Macht und Masse

Die Miniserie „Helgoland 513“ ist die letzte Eigenproduktion von Sky Deutschland. Es ist eine Parabel auf politische Radikalisierung im Gewand einer Dystopie

Die Idee zu ihrer Serie sei Florian Wentsch und ihr schon 2014 gekommen, sagt Produzentin Veronica Priefer bei der Premiere von „Helgoland 513“ in der Berliner Kulturbrauerei: Nach Ausbruch einer Virusepidemie retten sich einige Hundert Menschen auf die Insel Helgoland, wo sich alsbald ein totalitäres Gesellschaftssystem à la „1984“ etabliert. Nicht die Covid-19-Pandemie gab also den Anstoß, vielmehr ging hier die Serienidee der Realität voraus wie der Blitz dem Donner. SARS, Ebola, das habe es ja schon gegeben, und tatsächlich wird unter Fachleuten seit Jahrzehnten vor einem Bioerror oder Bioterror (also einer versehentlich oder absichtlich ausgelösten Epidemie) gewarnt. Auch die filmischen Vorlagen, die die Serie überreich zitiert, gab es zumeist damals schon: The Walking Dead, Game of Thrones, Hunger Games, aber auch den Postapokalypse-Film „Snowpiercer“ (2013) und „Jugend ohne Gott“ (2017).

Wieso „513“? Die insulare Enklave könne nur 513 Menschen ausreichend unterhalten; kommt ein neuer, etwa durch Geburt (eine „genehmigte“ wohlgemerkt), hinzu, muss ein anderer sterben. Malthusianismus plus Sozialkreditsystem, denn wer sterben muss, richtet sich nach seiner Stellung im Punktesystem, auf dem man nach äußeren Eigenschaften und Sozialverhalten eingruppiert wird, alles schön basisdemokratisch abgestimmt, was aber natürlich eine Farce ist, denn die eigentliche Macht liegt beim Inselrat und seiner diktatorischen Vorsitzenden Beatrice (Martina Gedeck).

Beatrices Rolle ist deutlich angelehnt an die der Präsidentin in „Hunger Games“, Regie (Robert Schwentke) und Drehbuch lieben geradezu das Spiel mit den Anspielungen. Wenn vorzugsweise junge Frauen und Männer zur Strandpatrouille eingeteilt werden, wo sie auf sich vom verseuchten Festland nähernde Schiffe schießen, erinnert das an die Nachtwache in Game of Thrones, auch die Rolle der Propagandistin Lola (Kathrin Angerer), die die Selektionsverfahren süßlich-zynisch kommentiert, kennt man aus „Hunger Games“. Man habe „keine typische Virus-Serie“ machen wollen, sondern „ein schwarzhumoriges Gesellschaftsdrama“, sagt Priefer.

Und so liegt der Reiz dieser siebenteiligen Miniserie – mehrere Staffeln sind geplant, aber noch nicht finanziert, für Sky Deutschland ist dies Stand jetzt die letzte Eigenproduktion – in der politischen Botschaft. Freilich kommt sie deshalb allzu sehr wie ein Kammerspiel, stellenweise auch wie Schultheater daher, die alte Crux intellektuell ambitionierter deutscher Produktionen. 

Trotzdem überzeugt der Cast, etwa Samuel Finzi als schmieriger Mobster, der in Hamburg die Überlebenden, die in Ruinen hausen und sich teils gegenseitig auffressen, unter der Knute hält, oder Alexander Fehling als Arzt Marek, die moralische Lichtgestalt, die aber, natürlich, auch schuldig geworden ist. 

Die Beschränkung auf 513 Einwohner ist natürlich ein Hoax, ursprünglich waren es neunhundert, aber Beatrice lässt am Beginn der Pandemie gleich mal vierhundert von ihnen heimlich infizieren und dann von der Insel deportieren. Von dieser fünfzehn Jahre vor der Haupthandlung angesiedelten Vorgeschichte erfahren wir erst in Folge 7, in der die Errichtung dieses totalen Inselstaates, dieser insularen Dystopie abgehandelt wird.

Hier erst kann das Drehbuch seine Gelehrtheit richtig ausspielen. Denn so platt und durchsichtig, wie die Machtübernahme abläuft und wie sie ideologisch flankiert wird, vollzieht und vollzog sich Radikalisierung schon immer. „Die Welt, wie wir sie kannten, diese Welt gibt es nicht mehr“, mit solchen Phrasen beginnt es, dann kommen schon Sätze wie „ihr müsst bereit sein, jemandem den Schädel einzuschlagen“, die gewiss nicht zufällig an den Satz Heinrich Himmlers in „Aus einem deutschen Leben“ erinnern, ein SS-Mann müsse „bereit sein, seine eigene Mutter hinzurichten“. „Ihr alle wartet doch auf den Moment, dass etwas in eurem Leben geschieht, und dieser Moment ist jetzt“ – ein Satz aus dem Playbook der rechten Revolte. So stumpf, so billig läuft Radikalisierung, ja.

Wissenschaftsfeindlichkeit, kleinbürgerliches Ressentiment, Massenhysterie, aber auch künstliche Verknappung und Pseudoselektion, legitimiert durch gezielte Fake News, Festungsdenken (beschossene Flüchtlingsboote), Leistungsideologie („ich will diesen Job unbedingt“ im Angesicht des Virustodes) und über allem die Schmalheit des Grates zwischen Zivilität und Gewalt: diesen Themenkomplex in knapp sechs Stunden abzuhandeln, ist keine leichte Aufgabe. Man kann nicht sagen, dass sie den Machern und Macherinnen von Helgoland 513 nicht gelungen sei. 

© Konstantin Johannes Sakkas, 2024

Helgoland 513 ist am 15. März auf Sky Deutschland erschienen. Idee: Veronica Priefer, Florian Wentsch. Regie: Robert Schwentke. Buch: Yves Hensel, Veronica Priefer, Florian Wentsch, Robert Schwentke, Matthew Wilder. Produktion: UFA Fiction, Johannes Kunkel, Veronica Priefer

Header: Wohl nicht zufällig ähnelt die Anmutung der abgeschotteten Insel Helgoland in der Serie sehr der Darstellung von Böcklins „Toteninsel“. Zwar ist „Helgoland“ eine Insel der Lebenden, doch der Tod ist auf ihr andauernd präsent: nicht nur als drohendes Szenario „von außen“, sondern weil das totalitäre Regime, das auf ihr herrscht, einen Tod ganz anderer Art verheißt: den des Menschen als moralisches Subjekt. Bildquelle: Arnold Böcklin (1827-1901): Die Toteninsel III (1883), Neue Nationalgalerie Berlin. Quelle: Wikimedia Commons (https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Arnold_Böcklin_-_Die_Toteninsel_III_%28Alte_Nationalgalerie,_Berlin%29.jpg)

Ein verstümmeltes Leben

Eine neue Hannah-Arendt-Biographie besticht durch bisher unbekannte Quellen. Sie machen indes das Fragmentarische im Leben der großen Denkerin nur noch deutlicher sichtbar

Eine leicht gekürzte und geänderte Version des Textes ist am 18. Oktober 2023 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen

Wenige zeitgenössische Gelehrte sind in der Geschichtswissenschaft und der Philosophie gleichermaßen zuhause; Thomas Meyer ist einer von ihnen. Dass seine nun erscheinende über fünfhundert Seiten lange Biographie von Hannah Arendt vom Piper-Verlag als neues Standardwerk beworben wird, liegt vor allem an den vielen unveröffentlichten Quellen, die Meyer, Professor an der LMU München, in minutiöser Archivarbeit zutage gefördert hat. Sie werfen ein neues, helleres Licht auf die „Dark Ages“ im Leben Arendts: jene Jahre zwischen der Flucht aus Deutschland 1933 und der Emigration buchstäblich auf dem letzten Drücker in die USA 1941. 

Die „wichtigste Lebens- und Denkerfahrung“ Arendts nennt Meyer diese Zeit, in der sich die Schülerin von Jaspers und Heidegger von der klassischen Philosophie lossagte und politische Aktivistin wurde. Als Mitarbeiterin der „Kinder- und Jugend-Alijah“ in Paris war sie an der Emigration einiger Hundert jüdischer Kinder nach Palästina beteiligt und wurde so wohl auch zu deren Lebensretterin. 

Nicht alles von dem, was Meyer erzählt, ist neu, vieles aber wurde lange Zeit übersehen. Etwa dass Arendt im Juni 1935 nach Haifa fuhr und sich einige Zeit in Palästina aufhielt (wo sie auch Kurt Blumenfeld kennenlernte), liest man schon in der Arendt-Biographie von Elisabeth Young-Bruehl 1977. Auch die Geschichte der rasch scheiternden Ehe mit Günther Stern (Anders) – sie heirateten am Tag von Heideggers vierzigstem Geburtstag – ist hinlänglich bekannt. 

Interessanter sind da entzaubernde Einblicke wie, dass Hannah „als Kind und Jugendliche mal übersensibel, mal genialisch, mal durchschnittlich, gar schlecht in der Schule war“, wie Meyer dem Tagebuch ihrer Mutter Martha entnimmt; oder dass sie im Juni 1972 im Gefolge der nachträglichen Anerkennung ihrer Habilitation („Lex Arendt“) über eine halbe Million Mark an entgangenem Lohn vom Land Baden-Württemberg erhielt. Die Zuerkennung des Sonning-Preises 1975 führte zu einem abermaligen Geldsegen von 200.000 Dänischen Kronen und zu einem „regelrecht tiefen Durchatmen“ Arendts, die nun, kurz vor ihrem Tod, „erstmalig übers Geldanlegen“ nachdachte. Sehr aufschlussreich ist auch die ausführliche Darstellung von Arendts Herkunft, zugleich ein Stück Sozialgeschichte des jüdischen Bürgertums, aber auch typisch für Intellektuellenherkünfte gestern und heute: erst unterbürgerliche „Landleute“, dann kleine Unternehmer, dann Firmeninhaber.

