Konsum ist nicht gleich Bürgertum

Im neuen Buch von Christian Thielemann las ich kürzlich den Satz: „Das Wort ‚gutbürgerlich’ bedeutete in meiner Jugend nicht nur den Majoran zu Weihnachtsgans, sondern Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner.“ Man muss kein Fan von Thielemann sein, um doch die Wahrheit zu begreifen, der in diesem Satz liegt. Bürgerlichkeit definiert sich nämlich nicht übers Materielle, sondern über den Geist. Das ist nicht nur kultiviert, es hat auch einen sozialen Hintergedanken. Geistige Kultur nämlich kostet nichts. Sie ist die einzige legitime Wurzel des Bürgerlichen.

Das hat auch historische Gründe. Die moderne deutsche Bürgerlichkeit, die zum Vorbild für ganz Europa wurde, hat ihre Ursprünge im 18. Jahrhundert. Die Kultur der deutschen Klassik und Romantik, ob in Literatur, Malerei oder Musik, ist hervorgegangen aus klein- und kleinstbürgerlichen Verhältnissen. Im Deutschland des späten Ancien Régime gab es, anders als in den reichen Nachbarstaaten Holland, Frankreich und England, kein relevantes Besitzbürgertum; die Blüte des deutschen Geistes wuchs empor aus weitgehend mittellosen Pastoren-, Schulmeister- und Handwerkerhaushalten. Das aber gab ihr erst ihren Schwung und ihre Größe, der bald ganz Europa begierig nacheiferte.

Bürgerlichkeit ist ursprünglich und wesenhaft etwas Auratisches, sie lässt sich nicht über Konsum oder Besitz definieren. Man schaue sich ihre historischen Ursprünge genau an: Als Friedrich der Große Ende 1759 vor den ihn bedrängenden Alliierten im verschneiten Leipzig Zuflucht nahm, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als sich mit Christian Fürchtegott Gellert zu treffen. Der damals berühmteste Dichter deutscher Zunge lebte in einem armseligen Zimmer und bekannte freimütig, die einzige Reise seines Lebens habe ihn nach Berlin geführt. Man muss sich das vorstellen: der König von Preußen und Oberbefehlshaber einer Armee von 150.000 Mann hat mitten im Krieg nichts Besseres zu tun, als sich mit diesem armen Männlein, dessen Verse indessen in ganz Europa gelesen wurden, zu verabreden und sich mit ihm über Homer und Tacitus zu unterhalten.

Immanuel Kant, der die abendländische Philosophie revolutionierte, hockte sein Leben lang in seiner Junggesellenwohnung in Königsberg. Aber er wurde gelesen vom reichen Landadel, von Fürsten, Königen und Kaisern. Sein Schüler Johann Gottlieb Fichte war ein Bauernkind, das dank fürstlichem Stipendium nach Schulpforta kam. Und Friedrich Schiller, der die großartigsten Dramen hinterlassen hat, die in deutscher Sprache geschrieben wurden, blieb zeit seines Lebens ein armer Schlucker, der sich abwechselnd von seinen Gönnern und seinen Freundinnen (bzw. deren Müttern) Geld pumpen musste. Einzig Goethe, der Frankfurter Patriziersohn, fällt aus diesem Schema: die berühmte Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Selbst der dichtende Adel war selten vermögend, Heinrich von Kleist etwa bettelte abwechselnd seine Tante und die Königin Luise um ein paar Taler an und erschoss sich schließlich auch deshalb, weil es hinten und vorne nicht reichte. Und in Frankreich? Da war es nicht der reiche Sack Voltaire, sondern Rousseau, das arme Würstchen, der Frankreich und ganz Europa in die Revolution führte – das ewige Waisenkind aus der Schweiz, chronisch klamm, lebenslang angewiesen auf Wohltäter und mehr noch Wohltäterinnen, die ihn in der Einsamkeit seine Werke schreiben ließen, die die Welt verändern sollten.

Aus dieser materiellen Enge heraus erwuchs das imposanteste Kulturleben, das unser Zeitalter überliefert, und es konnte nur deshalb die ganze Gesellschaft, Arme und Reiche, bis heute erfassen, weil es ganz Geist war, weil die so genannte „materielle Kultur“ in ihm keine Rolle spielte und auch nicht spielen sollte. Kultur war Konsumersatz, und sie war allen zugänglich: Alles, was man dazu brauchte, war Bildung, und die wurde mehr und mehr zum Allgemeingut, auch dank Herrschern wie eben Friedrich, der in seinem besseren Landhaus Sanssouci zwar ganz unkönigliche Tischsitten pflegte, bei denen der englischen Gentry vor Schreck der Löffel in den Tee gefallen wäre, der aber selbst im schäbigsten Feldhauptquartier Epigramme schrieb und Flötensonaten spielte, die sich die Wache vor der Tür dann anhören durfte.

So wurden im 19. Jahrhundert Kultur und Bildung nicht nur zum Schlüssel des Aufstiegs – nein, sie waren ein Selbstzweck, ein Besitz, den man um seiner selbst willen pflegte und der den Kern dessen ausmachte, was man bürgerlich nennt.

Wer dagegen heute seine vermeintliche Gutbürgerlichkeit über den Flachbildfernseher und die Espressomaschine definiert, aber keine Bachfuge von einer Mozartsonate unterscheiden kann und weder das Vaterunser noch das Avemaria beherrscht, ist kein Bürger.

Aber dem Taxifahrer neulich, der auf der Fahrt seelenruhig das frühe d-Moll-Konzert von Mendelssohn mit Gidon Kremer hörte, hätte ich am liebsten ein Trinkgeld von 100 Euro in die Hand gedrückt. An diesem Mann sollten sich all jene, die so gerne bürgerlich sein wollen, ein Beispiel nehmen.

Bei obigem Text handelt es sich um einen überarbeiteten Auszug aus meiner im September 2012 auf Cicero online erschienenen Kolumne: http://www.cicero.de/salon/oeko-konsum-bedeutet-nicht-buergertum/52692

Das Titelbild zeigt die Begegnung Friedrichs des Großen mit Christian Fürchtegott Gellert am 11. Dezember 1760 im Apelschen Haus in Leipzig in einer Radierung von Daniel Chodowiecki aus dem Jahr 1789.

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