Niemand braucht die AfD

Die AfD: der Aufstand der Abgehängten

Die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus hat begonnen, und die Umfragen deuten darauf hin, dass die AfD nun auch ins Berliner Landesparlament einziehen wird. Das aber bedeutet nichts weniger als eine Gefahr unabsehbaren Ausmaßes. Denn die AfD ist das Überflüssigste und Gefährlichste, was die deutsche Politik seit der Wiedervereinigung hervorgebracht hat.

Diese so genannte Alternative für Deutschland, die weder eine Alternative, noch für Deutschland ist, ist eine Versammlung von Naivlingen, Brandstiftern und Idioten, die einen veralteten Welt- und Geschichtsbild anhängen und keinen blassen Schimmer von der Welt haben, in der wir leben. In dieser Welt funktioniert alles durch Kompromisse, nichts durch Gewalt. In dieser Welt gibt es längst keine Grenzen mehr, und das ist auch gut so. In dieser Welt lebt alles von einer klugen, wohldosierten Mischung aus Eigeninteresse und Verantwortungsbewusstsein. Und genau daran, an Verantwortungsbewusstsein, mangelt es den Spitzenvertretern der AfD fundamental. Ihre Partei ist eine klassische Protestpartei.

Das Grundgefühl der AfD-Anghänger: nicht wirtschaftliche Not, sondern Weltfremdheit

Das Grundgefühl der Anhänger und Wähler der AfD ist das Gefühl, abgehängt zu sein. Diese Leute sind fortschrittsfeindlich, weil sie am Fortschritt nicht teilhaben, ja: weil sie den Fortschritt nicht begriffen haben. Sie hassen alles, was nach Freiheit riecht, ausgehend von der dumpfen Ahnung, was Freiheit bedeutet: nämlich Eigenverantwortung, Lernbereitschaft, Risikobereitschaft. Das sind die drei Grundtugenden der demokratischen Gesellschaft von heute. Die AfD tritt radikal gegen diese drei Grundtugenden auf.

Nun ist es nicht so, dass man diese Haltung nicht nachvollziehen könnte. Das Paradoxe ist eher, dass die AfD ausgerechnet von den Leuten gewählt wird, die vom Leben in der postmodernen Freiheitsgesellschaft und seinen Mühen und Fallstricken Null Ahnung haben. Den gleichen Vorgang konnten wir vor vier Monaten beim Brexit-Votum erleben: nicht die Vertreter der Generation Y haben für den Austritt Großbritanniens aus der EU gestimmt, nicht die junge, prekäre Mittelschicht, die von den aggressiven, wohlstandsgesättigten Babyboomern mit Gewalt davon abgehalten werden, endlich auch ein bürgerliches, behütetes Leben zu führen, und die Tag für Tag um und für ihr Überleben in der postmodernen Wildnis kämpfen. Sondern weltfremde, aber mehr oder weniger gut situierte Mittelschichtler mittleren Alters plus den üblichen Bodensatz an Fremdenfeinden, Nationalisten und Rassisten.

Diejenigen, die wirklich Grund zur Rebellion hätten, verteidigen die Demokratie

Diejenigen, die am meisten Grund hätten, auf die gegenwärtige Politik zu schimpfen; die das Recht dazu hätten, den Eliten Raffgier und Versagen vorzuwerfen, und die sich wirklich Sorgen um ihr Fortkommen und ihre Zukunft machen müssten: sie sind heute die engagiertesten, treuesten Verteidiger der Demokratie. Sie könnten wirklich Angst haben, aber sie haben keine Angst, denn sie kennen es nicht anders. Wer wie wir in den Neunziger- und Nullerjahren groß wurde, dem wurden alle Illusionen, die man über das Leben irgendwie haben kann, restlos ausgetrieben. Privat und politisch. Und darauf sind wir stolz, weil keiner von uns, um keinen Preis der Welt, in einer anderen Epoche als der heutigen leben möchte.

Deswegen fischt die AfD nicht hier, sondern bei den Abgehängten, den ewigen Losern, ob sie nun arbeitslos sind (was heute längst kein gesellschaftliches Distinktionskriterium ist, was jeder wissen wird, der mal in Berlin gelebt hat), oder auf ihren fetten Beamtenpensionen hocken und jetzt auf ihre alten Tage Bismarck und die „konservative Revolution“ entdecken. Diese Leute sind es, die nie den Anschluss an unsere Welt gefunden, die ihn vermutlich auch nie gesucht haben, die jetzt durch ihre Stimme an der Wahlurne die Welt kaputtzumachen drohen, in der wir uns tagtäglich zurechtfinden und die längst ein global village, ein globales Dorf geworden ist, in dem buchstäblich alles mit allem zusammenhängt und in dem man nur hinfällt, um wieder aufzustehen und weiterzugehen. Für uns heißt Leben Problemlösen. Für die AfDler aber mit ihrer negativistischen, verkorksten Weltsicht ist das ganze Leben ein einziges Problem.