Das Buch lebt von Archivfunden wie einem Brief Leo Strauss‘ (1899-1973) an den Philosophen Jacob Klein vom 15. Oktober 1933 aus Paris. Darin zieht Strauss über Alexandre Kojève her, der „Hegels Religionsphilosophie mit einer sehr komischen, juvenil-senilen Einleitung“ lese und dabei wie eine Mischung aus „Ziegenbock und einem Mitglied der Heilsarmee“ wirke. Kojèves Pariser Vorlesung sollte die Hegelrezeption und die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts revolutionieren. In dem Brief heißt es aber auch: „Deine speziellen Freunde Günther Stern-Hanna Arendt wohnen in unserer Pension (wir schneiden sie)“, und so ist dies das „älteste erhalten gebliebene Dokument“ über Arendts Pariser Exil.

Fast genauso spannend wie das – in Arendt-Kreisen ja zur Genüge gepflegte – Namedropping der jüdisch-deutschen Geistesgeschichte zwischen der Achse Heidelberg-Marburg, dem großen Intellektuellencancan im Pariser Exil der Dreißiger mit der Flucht über die Pyrenäen als infernalischer Coda und den Siebzigerjahren, als binnen weniger Jahre die „Generation Heidegger“ und auch die erste Generation der Frankfurter Schule ausstarben, ist ein Blick in Meyers Danksagung. Sie wimmelt vor Namen brillanter Denkerinnen und Denker der nicht-marxistischen politischen Theorie heute – eine kleine Geistesgeschichte der Jetztzeit in nuce

Meyer fügt einige neue Namen wie Leopoldine Weizmann oder Eva Stern, die Schwester von Günther Anders (recte Stern), in die Arendt-Rezeption ein, was sein Buch zum Meilenstein in der Forschung macht; aber tragen diese Additive auch zu einem präziseren beziehungsweise neuen Bild von Arendts Denken bei? Ihre politische Ideengeschichte operierte – wie auch die Anders‘, der sie vermutlich stärker beeinflusst hat als viele der in diesem Buch Genannten – mit der Figuration eines nach 1500 bzw. 1800 einsetzenden Verfalls der (europäischen) politischen Kultur, von einer wesenhaften hin zu einer instrumentellen Welthaltung; eine Synthese von Marx und Heidegger, wie sie seit siebzig Jahren für den Kapitalismus- und Technik- und nun auch für den Anthropozändiskurs leitend ist. Arendt habe Heidegger destruiert, indem sie seine Ontologie auf ihre Tauglichkeit für die politische Realität hin abgeklopft habe, schreibt Meyer zutreffend (und mit einer Spitze gegen die „konservative“ Arendt-Deuterin Antonia Grunenberg in den Endnoten). Aber wer destruiert Arendts um die Zauberworte „Polis“ und „Handeln“ herumgebaute politische Theorie und deren kulturpessimistische Pseudokonkretheit, die an der schnöden Realität politischer Befreiung – sei es die der Schwarzen oder die der Juden nach 1948 – wenig interessiert war?

Aufschlussreich sind Passagen über die Kindheit: die merkwürdig im Dunkeln bleibende Erkrankung (war es Syphilis?) des Vaters Paul Arendt und sein zeitweiliger Aufenthalt in der Psychiatrie, schließlich der frühe Tod von Vater und Großvater innerhalb kurzer Zeit. „Der geliebte Großvater schien nicht richtig vermisst zu werden“, beim Tod des Vaters habe Hannah gar versucht, „die Mutter zu trösten“. Hannah Arendt, eine Muttertochter, die früh erwachsen werden musste und sich Freiheit in Gefühlsdingen früh zu versagen lernte. 

Es wird als Verdienst von Meyers bewusst wenig theoretisierender Biographie gelten dürfen, die Aktivistin, „Macherin“ und Retterin Johanna Arendt-Blücher in den Vordergrund gestellt zu haben. Was sie dabei aber auch, und sei es unfreiwillig, enthüllt: Es war, wie das Anders‘, ein nur halbgelebtes Leben, das wenig echtes inneres Glück gekannt haben dürfte und um seine halkyonischen Tage brutal verstümmelt wurde.

© Konstantin Johannes Sakkas, 2023

Thomas Meyer: Hannah Arendt. Piper 2023, 528 S., 28€. EAN 978-3-492-05993-0

Bild: Hannah Arendt auf der Überfahrt nach Palästina, ca. Juni 1935. © Hannah Arendt Private Archive, für konkrete Nachweise siehe Meyer, Arendt

Wege aus der Hyperpolitik?

Radikalisierung, Große Regression, Autoritäre Revolte: unter diesen Schlagworten verhandelt die linke Gesellschaftstheorie seit einigen Jahren die soziopolitischen Bewegungen der vergangenen Jahre. Einer ihrer markantesten jungen Vertreter fasst den Trend zu einer Politik ohne Politisches unter dem Begriff „Hyperpolitik zusammen: Anton Jäger. Er ist Dozent an der Katholischen Universität Leuven.

Der Begriff „Hyperpolitik“, darauf weist Anton Jäger hin, wurde von Peter Sloterdijk geprägt. Der nannte so vor dreißig Jahren „die erste Politik für den letzten Menschen“, also für die Menschheit nach dem „Ende der Geschichte“: Auf die Welt- und Massenpolitik alten Stils, so Sloterdijk damals, folge nun eine „planetare Politik“ im Zeichen der ökologischen Frage.

Für Anton Jäger ist Hyperpolitik dagegen kein ökologischer, sondern ein soziopolitischer Topos. Und anders als für Sloterdijk stimmt für ihn die These Francis Fukuyamas vom Ende der Geschichte nicht: Auch nach 1990 gab es Großmacht- und Klassenpolitik, nur ohne das Politische. Denn der soziale Raum, in dem das Politische, also eine möglichst ideologiefreie Meinungsbildung im Sinne von Jürgen Habermas, traditionell sich entwickeln könne, sei seit 1990 radikal geschwunden.

In der Ära der Postpolitik nach dem Ende des Kalten Kriegs schwand die Klassenfrage aus dem Sichtfeld einer atomisierten Spaßgesellschaft, in der jeder sich selbst der Nächste war und in der die klassischen Organisationsformen politischer Willensbildung, Parteien und Gewerkschaften, massiv an Zulauf verloren.

Erst mit der Weltfinanzkrise 2008 kommt es zur großen Repolitisierung, die Jäger Antipolitik nennt. Stéphane Hessel veröffentlicht sein Buch „Empört Euch!“, überall in der westlichen Welt gehen Menschen gegen Verarmung und Ungleichheit auf die Straße. „Die Postpolitik ist Geschichte. Das eschatologische Gerücht, die Politik sei tot, wurde widerlegt“, so Jäger über die Repolitisierung ab 2008.

Doch das Politische kehrte nicht in stabilen Organisationen zurück, sondern in fluiden Graswurzelbewegungen. Die rechten antipolitischen Bewegungen, die es auch gab (siehe Tea Party), konnten sich dabei eher verstetigen, die linken dagegen wurden rasch marginalisiert. So versickert der antipolitische Impuls, um schließlich überzugehen in die Hyperpolitik.

Anders als die Antipolitik, so Jägers marxistisch geschulte Argumentation, orientiere sich die Hyperpolitik kaum mehr an materiellen Realitäten. Hyperpolitik, das ist Ideologie, ihr weltgeschichtliches Geburtsjahr ist 2016. Seit dem Brexit und der Wahl Trumps sind überall im Westen rechte Bewegungen auf dem Vormarsch. Politik als diffuse Bewegung, aber ohne lebendige Institution, als Ressentiment, aber ohne Idee, kurz: Pseudopolitik – das ist Hyperpolitik.

Welche Wege führen aus ihr? Lässt sich der hyperpolitischen „Großen Regression“ eine neue linke Massenbewegung entgegensetzen? Und was sind die, so Jäger, „archimedischen Orte“, an denen echtes, nicht hyperpolitisches Handeln möglich wäre?

„Also die archimedischen Orte, wo es vielleicht Möglichkeiten gibt, um gegen die Hyperpolitik zu arbeiten, […] könnte vielleicht der Arbeitsplatz sein, und es gibt auch natürlich noch Plätze, wo Menschen verpflichtet sind, [um] sich zu entgegnen [recte: begegnen], wenn es zum Beispiel über die Schulen geht, wo die Kinder hingehen, oder zum Beispiel die Bezirke, wenn es hohe Mieten gibt, dann müssen Menschen sich zum Beispiel am Niveau vom Bezirk auch organisieren, um die hohe[n] Miete[n] zu stoppen.“

Anton Jäger im Interview in Berlin

Das erinnert an Axel Honneth, für den der wahre politische Souverän immer noch der organisierte Arbeitnehmer ist, aber auch an Hannah Arendt, die ebenfalls eine Wiedergeburt des Politischen beschwor, allerdings weniger in Gewerkschaften als in Salons.

Witzigerweise ähnelt die Realität der Anti-Hyperpolitik aktuell noch mehr der Vision Arendts als der Honneths. Sein Buch stellt Anton Jäger auf der Konferenz „Socialism in our time“ in Berlin vor, ausgerichtet von der deutschen Ausgabe des Magazins „Jacobin“, das sogar eine Talkreihe „Hyperpolitik“ benannt hat. „Jacobin“ betreibt eine Repolitisierung der Unter- und unteren Mittelklasse und will ein breites antikapitalistisches Klassenbewusstsein schaffen, ist dabei aber so wunderbar intellektuell, dass man womöglich doch wieder nur die Bildungsmittelschicht erreicht, während die eigentliche Zielgruppe lieber am kleinbürgerlichen Klassenaufstieg arbeitet.

