später gingen hieraus Jordanien und Israel hervor, während 1921 das Königreich Irak, 1930 die Republik Syrien als formell unabhängige Staaten proklamiert wurden, deren Mandatarstaaten freilich umfangreiche – und in der außen- und innenpolitischen Praxis entscheidende – Sonderrechte eingeräumt wurden.

Der US-amerikanische Historiker David Fromkin, der die westliche, spätkoloniale Interventionspolitik im Nahen Osten äußerst kritisch betrachtet, zieht in seinem Standarwerk A peace to end all peace (1989/2009) eine bittere Bilanz unter das Sykes-Picot-Abkommen:

 

„Großbritannien und, in geringerem Maße, Frankreich [waren] die prägenden Mächte der Region. Mit der Beseitigung des Osmanischen Reiches radierten sie die Landkarte des alten Mittleren Ostens aus und entwarfen eine neue. Der Irak, Jordanien und Israel sind britische Kreaturen, Syrien und der Libanon sind französische – mit verheerenden Folgen. Seit 1919 herrschen im Mittleren Osten Wirrwarr und Blutvergießen.“

 

Tatsache ist, dass die Regelungen von 1916 und später 1920 an dem Makel litten, ausgerechnet jenes Prinzip, das die Westmächte selbst zum Grundsatz ihrer Nachkriegsordnung erklärt hatten, weitgehend zu ignorieren: das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Was im Falle Griechenlands 1830 gleichsam fahrlässig zugelassen, in dem der Balkanstaaten nach und nach immerhin zähneknirschend gebilligt worden, wollte man im primitiven Orient, zumal in Erwägung des enormen wirtschaftlichen Interesses, das man an den dortigen Bodenschätzen hatte und hundert Jahre später immer noch hat, nicht gelten lassen. Dieser Makel aber war das proton pseudos, die politische Ursünde der westlichen Nahostpolitik des Weltkriegszeitalters: Stammes- und Konfessionskonflikte, in Palästina mit seiner starken jüdischen Minderheit ein regelrechter Religionskonflikt waren vorprogrammiert.

Es sollte vierzig Jahre dauern, bis, in den Sechzigerjahren, in doppelter zeitlicher Koinzidenz mit der Unabhängigkeit der afrikanischen Kolonien und mit der Zuspitzung des amerikanisch-russischen Konflikts und seiner Verlagerung nach Deutschland sowie nach Mittel- und Südamerika, also in die jeweiligen unmittelbaren territorialen Vorhöfe, sich im Nahen Osten eine gewisse, freilich immer noch zittrige, Ordnung einstellte: vom nasseristischen Ägypten bis zum baathistischen Syrien befreite man sich durch Putsch und Staatsstreich vom lästigen Zugriff der Mandatarstaaten, und ein Geist säkularer Staatlichkeit breitete über die Levante sich aus, wie er zuletzt während der Kreuzzüge geherrscht hatte, als der Ayyubiden-Kalif al-Kamil mit dem katholischen Römischen Kaiser den Vertrag von Jaffa schloss und der alte, verderbliche Doublebind von religiös-eiferndem Überbau und ökonomisch-exploitativer Gegenständlichkeit aufgehoben zu werden schien im hegenden und behütenden Gehäuse einer strengen, aber toleranten Staatlichkeit. In Persien regierte zwar nicht mehr Mossadegh, aber immerhin noch ein Schah aus autochthoner Dynastie, während Israel mit dem Präventivschlag von 1967 weniger das orientalische Ordnungsgefüge, dessen Teil es selbst war, als den arabischen Fundamentalismus als seinen und des muslimischen Orients gemeinsamen Feind treffen wollte und traf. Freilich: die Siebzigerjahre mit der Jom-Kippur-Krise und der iranischen Revolution bereiteten der kurzen Blüte eines freien, souveränen und säkularen Orients dann schon wieder ein jähes Ende.

Wiederkehrte dafür das Urdilemma des Sykes-Picot-Abkommens: dass hier den Völkern des Orients die eigenen Grenzen und die eigene Staatlichkeit von außen, von Europa noch dazu, einst ein kahles Stück Fels, ein in die breite gegangenes Étretat, da Ninive, Memphis und Palmyra schon längst und fruchtbar blühten, octroyiert wurden und dass dieses Europa über diesen seinen Octroy bis heute nicht mit sich diskutieren lässt. Die so genannte, durch westliche Thinktanks vorgedachte und westliche Gelder finanzierte, Arabellion, die im Namen schon die furchtbare Anmaßung, ein einziges Volk, das arabische nämlich, gegenüber einem halben Dutzend anderer, noch dazu älterer und kulturell höherrangiger, zu bevorzugen, ausspricht, spricht eine deutliche Sprache über die fragwürdige Tradition, in die man sich am Vorabend des einhundertsten Jubiläums des Sykes-Picot-Abkommens wieder gestellt hat.

Geopolitisch spricht diese Tradition sich aus in der beharrlichen Ausklammerung ausgerechnet der beiden Länder aus der Arabellion, die äußerlich zwar in der scheinbar stabilsten Staatlichkeit in der Region sich erhalten, innerlich aber am wenigsten unter allen ihren Nachbarn zu ihr qualifiziert sind: der Türkei und Saudi-Arabiens: diese eine polyethnische salad bowl, begründet auf der jungtürkisch-kemalistischen Ausrottungspolitik gegenüber Griechen, Armeniern und Kurden und ausgehöhlt durch die schwärende Wunde, die jene im nationalen Gedächtnis hinterlassen; jenes ein Gottesstaat, gegründet in der brachialen Anwendung archaischer Auslegungen einer Religion, die von ihrem Anbeginn an stets mehr politische Theologie war als geistliche Offenbarung.

Diese Drachensaat des durch den Westen in seiner, freilich allzumenschlichen, Ängstigung um täglich klammer werdende energetische Ressourcen begünstigten oder doch wenigstens gebilligten türkisch-arabischen Kondominiums, ausgeübt auf dem Rücken von Millionen Kurden, Syrern, Israelis und Ägyptern, Moslems, Juden und Christen unter ihnen allen, wurde auch durch die Akteure von 1916 gesät. Ihr abermaliges Aufgehen, provoziert durch die scharfäugige, aber nicht weitsichtige Doktrin des divide et impera seit dem Jahre 2001, dem eigentlichen Schlussjahr des Kalten Krieges, spüren wir heute, ein Jahrhundert nach Gallipoli, ein Jahrhundert nach Sykes-Picot, so unmittelbar wie nie zuvor in der europäischen Moderne. Was wir auch spüren sollten, ist die Angst und sei es vor der bloßen Möglichkeit, dass heute der Orient den Krieg nach Europa tragen könnte, wie vor hundert Jahren Europa den Krieg nach dem Orient trug.

 

Obiger Text wurde zum Abdruck in der Zeitschrift Die Drei, Ausgabe Januar 2016, nicht angenommen.

Header: Karte zum Sykes-Picot-Agreement. Quelle: Wikimedia Commons