Die AfD bietet keine Alternative, sondern den Rückfall in die Barbarei

Die Abgehängten und Weltfremden faseln von Problembezirken, ohne sich wahrscheinlich jemals einen Döner in Neukölln bestellt zu haben. Sie fabulieren von der islamistischen Bedrohung, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie westlich der Orient längst geworden ist. Sie zittern um die finanzielle Stabilität Deutschlands und schieben die Schuld auf „die Flüchtlinge“, obwohl Rente und Arbeitslosengeld nach wie vor pünktlich kommen, obwohl die Straßenbahnen immer noch pünktlich fahren und man sich in  Deutschland immer noch relativ frei von Terrorangst bewegen kann. Diese schöne und freie und eben immer noch erstaunlich stabile und wetterbeständige Welt wollen sie kaputtmachen – weil es eben auch eine gefährliche Welt ist. Aber die Gefahr, das Risiko ist der Preis, den wir eben bezahlen müssen für Freiheit.

Die AfD bietet keine Lösungen, keine Alternativen, sondern nur den Rückfall in die moralische und politische Barbarei. Natürlich stehen wir vor großen Problemen: die wachsende Ungleichverteilung von Chancen zur Vermögensbildung, die auseinandergehende Schere zwischen Kapital und Einkommen (Thomas Piketty), die Erderwärmung, die wir gerade in Deutschland in diesem heißen Sommer wieder live erleben konnten, die lebensbedrohliche Krise der westlichen Mittelschichten und die Erschütterung des Orients durch die Stellvertreterkriege zwischen den USA und Russland, die dort seit 1990 geführt werden.

Die AfD argumentiert mit Topoi aus der historischen Rumpelkammer

Aber auf diese Probleme hat die AfD keine Antwort, ja: sie spricht sie gar nicht wirklich an. Die AfD argumentiert mit Topoi wie „Überfremdung“, „Rasse“, „nationaler Identität“: Topoi aus der Rumpelkammer der Geschichte, Topoi,  von denen wir hofften, sie gehörten gottlob definitiv der Vergangenheit an. Doch anscheinend, leider, finden sich immer genügend Idioten, die solche Topoi ernst nehmen und die denen, die damit werben, auf den Leim gehen.

Die Wahrheit ist: niemand braucht die AfD. Deutschland, das drittgrößte Exportland der Welt, muss ein Hort der Stabilität sein, wenigstens im Innern, wenn es schon außenpolitisch diese – zugegebenermaßen schwierige – Rolle nicht spielen kann. Ja, es stimmt: es ist viel versäumt worden in den letzten fünfzehn Jahren. Ja, es stimmt: Angela Merkel hat die politische Landschaft profillos und langweilig gemacht. Aber war das so schlimm am Ende? War – und ist – es nicht das kleinere Übel? Wir leben in einem System der checks and balances, innen- wie außenpolitisch. Der Mensch von heute ist reif genug, sich seien eigenen Weg zu suchen, frei von Bevormundung. Der Islam an sich ist keine reelle Bedrohung unserer westlichen Werte. Eine reelle Bedrohung aber sind die Unbelehrbaren, die sich abgehängt Fühlenden, die Ängstlichen, die glauben, man könne wieder „große Politik“ machen mit Stacheldrahtzäunen und Maschinengewehren an der Mittelmeerküste.

Das große Thema von heute heiß soziale Ungleichheit, nicht „Überfremdung“

Soziale Ungleichheit, Bioethik, Ernährungswirtschaft, Energie: das sind Komplexe, über die es sich zu streiten lohnt, die uns und unsere Zukunft vital berühren. „Nation“ und „Überfremdung“ sind es nicht. Dahinter verbergen sich Fremdenhass, Lebensangst, Weltfremdheit, nichts anderes, und eine perfide Strategie, die westlichen Demokratien wieder Schritt für Schritt in autoritäre Obrigkeitsstaaten umzuwandeln. Dafür steht die AfD, für nichts anderes. Und deshalb sollte jeder vernünftige Mensch genau hiergegen seine Stimme erheben. Niemand, wirklich niemand braucht die AfD.

© Konstantin Sakkas, 2016

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