Vielleicht aber – Jäger spricht es an – laufen sich die hyperpolitischen Bewegungen von selbst tot, indem das Wirtschaftssystem zwar nicht durch neue linke Massenbewegungen, aber durch den Klimawandel zu den überfälligen Reformen gezwungen wird. Das Ziel, das Anton Jäger vorschwebt, würde so erreicht, wenn auch auf dem falschen Weg.

©️ Konstantin Johannes Sakkas, 2023

Anton Jäger, Hyperpolitik. Extreme Politisierung ohne politische Folgen. Aus dem Englischen von Daniela Janser, Thomas Zimmermann und Heinrich Geiselberger. Suhrkamp edition 2023, 136 S., 16€.

Bild: Théodore Géricault : Le radeau de la Méduse (Das Floß der Medusa), 1819, Louvre. Mit diesem Motiv bebilderte der Suhrkamp-Verlag den Essay „Im selben Boot“ von Peter Sloterdijk aus dem Jahr 1993, in dem der Begriff Hyperpolitik wohl erstmals im Deutschen erwähnt wird. Definiert Sloterdijk in seinem Buch das Ökologische als die neue zentrale Frage im Zeitalter der Postpolitik nach dem „Ende der Geschichte“ 1990, so bestimmt Anton Jäger genau dreißig Jahre später das Soziale als nach wie vor ungelöstes und im Zeichen des Spätkapitalismus besonders dringliches Problem.

Mehr Passivität wagen

Wie der Zwang, etwas werden zu wollen, unsere Seele und unsere Welt zerstört

Wieder geht ein Jahr zu Ende, und wieder bin ich nicht so viel weitergekommen, wie ich wollte. Wer kennt es nicht, dieses Gefühl? Bilanzen fallen meistens enttäuschend aus, denn das Bilanzieren bezieht sich auf genau terminierte starre Zeiträume, die wir dann mit konkretem, flüssigem Inhalt füllen wollen, und das klappt meistens nicht. Das meinte der Dichter Charles Baudelaire mit der „Bürde der Zeit“: die Zeit als Zeitstrahl, als Strecke, innerhalb derer etwas zu bewältigen sei, eine Anordnung, auf der unsere ganze Existenz fußt, die aber zutiefst irrational und auch unmoralisch ist; denn diese zeiträumliche Abstraktion lässt ja alles Kontingente, Zufällige, nicht Einberechnete unberücksichtigt. 

Das Fußballspiel dauert neunzig Minuten. Was, wenn meine Mannschaft nur fünf Minuten mehr gehabt hätte? Dann wären wir richtig wach gewesen und hätten das Spiel gewonnen. So aber fehlten uns, wie man so sagt, entscheidende fünf Minuten. Den Halbmarathon in unter 90 Minuten schaffen? Wenn ich dieses Jahr nicht an einem Virus erkrankt wäre, dann, ja, dann hätte ich dieses Ziel erreicht. Die so vielversprechende neue Liebe? Ja, wenn wir uns unter anderen Umständen kennengelernt hätten… „Unter anderen Umständen“. Und so weiter, und so weiter. Aber wir haben es nicht geschafft, und zwar nicht „in der gegebenen Zeit“.

Als so einen Zeitstrahl betrachten wir das abgelaufene Jahr, betrachten wir das ganze Leben, auch wenn es eigentlich irrsinnig ist. Das ist es, was Rilke meint, wenn er in seiner großen achten Duineser Elegie sagt, wir Menschen sähen stets den Tod, „das freie Tier“ aber habe seinen Untergang stets schon hinter und nicht vor sich. 

Dass wir Tiere so lieben, liegt daran, dass aus ihnen eine eigentümliche Zeit- und Entwicklungslosigkeit zu uns spricht. Wo keine Entwicklung, da auch keine Brüche, kein Es-nicht-geschafft-haben, jedenfalls nichts als solches Erfahrenes. Dem Menschen hingegen und auch der von ihm bewirtschafteten und manipulierten Umwelt sieht man die innere Auseinandersetzung mit ihrer Entwicklung an. Das gilt für Gesichter wie für Stadtbilder. Das Tier aber wirkt auf uns süß, weil es ewig jung bleibt, weil es nichts weiß von einem Strom der Zeit, einem Zeitstrahl, weil es nicht erst etwas werden will, sondern immer schon ist. Aus der Ewigkeit, in der kein Zeitfluss, kein Kommen und Vergehen herrscht, ist es in gewisser Weise nie hinabgestiegen in den Abgrund der zeitlichen Linearität.

Das Denken in Linearität, in Zeitstrecken, innerhalb derer etwas zu bewältigen, ein Fortschritt zu erzielen sei, zerstört die Seele und das Leben, aber es ist konstitutiv für den Menschen und für unsere Epoche. Umweltzerstörung und Klimawandel sind ein direktes Produkt der Angst, „es“ nicht zu schaffen, sich nicht versorgen zu können, ohne technische Hilfsmittel der Willkür der Natur auf ewig ausgeliefert zu sein. Also begann der Mensch, von der Natur zu lernen und sie zu manipulieren, von der Seefahrt bis zum Smartphone, von der Viehhaltung bis zum Hybridsamen. Es war nicht böse Absicht; es waren Hektik und Angst, in einem gegebenen Zeitraum nicht weiterzukommen, nach kurzem Aufflackern wieder abzutauchen in ein unbekanntes Jenseits. Hiervon, von diesem Abtauchen kauft sich der Mensch Aufschub durch den Prozess der Zivilisation, aber die Zivilisation ist selbst ein Abgrund. Aus dem rasenden Ehrgeiz, „etwas“ zu werden, aus der Angst, „es“ nicht rechtzeitig zu schaffen, zerstören wir unsere Weltbezüge, wie der Soziologe Hartmut Rosa sie nennt, und unsere Welt.

„Wer aber verzweifelt stirbt, dessen ganzes Leben war umsonst“, schreibt Adorno in seinem düsteren Minimum Morale 106, einem Urtext des Negativismus. Wir alle sind Verzweifelte, denn unser aller Prämissen stimmen nicht. Wir alle sind „im falschen Leben“, unser aller Leben war umsonst. Unser aller Geschichte müsste man, wie die Geschichte schlechthin, abbrechen und nochmal von vorn beginnen. „Unter anderen Umständen…“

Ein Jahr ist nun vorüber, ein Lebensjahr, ein Lebensjahrzehnt, und manche stehen vor ihrem letzten Lebensjahr: war das Jahr, war das Leben umsonst, weil man dieses oder jenes „in der Zeit“ nicht geschafft hat, „etwas“ Bestimmtes nicht geworden ist? Für manche Menschen endet das Leben kaum, dass es begonnen hat, sie sterben als Säuglinge oder Kinder; andere nehmen früh Schaden am Körper oder an der Seele und erlangen nie die innere und auch nicht die äußere Freiheit, in der die anderen scheinbar stehen. Ist ihr Leben umsonst, weil es in dieses oder jenes Stück Zeit gefallen ist? 

Es ist banal, für weniger Hektik zu plädieren. Aber vielleicht können wir vom Tier lernen, das nicht in Zeitstrecken denkt; das keine To-do-Listen hat, die abgehakt werden müssen, sondern das in einer eigentümlichen, für uns niedlichen Passivität in sein Leben hineinlebt. Kann man überhaupt etwas „nicht geschafft“ haben? In der Antwort auf diese Frage liegt auch ein Stück weit die Antwort auf die Frage, warum wir unsere Umwelt so beschädigt haben.

Titelfoto: In der Vision des Ezechiel im Alten Testament sind es Engel und Tiere, die Gott am jüngsten Tag an seine Seite ruft. – Raffael: Visione di Ezechiele, Öl auf Leinwand, ca. 1518, Florenz/Palazzo Pitti

Eine kürzere Fassung dieses Textes erschien am 1. Januar 2023 auf http://www.nzz.ch

© Konstantin Johannes Sakkas, 2023

Die Kälte der Königin 

Die Thronbesteigung von Queen Elizabeth II. vor siebzig Jahren war die letzte große Manifestation der Metaphysik des Königlichen in Europa. Sie war auch eine Metaphysik matriarchaler Kälte – und vertrug sich bestens mit dem kalten Matriarchat des Feminismus der Post-68er

Im kulturellen Gedächtnis Europas gibt es diesen einen Moment, der vielleicht die letzte große Inszenierung der „alten Welt“ ist: als am 7. Februar 1952 Elizabeth Windsor aus Nairobi kommend in London Heathrow landet, ist sie keine Prinzessin mehr, sondern Königin. Während sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Prinz Philip auf Werbetour durchs Commonwealth war, sehr jung, sehr verliebt und noch kaum belästigt durchs raunende Wissen um das Leiden in der Welt, geschieht im fernen London etwas, was sie für immer verändern wird: ihr geliebter Vater, die erste und große Liebe dieses jungen, unbeschwerten, lebensfrohen Mädchens, der durch Leiden große König Georg VI., stirbt. In diesem Augenblick wird Prinzessin Lilibet nicht nur die Königin Elizabeth; sie wird auch ein anderer Mensch.

