Handball, ein Wintermärchen

Ein Nachwort zur Handball-WM 2019

 

Es ist vorbei, Deutschland ist im Halbfinale der Handball-WM im eigenen Land gegen Norwegen ausgeschieden. Dennoch hat das gute Abschneiden unserer Nationalmannschaft zu einem regelrechten Handballboom in der Berichterstattung geführt. Auf einmal fühlte sich alles und jeder bemüßigt, den Deutschen zu erklären, dass Handball nicht nur toll, sondern auch dem Nationalsport Fußball absolut überlegen sei.

 

Doch das ist blanker Unsinn. So schön unsere Erfolge bei der WM auch gewesen sein mögen – im Vergleich mit Fußball zieht Handball eindeutig den Kürzeren. Ja, ich wage zu behaupten: Handball ist eigentlich ein Antisport. Handball ist ein Sport für Nichtsportler. Auch deshalb war ausgerechnet das sonst nicht für Sportthemen bekannte Feuilleton voll mit Lobeshymnen auf den heimlichen Lieblingssport der Nerds.

 

Handball braucht kein Ballgefühl

 

Warum ich Handball für einen Anti-Sport halte, hat mehrere Gründe. Erstens: Handball ist nicht kunstvoll. Jeder, der zwei gesunde Hände hat, ist seit dem Säuglingsalter gewohnt, mit seinen Händen zu arbeiten, und zwar jeden Tag. Das Training kommt also quasi mit dem Alltag. Wir schreiben von Hand, wir tragen Dinge mit unseren Händen, wir lenken Fahrrad und Auto mit unseren Händen und vieles mehr. Handball erfordert also kein besonderes Ballgefühl, nicht einmal beim Erzielen von Toren, auch wenn sich dort im Ansatz so etwas wie Artistik und Eleganz zeigt. Das ist der große Unterschied zum Basketball, der viel Fingerspitzengefühl erfordert (aber paradoxerweise als Unterschichtensport verschrien ist, doch dazu gleich mehr).

 

Fußball hingegen ist nicht denkbar ohne Ballgefühl. Zwar gilt Fußball seit je als Proletensport. Das liegt aber weniger am Sport selbst, als an der Fankultur, die – eben – aus dem Proletariat des späten Neunzehnten Jahrhunderts hervorgegangen ist. Fußball war der erste genuine Sport der Unterklasse, wohingegen alle anderen Sportarten Produkte der europäischen Eliten seit dem 16. Jahrhundert waren. Deshalb sieht die Tribüne in Melbourne so anders aus als die Kurve auf Schalke.

Der Fußballsport selbst hingegen erfordert eine ungemein hohe Körperbeherrschung, vor der jeder, der ein bisschen Ahnung hat, den Hut ziehen muss. Jeder Depp kann lernen, einen melonengroßen Ball auf 20 Meter Entfernung mit den Händen zu werfen und zu fangen und damit dann ein paar Schritte zu laufen. Aber versuchen Sie, liebe Leser, einmal zuhause, einen Fußball über mehr als zehn Berührungen mit den Füßen über dem Boden zu halten? Sehen Sie, da fängt es schon an. Und wissen Sie, wo der Weltrekord im Fußballjonglieren liegt? Bei 55.198 Berührungen. Sie haben richtig gelesen. 55.198 Ballberührungen. Mit den Füßen, den Oberschenkeln, der Brust, dem Kopf. Aber nicht und niemals mit der Hand! Gehalten wird er übrigens von einer Frau, der Brasilianerin Milene Domingues, Ex-Fußballerin und Ex-Spielerfrau (von niemand Geringerem als dem brasilianischen Ronaldo). Von den teils zentimetergenauen Pässen, teils über 50 und mehr Meter hinweg, vom filigranen Kurzpassspiel (Tiki-Taka), von den tausend verschiedenen Arten, den Ball zu spielen (Spitze, Hacke, Innenrist, Außenrist etc.), rede ich gar nicht. Fußballer sind keine Proleten. Fußballer sind Künstler. (Disclaimer: Hier schreibt jemand, der seit seinem 9. Lebensjahr Klavier spielt und fürs Feuilleton arbeitet. Ich weiß sehr gut, wovon ich rede, wenn ich „Kunst“ sage.)

 

Handball ist kein harter Sport

 

Zweitens: Handball ist nicht hart. Wenn ich diesen Quatsch lese von wegen, Handballer würden nach Fouls gleich wieder aufstehen und nicht so viel „herumjammern“, Fußballer (Stichwort Neymar) dagegen schon, dann kann ich nur lachen. Dass Handballfouls weniger Theater nach sich ziehen, liegt schlicht und ergreifend daran, dass sie von Natur aus glimpflicher abgehen. Was wiederum in der Natur des Spiels liegt. Fußball wird – richtig – mit den Füßen gespielt. Haben Sie das Foul von Thomas Müller gegen Nicolas Tagliafico im Champions-League-Vorrundenspiel gegen Ajax Amsterdam gesehen? Richtig, er hat ihn gegen den Kopf getreten. Aber wir müssen gar nicht den notorischen Thomas Müller bemühen. Ein Tritt auf den Rist, die Wade oder gar das Sprunggelenk reicht vollkommen, um zu erfahren, was höllische Schmerzen sind. Beim Handball kann all das nicht passieren. Warum? Sie ahnen es – weil Handball mit den Händen gespielt wird. Handballer mögen resilienter sein, weil Handball einfach kein so aggressiver Sport ist wie Fußball. Handball hat nicht die Artistik des Fußballs – aber auch nicht die Härte des American Football.

