Die Causa Achille Mbembe

Die Kontroverse um Achille Mbembe nimmt kein Ende. Die einen werfen dem wohl einflussreichsten Postkolonialismus-Theoretiker der Gegenwart Nähe zu antisemitischen Positionen vor; die anderen sehen in Mbembes Äußerungen dagegen legitime Israelkritik und unterstellen wiederum seinen Gegnern verhohlenen Rassismus. Die wertvollen Erkenntnisse, die man von beiden Seiten mitnehmen könnte, gehen dabei unter.

Die Shoa als singuläres Ereignis, als das Menschheitsverbrechen katexochen: so ist es gängige Lehrmeinung in Deutschland, und das zu Recht. Denn niemals in der Geschichte, soweit wir zurückblicken können, wurde die Ermordung eines kompletten Teils der Bevölkerung vom Neugeborenen bis zum Greis aufgrund seiner vermeintlichen oder tatsächlichen Abstammung derart umfassend und rationell beschlossen, geplant und ins Werk gesetzt wie bei der Ermordung der europäischen Juden durch Hitler und das nationalsozialistische Deutschland.

Für die konkrete Gedenkkultur aber erweist sich der Topos der Singularität des Holocaust in mancher Hinsicht als Hypothek. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat hierauf jüngst hingewiesen, indem sie davor warnte, das Gedenken an den Holocaust unter dem Gesichtspunkt seiner Singularität drohe, „steril“ zu werden. Was meint Assmann damit?

Nun, bei „Holocaust“ denken wir heute meistens an „industriellen Massenmord“, an ideologisierte SS-Männer, die kaltblütig, und das meint eben auch: leidenschaftslos Millionen von Juden in Gaskammern ermordeten. Doch mit der gewaltvollen, brutalen, sadistischen Realität des Massenmordes hat diese Vorstellung rein gar nichts zu tun.

Da ist es auch wenig hilfreich, dass nach wie vor das Tagebuch der Anne Frank als Nonplusultra der schulischen Holocaustliteratur gilt. Anne Franks Tagebuch sagt zwar viel über die Judenverfolgung und auch viel über das Coming of Age eines frühreifen jungen Mädchens aus – aber nichts über die Shoa. Wer wissen will, was die Shoa war, der sollte nicht Anne Frank lesen, sondern die Berichte von Überlebenden der „Aktion Reinhard“: Chil Rajchman, Rudolf Reder, Jankiel Wiernik. Vieles davon steht kostenlos im Internet, anderes wurde seit Jahrzehnten nicht mehr aufgelegt – auf schulischen Curricula steht meines Wissens nichts davon.

Deshalb ist es meines Erachtens dringend geboten, die Shoa gewaltgeschichtlich zu kontextualisieren. So unterschiedliche Wissenschaftler wie Christian Gerlach und Timothy Snyder tun das bereits. Sie betonen zugleich die Brutalität des Mordens (und zwar nicht nur auf den Killing Fields der „Einsatzgruppen“, sondern auch und gerade in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhard“), und ebenso die Rolle, die der Holocaust im kolonialistisch-imperialistischen Gesamtprogramm der Deutschen spielte.

Das eine war nämlich der irrationale, metaphysisch aufgeladene Hass auf die Juden als vermeintliche Strippenzieher und Weltvergifter, also als singuläre geschichtliche Widersachermacht; das andere aber war ganz pragmatische „ethnische Flurbereinigung“ (so der Ausdruck der Nationalsozialisten), um Platz für deutsche Siedler zu schaffen. Und in der Hierarchie der zu beseitigenden Ansässigen in Osteuropa standen die Juden, die man nicht als Europäer ansah, eben ganz unten.

Auf der anderen Seite wirft die Debatte um Mbembe ein Schlaglicht auf die uralte unheilige Allianz zwischen linken und rechten Antiimperialisten und Antisemiten. Es gibt, gerade in Deutschland, gerade im Bürgertum, ein breites Spektrum von Menschen, die ihren Hass auf den Westen und auf unsere judäochristliche, humanistische Tradition hinter Palästinafolklore, Alnatura-Esoterik und Anti-USA-Demos verstecken. Damit knüpfen sie an linksgrüne Traditionen aus der Zeit der Studentenbewegung an, aber auch an den guten alten nazistischen Antiimperialismus. Die Reden Hitlers strotzen nur so vor Tiraden gegen die schlechte Behandlung der Inder, der Iren und der Kohlearbeiter durch die bösen britischen Kolonialherren und die hinter ihnen stehenden „jüdischen und nichtjüdischen Bankbarone“. Ja, linke Bewegungen und ihre akademischen Verästelungen etwa in Gestalt der Postcolonial Studies haben ein Antisemitismusproblem. Dieses Problem muss ebenso schonungslos adressiert werden wie die unselige schleichende Verbrämung der Shoa zum quasi körperlosen Menschheitsverbrechen durch die offizielle Gedenkkultur.