Sinnbild dieser Transformation ist die Szene auf dem Londoner Flughafen; man kann sie auf YouTube nachschauen. Die Maschine landet, am Rollfeld aufgereiht stehen alte Männer ganz in Schwarz. Sie warten auf ihre neue Königin. Es sind Winston Churchill, Clement Attlee, der Herzog von Gloucester und weitere Spitzenpolitiker und Würdenträger. Das Flugzeug hält, die Gangway fährt heran, die Kabinentür springt auf. Heraus tritt ein fünfundzwanzigjähriges Mädchen, ganz in Schwarz. Sie schreitet die Gangway herab, allein. Vor ihr, unter ihr steht die Reihe der wartenden alten Männer, aber etwas ist anders. Auf einmal schaut der Zuschauer auf entblößte und kahle Häupter; die Kopfbedeckungen, die man in den Fünfzigern noch obligatorisch trug, sind jetzt abgenommen. 

Was jetzt passiert, ist ikonisch. Als die Queen den Fuß der Gangway erreicht hat, tritt sie zu den Männern und begrüßt jeden von ihnen per Handschlag, als ersten Winston Churchill. Als aber der 77jährige Prime Minister die Hand der neuen Königin ergreift, verbeugt er sich, und zwar so tief, so dass sein Oberkörper beinahe den 90-Grad-Winkel erreicht. Alle weiteren Männer tun es ihm gleich, einer nach dem anderen. Barhäuptig beugen sie sich tief, als wären sie kleine Diener, über die Hand des fünfundzwanzigjährigen Mädchens. 

Winston Churchill, der Held des 20. Jahrhunderts, der Mann, der Adolf Hitler besiegt, Europa vom Naziterror befreit und Großbritannien gerettet hat; der Mann von Omdurman und Gallipoli, von Dünkirchen und London, ein Greis von bald achtzig Jahren, verbeugt sich entblößten Hauptes vor einer fünfundzwanzigjährigen Tochter aus der Londoner Oberschicht, als wäre sie die Gottesmutter. Einer der mächtigsten Politiker der Erde, aus dem britischen Hochadel, verbeugt sich, wie sich sonst nur Menschen niederen Standes verbeugen. Es ist in etwa so, wie wenn heute Joe Biden oder der Papst vor Cara Delevingne auf die Knie fielen. –

Die Prinzessin als Greisin

In diesem Augenblick erkaltet das Herz der Prinzessin. In diesem Augenblick wird aus Lilibet die Queen. Sie fühle sich, schrieb Goethes Geliebte Charlotte von Stein einmal, am liebsten, wenn sie sich ganz zur Statue machen könne. Elizabeth Windsor macht sich fortan zur Statue. Sie muss es, sie glaubt es zu müssen. Denn wenn der Held des 20. Jahrhunderts vor ihr dienert wie ein Lakai, dann macht sie das nicht etwa überheblich und arrogant, wie man denken könnte; nein, es macht sie demütig, es versteinert sie. Es zeigt ihr: ich darf mir keine Gefühle, keine Capricen mehr erlauben. Ich gehöre nun zu den Erwachsenen, ja, noch mehr: ich bin die Chefin der Erwachsenen, und zwar der ranghöchsten Erwachsenen, die es in meiner Welt gibt. Der Heros des 20. Jahrhunderts, ein Greis, hat sich vor mir verneigt; also bin ich auch eine Greisin, nein: ich bin sogar die Übergreisin. Die Prinzessin als Übergreisin: das ist fortan Elizabeth Windsor. Eine Frau, vor der Winston Churchill barhäuptig dienert, hat keine Sexualität mehr.

Aus dieser Szene heraus erklärt sich die ganze Queen, erklären sich das Drama ihrer Familie, die Tragödien und Schikanen der Royal Family, mit denen Generationen von uns aufgewachsen sind. Fortan glaubte Elizabeth, sich nichts Menschliches mehr leisten – und auch ihrem engsten Umfeld nicht mehr erlauben zu dürfen. Zwei Generationen ihrer Familie hat sie mit dieser Doktrin der Kälte, der Gefühlsversagung zerstört: ihre eigene, in Gestalt der tragischen Princess Margaret Rose, und die ihrer Kinder, mit dem Drama um Charles und Diana als Epizentrum.

Die zwei Körper der Königin

1957, nur fünf Jahre nach Elizabeths Thronbesteigung, veröffentlichte der aus Nazideutschland emigrierte Ernst Kantorowicz in den USA ein Buch, das bis heute als Klassiker gilt: Die Zwei Körper des Königs. Das Leben der „Queen“ ist eine einzige Illustration der Theorie von Kantorowicz: mit der Thronbesteigung zieht sie ihren irdischen Körper, ihre sterblichen, irdischen Leidenschaften aus und nimmt den überirdischen, unsterblichen, leidenschaftslosen Körper an. Sie hat „Christus angezogen“, final manifestiert im Akt der Salbung in Westminster Abbey, jenem Akt, der – die Krönung Elizabeths 1953 war das erste große globale Fernsehereignis – nicht gefilmt werden durfte: die BBC schwenkte ihre Kameras in diesem einen Moment für wenige Sekunden aufs königliche Wappen. Die Serie „The Crown“ gibt diese Szene minutiös wieder; das Wegschwenken der Kameras lässt sie den um Krone und Krönung gebrachten Duke of Windsor so kommentieren: „wer will schon Transparenz, wenn er Magie haben kann?“

Die Queen wählte die Magie, von Amts wegen und passend zu einer Zeit, in der Transparenz noch gleichbedeutend war mit Skandal, weil das allfällig Transparierende ja etwas zu Verbergendes und also Deviantes, Nonkonformes sein musste. Was, da hat jemand ein Privatleben? Was, da hat jemand Amouren, Capricen, Affären? Wie, da folgt jemand seinen Gefühlen? Transparenz gilt heute als Tugend, doch bis weit in die Nachkriegszeit hinein war sie negativ besetzt, nämlich als Horizont möglicher verborgener Laster: dass etwas offengelegt werden musste oder auch nur konnte, machte es schon eo ipso verdächtig; ein gutes Subjekt hat „nichts zu verbergen“, und so wurde der schlechte Ruf des verborgenen Privaten im Wege der bürgerlichen Dialektik der Unaufrichtigkeit übertragen auf die es ent-bergende Tugend der Transparenz.

Und der höhere, unsterbliche Körper der Königin hat ja auch nichts zu verbergen; ihr Leben liegt faltenlos und leuchtend ausgebreitet, und kein dunkler Flecken bleibt auf ihm zurück. Christus, der Gesalbte, den sie „angezogen“ hat, hat ja auch keine Capricen, keinen Sex, keine irdische, sündhafte Leidenschaft; ebenso wenig eine gesalbte Königin. Doch die Sterilität und Langweiligkeit, der sie sich selbst verschreibt, macht sie nun auch in passiver Aggressivität ihrem nächsten Umfeld zur Vorschrift. Und so wird die junge, verspielte Lilibet von der Märchenprinzessin zur Eiskönigin. 

Die Queen wird zum Prototyp der Achtundsechziger-Mutter

Aber mehr noch: die Queen wird zum Prototyp der Nachkriegsmutter, und auch – und das mag überraschen – der Achtundsechziger-Mutter. Millionen von Kindern im Westen zwischen 1950 und 2000 sind mit Müttern wie der Queen aufgewachsen: Frauen, die sich „zur Statue“ machten; die die Rolle der Herrin der Mitte annahmen; die behaupteten, sich aufzuopfern, „die Familie“ gegenüber einem „schwachen Vater“ führen zu müssen – und darüber zu Familientyranninnen wurde. „Ich hatte die Verantwortung für die Familie“, „ich musste hart sein“, „Dein Vater hat sich davongestohlen“: so werden sie lauten, die Rechtfertigungsphrasen, die Millionen von einmal lebenslustigen, lebensbejahenden Frauen zu vor der Zeit gealterten Zwingherrinnen ihrer und ihrer Familien Gefühle werden lassen; sie könnten eins-zu-eins von Queen Elizabeth stammen.

So wie Achtundsechzig ein Kampf gegen das alte, aus der Vorkriegszeit übernommene Patriarchat war: so vollzog sich zwischen den Siebziger- und den Nullerjahren ein generationenweiter Kampf gegen dieses Matriarchat der Kälte, das erst Achtundsechzig politisch legitimiert hatte und für das prototypisch Elizabeth II. stand. Das emblematische Opfer auf dem Altar dieses Kampfes war Diana, Princess of Wales. 

Dianas Unfalltod war der Heldentod des Second-Wave-Feminismus

Dianas Unfalltod 1997 (er jährt dieses Jahr zum 25. Mal – eine weitere, posthume Konkurrenzsituation zur Schwiegermutter) war der Heldentod des Second-Wave-Feminismus, der die Frauen nicht mehr, wie Achtundsechzig, zu Amazonen befreite, sondern zu Tussis. Denn das ist die Befreiungsbotschaft der Spaßgesellschaft der Neunziger: Frauen brauchten nicht mehr kalte, entsexte Kämpferinnen, Männer nicht mehr um ihre Männlichkeit verstümmelte, dauernd irgendeine Schuld eingestehende Eunuchen zu sein: sondern beide entdeckten offensiv ihren Hedonismus, ihre Oberflächlichkeit, ihre Schuldfreiheit.

Diana, über die es 2007 in einem Zeitungsartikel zynisch hieß, „größere geistige Fähigkeiten oder auch nur Interessen jenseits der Popband Duran Duran“ habe sie nicht gehabt, wurde zur Gegenfigur Elizabeths: symbolisierte die Schwiegermutter den himmlischen, so Diana den irdischen Körper der Königin; eine wahre Königin der Herzen, weil beim Herzen zuvörderst der Bauch mitfühlt, nicht der Verstand; und weil das Herz in der Regel eben nicht nach Stifters „Bergkristall“ unterm Weihnachtsbaum verlangt, sondern nach den Bangles, Mike and the Mechanics oder eben Duran-Duran.