 

Handball braucht keine Spielintelligenz

 

Drittens: Handball ist ausrechenbar. Das handballerische Spielprinzip ist denkbar simpel. Eine Unterscheidung der Mannschaftstypen nach Ballbesitz und Konter wie etwa beim Fußball gibt es hier im Grunde nicht. Im Wesentlichen führt jeder Angriff zu Tor oder wenigstens Torwurf. Ähnlich wie beim Basketball. So kommt es auch zu den relativ hohen und knappen Endständen. Fußball hingegen ist nicht vorhersehbar. Das liegt am viel größeren Spielfeld, an der Art des Spiels selbst und an tausend anderen Faktoren wie etwa Wetter und Bodenbeschaffenheit, die alle beim Handball ausfallen. Um Fußball auf Profiniveau zu spielen, bedarf es einer extrem hohen Spielintelligenz. Die zehn Feldspieler einer Mannschaft müssen sich wortwörtlich blind miteinander verstehen, sonst brauchen sie auf dem 100×70 Meter großen Spielfeld gar nicht erst aufzulaufen. Und dann müssen sie noch sauber schießen. Bitte bilden Sie sich bloß nicht ein, Leute wie Marco Reus oder Franck Ribéry seien nicht intelligent, nur weil sie sich manchmal wie Proleten verhalten. Fußball ist ein Hochleistungssport nicht nur für den Körper, sondern auch fürs Gehirn. Und Fußball ist eine Wundertüte. Fußball ist spannend bis zur letzten Minute. Im Fußball kann ein Underdog wie Hertha die einzigen beiden Chancen, die sie in einem Spiel haben, traumgerecht verwandeln, während ein Team wie Bayern München im selben Spiel sagenhafte 24 Schüsse aufs Berliner Tor einfach nicht versenkt bekommt. Beim Handball wäre das undenkbar.

 

Handball ist kein Leistungssport

 

Viertens: Handball ist kein Leistungssport. Das betrifft nicht nur die mangelnde Körperlichkeit (siehe oben), sondern auch die Fitness. Das Handballfeld ist viel zu klein, um Höchstleistungen abzurufen, und das Spielprinzip – Angriff gegen Angriff – macht die körperlichen Abläufe geregelt und vergleichsweise moderat. Es gibt kein weites Vorlegen und kein weitläufiges Abjagen des Balls. Im Profifußball hingegen werden regelmäßig Spitzengeschwindigkeiten von 35 km/h erreicht. Wissen Sie, was das bedeutet? Schauen Sie sich mal die Laufbänder in Ihrem Fitnessclub an. Die meisten regeln bei 24 km/h ab. Ein erfahrener männlicher Langstreckenläufer in meinem Alter hält Tempi über 18 km/h in der Regel nur wenige Minuten durch, unser Ausdauertempo (also auf eine Stunde Trainingsdauer und länger) liegt sehr deutlich darunter. Bei einem europäischen Erstligaspiel hingegen legen Spieler wie André Hahn oder Ousmane Dembélé Sprints mit 20, 25, 30, 35 km/h hin. Und zwar nicht einen, sondern mehrere pro Spiel, also verteilt über 90 Minuten. Solche Geschwindigkeiten werden im Handball schon deshalb nicht erreicht, weil sie dort völlig unnötig und unsinnig wären. Ein Fußballspiel ist nicht nur ein Mannschaftssportereignis, sondern auch ein High Intensity Interval Training. Es gibt zahllose hochtalentierte Freizeitkicker, bei denen eine Profikarriere brutal an der Fitness scheitern würde.

 

Das Handball-Wintermärchen: ein Märchen

 

Fazit: Handball ist nett. Handball ist easy. Auch ich habe gerne unsere Länderspiele geschaut, auch ich habe mich darüber gefreut, wie leidenschaftlich Christian Prokop und seine Jungs die Hymne singen, auch ich habe über unseren Last-Minute-Sieg gegen Frankreich gejubelt. Aber glauben Sie bitte nicht, was Feuilletonisten, die von Sport sichtlich keine Ahnung haben, Ihnen einzureden versuchen, nämlich was für ein toller, intelligenter und fordernder Sport Handball sei. Es ist nichts von alldem. Im Gegenteil: es ist der Sport der Unsportlichen, die die Handball-WM dazu benutzen, dem Rest der Welt weiszumachen, sie seien die wahrhaft Sportlichen. Das Handball-Wintermärchen 2019 war deshalb vor allem eines: ein Märchen.