Triebverzicht und Triebverneinung sind, in westlichen Gesellschaften jedenfalls, schon lange eine Konsequenz aus der Abwesenheit des Väterlichen, nicht einer Unterdrückung des Mütterlichen. Elizabeth II. war zwar nicht ohne Vater aufgewachsen; aber sie hatte ihren Vater verloren, und zwar gleich zweimal: das erste Mal mit dessen nicht vorgesehener Thronbesteigung, das zweite Mal mit seinem Tod mit noch nicht sechzig Jahren. Die Thronbesteigung Georgs VI. 1936, von der man sagt, sie habe den sensiblen Prinzen Albert gesundheitlich ruiniert, wurde nötig, weil der ältere Bruder Edward VIII. seinen Traum, Wallis Simpson zu heiraten, nicht aufgeben wollte. Auch wenn die Geschichtswissenschaft schon längst ihre Zweifel an dieser Version angemeldet hat: es war in der Erinnerung Lilibets das Sexuelle, das Private, das Edward seine Pflichten vergessen lassen und ihren Vater in den schweren Stand der Pflicht gesetzt – und vor der Zeit umgebracht hatte. Das Sexuelle, die Indulgenz gegenüber dem angeblich Niedrigen, Belanglosen und Schmutzigen war also Schuld am frühen Verfall und Tod des geliebten Vaters und blieb fortan inkriminiert. Auch deshalb wird die Queen ihre Kinder, allen voran Charles, in unpassende, sie einschnürende Lebensverhältnisse gedrängt haben. 

Die gleiche Vaterlosigkeit war zu einem guten Teil verantwortlich für das Matriarchat der Post-Achtundsechziger-Zeit und seine Doktrin der Kälte. Unter dem Mäntelchen einer, historisch freilich notwendigen, politischen und justiziellen Befreiung der Frau (und einer Vergangenheitsbewältigung, die ganze Kohorten von Vätern nicht nur in Deutschland fundamental delegitimierte) schrieb Achtundsechzig einem Dominat das Programm, das Millionen von Kindern seelisch versklavte. In deren Erinnerung waren und sind es dann oftmals die Väter, die in der Heimlichkeit von Jobholder- und Scheidungsexistenzen ungekannte Milde walten ließen; die ihnen erst die Schokolade und später das Geld zusteckten und sie in ihrer Reiserei und ihren noch so unpassenden Liebschaften bestärkten, während die zusammenhaltenden Mütter Gift und Galle spien. Das Väterliche, das einst so viel Schaden angerichtet hatte: in der Zeit nach Achtundsechzig stand es immer häufiger für Wärme, fürs Zulassen; das Mütterliche dagegen stand nur zu oft für Versagung und Kälte.

Frauen dürfen heute Tussis sein

Die Zeit der Kälte ist vorbei. Und es ist die vielleicht größte Errungenschaft der Frauenbewegung, dass Frauen Tussis sein dürfen. Junge Frauen lernen ihren Feminismus heute in der „Vice“ oder in Serien wie „Bad Banks“: Frauen können erfolgreich und sexuell, können Anführerinnen und Tussis sein. Frauen können, wie Paula Beers Jana Liekam in „Bad Banks“, 150.000 Euro auf dem Bankkonto haben, aber sich „die Muschi lecken lassen“ wollen. Frauen dürfen sich selbst entwerfen als kosmopolitane Mädchen, und Männer sich selbst als metrosexuelle Gecken. 

Im Jahr ihres 70jährigen Thronjubiläums ist die Ikone des Frauseins nicht mehr die Queen, sondern Dua Lipa, geboren 1995, in London, im Jahr des skandalisierten BBC-Interviews von Diana. Dua Lipa, die vor jeder Kamera, in jeder Instagram-Story ihren Körper bis kurz vor die Nacktheit entblößt; die sich eng befreundet zeigt mit Elton John, der Ikone der Siebzigerjahre-Libertinage, dessen Performance bei der Trauerfeier Dianas 1997 ihn unsterblich machte: sie ist der endgütige Triumph Dianas, der endgültige Abgesang auf die Kälte der Königin. Der epochalen Rolle Dianas als Symbolfigur der millennaren Befreiung gegen die matriarchale Enge von Achtundsechzig aber schreibt Pablo Larraíns „Spencer“ die würdige Inszenierung, glänzend besetzt mit Kristen Stewart, wie Dua Lipa und Elton John eine queere Ikone.

Transparenz, nicht Magie

Wir Millennials, so ließe sich jener ikonische Satz aus „The Crown“ umdrehen, wollen keine Magie mehr; wir wollen Transparenz. Das gilt für Ehrlichkeit in der Umwelt- und Klimapolitik genauso wie für Ehrlichkeit im Privaten: lieber Libertinage und Patchwork als eine künstlich „zusammengehaltene“ Familie mit tausend Tragödien unter dem Schleier dieses Pseudo-Zusammenhalts. Der alte Churchill auf dem Rollfeld verneigte sich vor dem unsterblichen Körper der Königin; die Gegenwart verneigt sich vor dem begehrenswerten, fleischlichen Körper, der sündhaft und sterblich ist, aber schön. Damit ist sie ehrlicher – und glücklicher.

© Konstantin Johannes Sakkas, 2022

Header: Ankunft von Queen Elizabeth II. in London, 7. Februar 1952. Quelle/Rechte: BBC: https://www.bbc.com/news/16861913

Krüppel in Rüschenblusen

Nach „Jackie“ widmet sich Pablo Larraín mit seinem intimen Diana-Portrait „Spencer“ der nächsten Ikone des 20. Jahrhunderts

2022 wird ein Diana-Jahr. Zwar hätte die einstige Princess of Wales ihren sechzigsten Geburtstag 2021 gefeiert; doch 2022 jährt sich ihr Tod zum 25. Mal. Passend dazu erscheint nicht nur die fünfte Staffel der Netflix-Serie The Crown mit Dianas Ehekrise und Unfalltod im Zentrum, sondern auch ein neues Biopic.

Pablo Larraín und einsame, zerbrechliche und starke Frauen: das passt. Schon seine Jackie ging unglaublich in die Tiefe, und wäre Emma Stone nicht ihre Konkurrentin gewesen, so wäre Natalie Portman der Oscar für ihre Jacqueline Kennedy wohl sicher gewesen. Eine heiße Kandidatin für den diesjährigen Academy Award als beste Hauptdarstellerin dürfte nun Kristen Stewart sein: Der Twilight-Star spielt in Larraíns Spencer die Lady Di, den Kopf ewig schräg gelegt, fein und fragil wie Michelle Williams in Ridley Scotts Alles Geld der Welt, wo es auch um das Empowerment einer von tyrannischen Familienstrukturen erstickten Frau geht. 

An Scotts Getty-Epos erinnern auch die fabelhaften, gedämpft kolorierten englischen Panoramen (sie wurden großenteils in Brandenburg und Hessen gedreht), auch denkt man an Stanley Kubricks Barockoper Barry Lyndon, an Brideshead Revisited, The Favourite. Die Schönheit und Scheußlichkeit des Englischen weiß der Chilene Larraín zu inszenieren wie kaum ein anderer. Dazu bei trägt, wie schon in Jackie, auch hier ein perfekter Soundtack, für den er sich diesmal die Hilfe von Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood geholt hat. Dessen Musik changiert zwischen fiebrigem Jazz, der an die Serie Homeland und seine, ebenfalls missverstandene, Heroine Carrie Mathison denken lässt, und depressiver barocker Streichmusik. 

Eingeengt noch durch die hier streng observierte Einheit von Zeit, Ort und Handlung spielt der Film an den drei Weihnachtstagen 1991 auf Schloss Sandringham, durch Stacheldraht abgeschottet von der Außenwelt. Wie sehen, wie die bulimische Diana über der Kloschüssel hängt und sich nachts in die Küche stiehlt; wie sie sich – auch hier grüßt Jackie – mit dem Personal wie dem bärbeißig-fürsorglichen Chefkoch Darren (Sean Harris) verbrüdert, um wenigstens ein bisschen Menschlichkeit zu erfahren; wie sie mit William und Harry kleine Inseln der Flucht vor der gefühlsgestörten Familie baut, deren fiese Reglements ihr das Leben zur Hölle machen: so lässt der Haushofmeister mit seinem festgefrorenen Fischgesicht (Timothy Spall) gar die Vorhänge ihres Gemachs zunähen, „aus Schutz vor Paparazzi“. Brutal ehrlich, nicht idealisierend wie in The Crown ist hier Stella Gonets Portrait der Queen. Krüppel in Ringelsöckchen, so sah die Adelsaussteigerin Elisabeth Plessen sich und ihre Geschwister unter der väterlichen Zucht; hier sind es Krüppel in Lodenmänteln und Rüschenblusen. Der einzige freie Mensch unter ihnen, nicht die Medienhure, die sie bis heute gescholten wird – Diana.

Der begegnet in Visionen immer wieder der Geist Anne Boleyns (Amy Manson), während Holbeins fleischiges Portrait ihres mörderischen Gatten Heinrich VIII. über der Familientafel lauert. Ihre einzige Vertraute ist ihre Kammerzofe Maggie (Sally Hawkins), die ihr in einer Sanddüne offenbart: „Ma‘am, ich bin verliebt in Sie. Wenn ich daran denke, wie oft ich Sie nackt gesehen habe“, worauf die beiden loslachen und schäkern wie gute, alte Freundinnen. In der Schlussszene im rettenden London – im Radio läuft Mike Rutherfords All I need is a miracle – bestellt Diana aus dem ikonischen Porsche 964 heraus bei KFC Burger und Cola für sich und ihre Söhne. „Auf welchen Namen?“ „Spencer“. 

© Konstantin Johannes Sakkas, 2022

„Spencer“ (Regie: Pablo Larraín, Drehbuch: Steven Knight, 111 min.) hatte im September 2021 bei den Filmfestspielen Venedig Premiere und kommt am 27. Januar 2022 in die deutschen Kinos.

Bild: Diana (Kristen Stewart) am Steuer. © Pablo Larraín/DCM

Eine Liebe in Berlin

Und wieder eine Romanverfilmung aus der Weimarer Zeit: Dominik Grafs schöne Kästner-Adaption „Fabian“ erzählt von Glanz und Elend des Gutseinwollens

Tom Schilling und Saskia Rosendahl sind das neue Leinwandtraumpaar des deutschen Films. Standen sie in Florian Henckel-Donnersmarcks Werk ohne Autor als Neffe und Tante vor der Kamera, brillieren sie nun in Dominik Grafs Fabian oder der Gang vor die Hunde (nach Erich Kästners Fabian. Die Geschichte eines Moralisten) als Liebespaar, das um seinen Idealismus kämpft. 

Der Film ist eine Mischung aus Fear and Loathing in Las Vegas und La La Land, der Routinier Graf (Hotte im ParadiesGeliebte Schwestern) beherrscht beide Genres: Roadmovie und Romanze. Zugute kommt ihm hier, dass die weibliche Hauptrolle mit der deutschen Emma Stone besetzt ist: die herrliche Saskia Rosendahl braucht in der Rolle der Cornelia Battenberg die Berlin-Mitte-Schnitte nicht zu spielen, sie ist eine, und zwar nicht rotzig, sondern ätherisch.

Wie Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz (2020) nimmt der Film (auch er eine Hymne an den „Steinhaufen“ Berlin) einen Klassiker der Weimarer Republik zur Vorlage, allerdings ohne ihn – bis auf die Eröffnungssequenz, in der der U-Bahnhof Heidelberger Platz gleichsam als Zeitschleuse fungiert – in die Gegenwart zu transponieren. Glücklich widersteht Graf auch der Versuchung, bloßen 20er-Jahre-Klamauk zu liefern wie die Serie Babylon Berlin. Seine Inszenierung ist zwar durchaus radikal, gerade in den sexuellen Details; doch sein Grundton ist romantisch, das Pornographische nur Koloratur.

Fürs Politische genügen Graf dezente Andeutungen: hier und da SA-Männer, ein Kommilitone mit Nazi-Schnitt an der Friedrich-Wilhelms-Universität, der Fabians (Schilling) Freund Labude (herrlich sensibel und endlich mal kein Bösewicht Albrecht Schuch), durch eine Lüge in den Selbstmord treibt; in der Schlussszene tönt aus dem Rundfunkgerät der Bericht über die Kurfürstendammkrawalle, eine von Goebbels orchestrierte antisemitische Attacke im Herbst 1931, während das Szenenbild in die spätere Bücherverbrennung übergeht. 

Fabian ist Liebesfilm, kein politisches Drama. Sein Horizont ist nicht so sehr der konkrete Sturz in die Barbarei, der sich im Jahr der Handlung 1931 bereits unübersehbar ankündigte (so auch im Film), als die Kaputtheit des sozialen In-der-Welt-seins schlechthin. Die Frage, ob und wie ihr beizukommen sei, erzeugt das intellektuelle Knistern zwischen dem linksliberalen Idealisten Labude, der über Lessing promoviert, und dem abgeklärten Lebemann Fabian, dessen Zynismus man dem sanften Tom Schilling freilich nur mit viel Wohlwollen abnimmt: „Das Zeitalter der Menschenwürde bricht an“, schwärmt der großbürgerliche Labude. „Wenn man das System erst vernünftig gestaltet hat, werden sich auch die Menschen anpassen.“ Der illusionslose Aufsteiger Fabian hält zwar dagegen: „Was nützt dein göttliches System, wenn der Mensch ein Schwein ist?“ – gleichviel, Moralisten sind sie beide.

Moralisch ist auch Cornelia, die hoch hinauswill und dafür auch mit ihrem Chef, dem Filmmagnaten Makart (Aljoscha Stadelmann), ins Bett geht, aber trotzdem keine charakterlose Opportunistin ist. Der Vertrag, den sie für Fabian aufsetzt – „ich liebe Cornelia und werde deshalb ihrer Karriere nie im Wege stehen“ – ist so radikalfeministisch, dass es schon wieder charmant ist. Wenn es moralischen Egoismus gibt, dann den des gerechten Empowerments. 

„Hat die Welt überhaupt Talent zur Anständigkeit?“ Cornelias Antwort: „Man kommt nur aus dem Dreck heraus, wenn man sich dreckig macht.“ Sie hat recht: entscheidend ist nicht das sich dreckig Machen; entscheidend ist die Fähigkeit, zwischen Dreck und Nicht-Dreck zu unterscheiden. 

Fabian oder der Gang vor die Hunde (Regie: Dominik Graf, Buch: ders., Constantin Lieb) kommt am 5. August in die deutschen Kinos. Der Film war auf der diesjährigen Berlinale für den Goldenen Bären nominiert und ist in der Vorauswahl für den Deutschen Filmpreis 2021.

Header: Saskia Rosendahl in „Fabian“. © Lupa Film, Hanno Lentz, DCM

Ästhetischer Widerstand?

Der junge österreichische Germanist Albert Eibl versucht eine Ehrenrettung Ernst Jüngers

Eichmann in Jerusalem ist in vielem eines der schwächeren Werke Hannah Arendts. In einem interessanten Detail aber sticht es noch heute heraus: nämlich als Arendt über die „innere Emigration“ spricht, also

„über alle jene, die im Dritten Reich Stellungen, und oft genug hohe Stellungen, innehatten und dann nach dem Kriege sich selbst und der Welt erklärten, sie seien jederzeit ‚innerlich Gegner des Regimes‘ gewesen. Nicht, ob sie die Wahrheit sagen oder nicht, ist hier die Frage; entscheidend ist, dass es in der ganzen geheimnisverseuchten Atmosphäre des Hitlerregimes kein besser gehütetes Geheimnis gegeben hat als solche ‚innere Opposition‘. Das war unter den Bedingungen des Naziterrors fast eine Selbstverständlichkeit; wie mir einmal ein sehr bekannter ‚innerer Emigrant‘ [ … ] versichert hat, mussten sie ‚nach außen‘ sogar nazistischer auftreten als gewöhnliche Nazis, um ihr Geheimnis zu wahren.“

Albert Eibls Ernst Jünger tritt uns als ein solcher „innerer Emigrant“ entgegen – freilich nicht als Täter, sondern als, ja: unpolitischer Literat. Hierin könnte eine Entlastung liegen, denn das Zitat von Hannah Arendt geht ja weiter:

„In Wahrheit gab es nur einen Weg, im Dritten Reich zu leben, ohne sich als Nazi zu betätigen, nämlich, überhaupt nicht in Erscheinung zu treten: sich aus dem öffentlichen Leben nach Möglichkeit ganz und gar fernzuhalten war die einzige Möglichkeit, in die Verbrechen nicht verstrickt zu werden, und dies Nicht-Teilnehmen war das einzige Kriterium, an dem wir heute Schuld und Schuldlosigkeit des Einzelnen messen können.“

Nun, so ein Nicht-Teilnehmen könnten wir getrost auch Ernst Jünger attestieren. Zwar Hauptmann der Reserve im Stab des „Militärbefehlshabers Frankreich“, lässt sich ihm doch keine, zumindest keine direkte Beteiligung an nationalsozialistischen Gewaltverbrechen zurechnen. Und als Literat? Verbat sich Jünger die Vereinnahmung durch die Nazis und veröffentlichte 1939 mit Auf den Marmorklippen gar ein verschlüsseltes Widerstandsbuch. Jünger könnte also mit einigem Recht als ein innerer Emigrant „im guten Sinne“ gelesen werden, als jemand, der sich im Sinne Hannah Arendts bemühte, während der Diktatur weitgehend unsichtbar, nicht-teilnehmend zu bleiben.

Hier könnte diese Rezension zu Ende sein, ginge es Albert Eibl nicht um mehr. Die Ausgangsthese oder besser das Ziel seiner hier in Buchform vorliegenden Magisterarbeit lautet nämlich, „Jüngers Philosophie der Desinvolture“ als eine „Form der ‚inneren Emigration'“ auszuweisen, „die sich nicht scheut, das Rechte zu tun und zu widersprechen“, womit „das schriftstellerische Werk Ernst Jüngers von 1933 bis 1945 zu einem seltenen Mainfest des ästhetischen Widerstands“ gerinne.

Und hier sind Zweifel angebracht. Zweifel, ob es so etwas wie „ästhetischen Widerstand“ gibt, noch dazu auf dem Horizont des NS-Regimes und des von diesem verübten Menschheitsverbrechens der Shoa, vor allem aber auf dem Horizont von Jüngers eigener Biographie. Und grundsätzliche Zweifel, ob gerade Ernst Jünger auch nur in irgendeiner Weise dem Widerstand zuzurechnen sei.

Denn Ernst Jünger war „jemand“ im „Dritten Reich“: Pour-le-Mérite-Träger, Angehöriger des Großbürgertums und als Autor der Stahlgewitter Idol eines ganzen gesellschaftlichen, und zwar des damals politisch dominanten gesellschaftlichen Spektrums. Wer, wenn nicht er, hätte zu einer widerständigen Gesinnung die praktische Probe aufs Exempel liefern können, ja: müssen statt bloß „mehrdeutige, camouflierte Regimekritik, die eine fein austarierte Doppelbödigkeit zu ihrem statischen Prinzip erhob“?

Eibls konkrete These – der Mann ist Germanist und noch keine 30, was seine Tendenz zur Idealisierung erklären mag – lautet, Jünger habe bereits 1929 mit dem Abenteuerlichen Herzen seine Wandlung vom nihilistischen Dezisionisten zum ästhetischen Metaphysiker vollzogen und sich damit vom Nationalsozialismus schon vor der „Machtergreifung“ losgesagt:

„Über Jahrzehnte hinweg notiert immer wieder Jünger, die Aufgabe guter Prosa sei es, ‚die Todesfurcht zu bannen‘. Das ist das eigentliche Leitmotiv, das sein gesamtes Schreiben durchzieht. Um sich selbst und seiner idealisierten [gemeint ist wohl ideierten; K.S.] Lesergemeinde in Zeiten ’nihilistischer Pöbelherrschaft‘ Mut und Hoffnung zu spenden  – und die spätestens ab dem 30. Januar 1933 angebrochenen Phase der Vernichtung in Würde zu bestehen – führt er in seinem […] Oeuvre immer wieder Oasen der Schönheit wie der höheren metaphysischen Ordnung vorbildhaft gegen die Nichtswürdigkeit der im Deutschen Reich auf bittere Weise zur Realität gewordenen ‚Schinderwelt‘ ins Treffen.“

Das klingt salbungsvoll – und verräterisch. Denn hätte dieser Ernst Jünger seine „Todesfurcht“ jemals wirklich „gebannt“: hätte er dann noch das Abschlachten und Massenmorden, von dem er Kenntnis hatte und dessen Unrecht er gewiss einsah, jahrelang mitansehen können, ohne Widerstand zu leisten? Naja, an anderer Stelle schreibt Eibl, Jüngers „ritterliches Ehrgefühl und sein persönliches Verständnis von Würde“ hätten ihm ja verboten, sich „als intellektueller Widerständler zu profilieren“. Na, was denn nun?

Abgesehen davon, dass Eibl mit problematischen oder unklaren Kategorien operiert – so ist gegen den Topos Ehrgefühl an sich nichts einzuwenden, aber er bedürfte immerhin einer genaueren hermeneutischen Klärung –, ist der apologetische Tenor des Buchs zu sehr hörbar. Und den Vorwurf historischer bzw. politischer Schuld mit literaturwissenschaftlichen Werkzeugen zu entkräften, ist eine nicht eben leichte Aufgabe. Anders gesagt: die Aufgabe ist falsch gestellt.

Eibl operiert mit dem Topos der „kalten Persona“, den der – vom Nationalsozialismus reell bedrohte – Romanist Werner Krauss prägte, um damit eine habituelle Überlebensstrategie zu determinieren. Die kalte Persona = Maske müsse sich aufsetzen, wer heimlich in Opposition sei, um nicht aufzufliegen.

Den Topos der „kalten Persona“ benutzte jüngst auch der Germanist Helmuth Lethen in seinem Buch Die Staatsräte, um das Verhalten vierer prominenter Vertreter des Bildungsbürgertums im „Dritten Reich“ zu entschlüsseln: Wilhelm Furtwängler, Ferdinand Sauerbruch, Gustaf Gründgens und Carl Schmitt.

Man geht nicht fehl, festzustellen, dass die Figur der „kalten Persona“ zu einer sinnvollen Hermeneutik widerständigen Handelns schlechterdings nichts taugt. Denn Widerstand entbirgt sich, wie das Wort schon sagt, im tätigen Widerstehen, nicht im theoretischen Denken. Eine kalte Persona dagegen braucht man nicht zum Widerstehen, sondern zum Überleben. Eine kalte Persona brauchte der kommunistische KZ-Häftling, brauchte der Arbeitshäftling in Treblinka vielmehr als etablierte, hochgeehrte und auch gut dotierte Herren, wie es Lethens vier Staatsräte und auch Hauptmann d. R. Jünger gewiss waren.

Die Wahrheit ist: there is no such thing as „ästhetischer Widerstand“, und Ernst Jünger war kein Widerständler. Die von Eibl in personaler Rede Jünger zugerechnete Haltung decouvriert die Nihilität von dessen „Widerständigkeit“ in entwaffnender Schlichtheit:

„Da mit den Nationalsozialisten ein Typus an die Macht gekommen ist, der die allgemeine Billigung der Bevölkerung  genießt, hat ein offenes Einschreiten keinen Sinn mehr. […] Ein solches entlarvt den Widerständler nur und führt im besten Fall zu erhöhter Überwachung, im schlimmsten Fall zur physischen Vernichtung.“

Na, zu was soll Widerstand denn sonst führen? Wenn ich mich nicht nassmachen will, dann kann ich auch nicht verlangen, dass mein Pelz sauber wird. „Nur durch geschickte Tarnung“, fährt Eibl fort, „ist ein Werk des Widerstands vor der eigenen Vernichtung gefeit.“ Nach dieser Logik wäre jeder SS-Funktionär, sich selbst, seinen eigentlichen Charakter geschickt tarnend durch fleißige Pflichterfüllung im Dienste des Führers, der ideale Widerständler gewesen.

Nun könnte man einwenden: niemand kann ex post von Jünger oder sonstwem einfordern, Widerstand geleistet zu haben. Seine Rolle hat er schließlich mit Millionen von Deutschen gemein, die vielleicht zwar ebenfalls weitgehend unbescholten durchs „Dritte Reich“ kamen, die aber auch keinen Widerstand leisteten. Nur: diesen Rückzugsweg schneiden sich Jünger-Apologeten wie Eibl ja selber ab, indem sie ihrem Heros eine Widerständigkeit imputieren, die den Namen nicht wert ist. Eibl will Jünger eine Ehre, die er und seinesgleichen ihm überhaupt erst antun, retten – und scheitert daran, muss daran scheitern. „Durch die Machtergreifung“, schreibt Eibl, sehe sich Jünger

„unversehens in eine Situation versetzt, in der es für den Einzelnen mehr denn je auf ritterliche Bewährung und heroischen Widerstand ankommt. Allerdings wird der ‚Verlorene Posten‘ für ihn nun nicht mehr auf dem Schlachtfeld, sondern zuhause, im Alltag des bürgerlichen Lebens und am Schreibtisch verteidigt.“

Je nun. Der ‚verlorene Posten‘ in einem Regime wie dem nationalsozialistischen war nicht die Literatur, sondern waren die allgemeinen Menschenrechte. Der verlorene Posten wäre nicht am Schreibtisch, auch nicht am Generalstabsschreibtisch zu verteidigen gewesen, sondern in Belzec, Sobibor, Treblinka. Der Historiker Stephan Malinowski hat vergangenes Jahr in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die harten, aber wohl wahren Worte gefunden:

„Dass die unaussprechlichen Großverbrechen, in denen das Offizierskorps weit mehr als nur Beobachter war, auch Gewissensfragen aufwarfen, erscheint selbstverständlich. Dass Tresckow, Schulenburg und Stauffenberg 1942 einen Staatsstreich zur Rettung der osteuropäischen Juden organisiert hätten, wenn Moskau gefallen und der Krieg gewonnen worden wäre, erscheint hingegen unwahrscheinlich.“

Man kann Eibls Jünger auf zwei Weisen lesen. In der einen Lesart erscheint er als ein Goethe des 20. Jahrhunderts, immer vom hohen, weltfremden Ross her lebend und schreibend, einen Lebensstil und eine „Freiheit“ verteidigend, die niemand je infrage gestellt hat, eine Heroik beschwörend, die nie gefordert war. Goethe wusste dies freilich. Goethe wusste, dass seine eigenen, zarten Lebenskämpfe im Vergleich zu denen eines Friedrich Schiller ein Witz waren. Wusste aber Jünger, dass auf Joseph Roth, der selber ganz schöne, aber ganz andere Rittmeisterprosa geschrieben hat, der Tod in einer Konservenbüchse in Sobibor gewartet hätte, hätte er sich nicht rechtzeitig in Paris totgesoffen? Wusste Jünger von der Verzweiflung, in der ein Walter Benjamin, schon den rettenden Hafen vor Augen, seinem Leben, das er nicht in ewiger Flucht zubringen wollte, ein Ende setzte? Wusste er von den Dutzenden jüdischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die in Lagern, Gaskammern und Erschießungsstätten elendiglich verreckten? Lebenskampf, heroische Bewährung: ja, das gibt es, das ist real, gestern und auch heute. Aber ein Ernst Jünger konnte davon nur fabulieren. Ob ihm das – wie Exzellenz Goethe, der wohl wusste, dass sein behütetes Leben nur ein „Auf-den-Hund-Kommen“ war – bewusst war, steht dahin; dass aber Eibl ihm und uns diese Behütetheit zur Heldengeschichte umbiegen will, ist ein Ärgernis.

Jüngers Ästhetik mag sehr wohl dem „Kampf des souveränen, nach höheren Werten strebenden Einzelnen gegen die nihilistischen Strömungen der eigenen Zeit“ gegolten haben. Nur, wer – Marion Dönhoff tat dies im Übrigen auch – Dingen wie Baby Jar oder Treblinka oder auch nur der Köpenicker Blutwoche und Buchenwald mit „Nihilismus“ beizukommen sucht, der hat nichts verstanden, er heiße Ernst Jünger oder Albert Eibl. Und, um neben dem Abenteuerlichen Herzen Eibls andere Lieblingsreferenz, den philosophischen Essay Waldgang von 1951, zu bemühen: der Salonwiderständler Jünger war eben kein „Waldgänger“, so wenig wie der Holzwegwanderer Heidegger mit seinem Lehrstuhl und seinem Professorengehalt. Ein Waldgänger wäre Jünger vielleicht gewesen, wenn er 1942, den Pour-le-Mérite am Hals, das EK I am Rock, an einem Mikrophon der BBC in London der Welt von den deutschen Gräueltaten berichtet hätte. Thomas Mann hat es ihm vorgemacht.

Man kann Eibls Jünger aber auch anders lesen. In dieser zweiten Lesart entpuppt sich Jünger nicht als moderner Goethe, sondern als Corpsstudenten-Held. Auf dem Corpshaus beweist man Ästhetik beim Knotentanz, und Heroik höchstens beim Stafettensaufen. Weil aber im geschlossenen Kreis niemand widerspricht, verkauft man das Ganze als „Stil“ und „Wertebewusstsein“. Der einzige Wert, dessen man sich in diesen Kreisen freilich wirklich bewusst ist, ist das eigene Fortkommen, das eigene Überleben. Da dies aber, verständlicherweise, zu wenig für eine Heldensaga abgibt, verbrämt man das Ganze zur Charaktererziehung. In Wahrheit ist es eine Erziehung eben zur „kalten Persona“, und zwar meist so sehr, dass hinter lauter Persona ein Charakter nur noch schemenhaft zu vermuten ist.

Jüngers Ideal, schreibt der Literaturwissenschaftler Eibl, sei die „Figur des bedeutenden Einzelnen, der sich von keiner irdischen Macht vereinnahmen lässt, weil er den höchsten Wert des Lebens in der Würde erkennt, eine freie und unabhängige Existenz zu führen“. Nun wird Jünger dieses Ideal mit wahrscheinlich jedem Schriftsteller und jeder Schriftstellerin in der Literaturgeschichte gemein haben. Auch dass er, wie Eibl nahelegt, versucht habe, diesem Ideal nachzuleben, ist glaubhaft (und wieder wenig überraschend – welcher Schriftsteller hält sich nicht für etwas Besonderes?). Nur: wer diesen Maßstab so explizit und radikal anlegt wie Eibl an Jünger, der muss auch eine radikale Prüfung erwarten. Und bei dieser Prüfung fällt Jünger, der die „Abenteuer“ seines Lebens seltsam distanziert und unempathisch, ungebrochen und entspannt (sic) erlebte, durch. Da, wo er hätte bestehen können – nicht im Schützengraben 14/18, einem Schicksal, das er nolens volens mit Millionen teilte, sondern im Zivilisationsbruch 33/45, als er Teil der deutschen Elite war –, fiel er durch.

Beglaubigt wird dies in bizarrer Weise durch ein Goebbels-Zitat, das Eibl (wie viele Jünger-Apologeten) zum Beweis für Jüngers Widerständigkeit aufbietet, nicht wissend (oder sehend), dass er gerade mit diesem Zitat seinem Idol das Genick bricht. In sein Tagebuch notiert der Propagandaminister am 21.11.41: „Ernst Jünger hat sich vollkommen in eine unfruchtbare Philosophasterei eingesponnen.“ – „Unfruchtbar“ – das trifft es allerdings, sofern man, wie Eibl, in „geschickter Tarnung“, „verdeckter Schreibweise“ und „camouflierter Regimekritik“ ein Werk des Widerstands erkennen möchte.

Man fühlt sich bei der Lektüre von Eibls Arbeit wie in einem jener ästhetisch sehr gelungenen und zugleich herausfordernd naiven „Offiziersfilme“ der Fünfzigerjahre, gedreht von Regisseuren wie Frank Wisbar, Alfred Weidenmann, Paul May oder Helmut Käutner. Vor allem Käutners Des Teufels General kommt einem in den Sinn: lauter schöne, elegante Herren in schönen, eleganten Uniformen, voll mit Orden, Ritterkreuzen mit und ohne Eichenlaub, Deutschen Kreuzen in Gold, Pour-le-Mérites, wie sie da stehen im Salon, den doppelten Cognac in der Hand, und mal weinerlich, mal schnarrend, immer pathetisch über den „Führer“, „Himmler“ und „die Katastrophe“ schimpfen. Natürlich – sie tragen ja nur die Röcke und Abzeichen und beziehen ja nur die Gehälter und Gehaltszuschläge des Regimes, das sie innerlich so sehr verabscheuen. – Wenn es nicht so ärgerlich wäre, wäre es einfach albern und weltfremd. Und so ein Kabinettstück der Romantisierung wie der General Harras des Curd Jürgens ist auch Eibls Romantisierung Ernst Jüngers.

Albert Eibl ist noch jung. Er führt den Verlag Das Vergessene Buch in Wien und hat dort gerade erst unter großem Medienecho den von ihm wiederentdeckten Roman Leben verboten der österreichisch-jüdischen Romancière Maria Lazar herausgebracht, die 1948 im schwedischen Exil starb. Ihn leiten sicher keine schlechten Absichten. Eher mag er dem, durchaus verständlichen, eigenen Wunsch auf den Leim gegangen sein, aus einem ästhetischen Vorbild auch ein menschlich-moralisches zu machen. Solche Wünsche kennt jeder Mensch. Sie sind dazu da, um auf sie hereinzufallen – und um anschließend von ihnen geheilt zu sein.

Albert Eibl: Der Waldgang des ‚Abenteuerlichen Herzens‘. Zu Ernst Jüngers Ästhetik des Widerstands im Schatten des Hakenkreuzes. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2020, 183 S., 36€.

Header: Ernst Jünger (li.) und Carl Schmitt in Rambouillet, Frankreich, nach 1940. Quelle: Deutsches Literaturarchiv Marbach

© Konstantin Johannes Sakkas, 2020

Es gibt keinen „atomaren Holocaust“

Über das problematische Gedenken an die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki vor 75 Jahren

Zu meinen frühesten historischen Bildungserlebnissen gehört die Lektüre einer Geschichte im Magazin SPIEGEL, es war wohl im Jahr 1995, zum 50. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki. Gierig las ich Zwölfjähriger über das Manhattan Projekt, Enrico Fermi und Robert Oppenheimer, die ersten Tests in Los Alamos, den Anflug der „Enola Gay“ auf Hiroshima, die Verbrannten und Verstrahlten, die horrende Zahl der Todesopfer. Bis heute erinnere ich mich an die bestürzten Worte, die der Copilot des Flugzeuges, Captain Robert A. Lewis, nach dem Abwurf der Bombe in sein Diktaphon gesprochen haben soll: „mein Gott, was haben wir getan.“

Wenige Jahre später stieß ich dann auf ein Zitat des SPIEGEL-Herausgebers Rudolf Augstein, worin er vom „atomaren Holocaust“ spricht. „Atomarer Holocaust“ war eine Phrase der Studenten- und dann der Antiatomkraftbewegung, wo sich bis heute Linke und Rechte gern zusammentun. „Atomarer Holocaust“ impliziert, dass ein mit Nuklearwaffen geführter Weltkrieg sehr wahrscheinlich die Menschheit auslöschen würde. Aber es impliziert auch eine Ähnlichkeit zwischen Hiroshima und dem, was wir Deutsche als Holocaust kennen. Und hierin sehe ich ein großes Problem. Denn der Holocaust ist ein Menschheitsverbrechen. Hiroshima dagegen ist höchstens ein Kriegsverbrechen – und vielleicht nicht einmal das.

Denn die Geschichte von den Hunderttausenden Toten von Hiroshima und Nagasaki und den nochmals Hunderttausenden Toten durch die Spätfolgen, etwa Krebs, ist eine. Die andere Geschichte sind Dinge wie die japanische Einheit 731, die 1941 dreitausend chinesische Kriegsgefangene mit Lebensmitteln beschenkte und sie dann propagandawirksam freiließ. Die Lebensmittel waren mit Typhuserregern kontaminiert. Dinge wie die Pestbakterien, die durch die Japaner in zahlreichen chinesischen Städten in Umlauf gebracht wurden. Dinge wie das genozidale Massaker von Nanking im Dezember 1937 oder das brutale Massaker in Manila beim Abzug von den Philippinen 1945. Dinge wie die ekelhaften, sadistischen Folterungen und Vergewaltigungen der chinesischen Zivilbevölkerung in der Mandschurei. Zitat: „Es war üblich, einer jungen Frau, nachdem sie von der Gruppe vergewaltigt worden war, eine Flasche in die Vagina zu stecken, und die Frau dann, indem man die Flasche in ihr zerstörte, zu töten.“

Als Colonel Tibbets und seine Crew am 6. August 1945 die Atombombe über Hiroshima abwarfen, befand sich das Japanische Kaiserreich mit den Staaten der Anti-Hitler-Koalition im Kriegszustand. Der Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung war und ist umstritten, war aber seit 1939 allseits geübter Brauch. Jeder Japaner und jede Japanerin mussten 1945 damit rechnen, Ziel eines alliierten Angriffs zu werden, ganz gleich ob durch konventionelle Waffen oder durch Uran. Im Juni 1945 hatte Japan die letzte große Schlacht des Krieges, die Schlacht um Okinawa, verloren. Japan war militärisch am Ende. Niemand hinderte das japanische Oberkommando daran, im Juli 1945 die bedingungslose Kapitulation zu erklären. Stattdessen aber erklärte Kaiser Hirohito, er sehe sich gezwungen, den Krieg bis zum Ende fortzuführen. 

Nicht die bösen Amerikaner haben Hiroshima und Nagasaki als Versuchsfeld für die Atombombe missbraucht. Vielleicht haben sie das auch. Vor allem aber hat die japanische Führung, die womöglich ohnehin über die Atombombe informiert war, den Amerikanern wissentlich und willentlich ihre Zivilbevölkerung als Schlachtopfer hingehalten. 

Nein, liebe Deutsche: Hiroshima ist nicht das Auschwitz der bösen Amis. Hiroshima hat Millionen Ostasiaten von der völkermörderischen japanischen Tyrannei befreit, so wie Millionen Europäer auch durch die Feuerstürme in Hamburg und Dresden von der deutschen Tyrannei befreit wurden. Wir sollten nicht die Tatsachen verdrehen. 

© Konstantin Johannes Sakkas, 2020

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