©️ Konstantin Johannes Sakkas, 2020

Corona ist nicht das Ende der EU

Dass die Corona-Pandemie ein historischer Einschnitt sei, ist inzwischen eine Binsenweisheit. Aber gefährdet sie auch den europäischen Zusammenhalt? Kündigt sie gar das Ende der Europäischen Union an? 

In seinem neuen Buch orakelt der europaskeptische bulgarische Intellektuelle Ivan Krastev, die Corona-Pandemie sei der Anfang vom Ende der EU. Grund hierfür sei der Mangel an innereuropäischer Solidarität: so habe das reiche Deutschland zu Beginn der Pandemie die Ausfuhr von Schutzmasken verboten, was unter anderem die vom Virus besonders getroffenen Italiener schwer enttäuscht habe.

Zur gleichen Zeit ergibt eine Umfrage, dass die Deutschen gute Beziehungen zu China inzwischen für genauso wichtig halten wie ein gutes Verhältnis zu den USA. Die Sympathiewerte der westlichen Ordnung sind am Bröckeln, so scheint es. Doch ist der Westen, ist die EU wirklich am Ende?

Noch bevor Krastevs neues Buch – es heißt „Ist heute schon morgen? – erscheint, haben Angela Merkel und Emmanuel Macron ein Hilfspaket für die besonders geschwächten EU-Mitgliedsstaaten angekündigt, in Höhe von 500 Milliarden Euro. Fünfhundert Milliarden Euro, eine halbe Billion. Diese Summe muss man sich erstmal auf der Zunge zergehen lassen. Sie straft all jene Lügen, die von mangelnder europäischer Solidarität sprechen.

Natürlich gibt es ein Missverhältnis zwischen den reichen und den weniger reichen EU-Mitgliedstaaten. Aber dieses Missverhältnis ist quasi naturgegeben. Die EU ist ein Miniatur-Imperium, und wie jedes Imperium funktioniert sie nach dem Nabe-Speiche-Prinzip: um ein starkes Zentrum schart sich eine mehr oder weniger fragile Peripherie, die von diesem Zentrum nach Bedarf gestützt wird. Aber noch nie in der Geschichte hatte die Peripherie etwas davon, wenn sich das Zentrum selber mutwillig schwächt. Solidarität lebt davon, dass ein Partner so stark ist, dass er es sich leisten kann, mit den anderen solidarisch zu sein. Jeder Familienverband funktioniert nach diesem Prinzip.

Die Europäische Union mit den USA als Bündnispartner hat dieses Prinzip perfektioniert. Das zeigt sich übrigens auch an den drei vorherigen großen Krisen: am Krieg gegen den Terror seit 2001, der Finanzkrise 2008 und der so genannten Flüchtlingskrise 2015. Der Krieg gegen den Terror, den viele zum Anlass nahmen, sich von den ungeliebten USA abzuwenden, wird in Wahrheit von Anfang an fast ausschließlich von den USA allein ausgefochten. Die Finanzkrise hat zwar vor allem die ärmeren EU-Mitgliedsstaaten hart getroffen; aber selbst in Griechenland konnte sie den Trend zum langfristigen Wachstum nicht umkehren. Als Halbgrieche weiß ich gut, wie das Land noch Anfang der Neunzigerjahre aussah. Die Flüchtlingskrise schließlich, die vor allem die osteuropäischen Staaten auf die Barrikaden brachte, wurde und wird zum überwiegenden Teil von Deutschland gestemmt, dem reichsten Land Europas, das es sich leisten kann, einige Hunderttausend Geflüchtete zu integrieren.

Wir sollten aufhören, die EU schlechtzureden, und wir sollten aufhören, die westliche Ordnung schlechtzureden. Und auch wenn die USA gerade von einem halbverrückten Präsidenten regiert werden, so hat sich dieser Präsident doch immerhin klar gegen den neuen chinesischen Imperialismus positioniert, der mit seiner Seidenstraßeninitiative unaufhaltsam Richtung Westen drängt. Corona ist nicht der Untergang Europas, im Gegenteil. Corona hat gezeigt, zu welcher Solidarität Europa und zu welcher Solidarität vor allem das reiche Deutschland fähig ist. Ja, Corona hat uns die menschliche Vergänglichkeit in fast vergessener Radikalität wieder vor Augen geführt; aber Corona führt uns, wie schon die vorangegangenen Krisen, auch die Resilienz unserer europäischen und der westlichen Ordnung vor Augen; und das sollten wir nicht leichtfertig ignorieren, weder in noch außerhalb Deutschlands.

 

© Konstantin Johannes Sakkas, 2020

Für eine Scientocracy                       

Ein Gespenst geht in um in Deutschland: das Gespenst der Scientocracy. Wir würden, heißt es, inzwischen von Virologen regiert, die Pressekonferenzen des Robert-Koch-Instituts seien die neuen Regierungserklärungen, die Macht in Deutschland habe die Wissenschaft übernommen.

Doch ist eine Scientocracy wirklich so schlimm? Wissenschaftler, ob Natur- oder Geisteswissenschaftler, sind gewohnt, objektiv zu denken. Ihre Leitkategorie ist nicht der persönliche Nutzen, sondern die Wahrheit. Wer eine Laufbahn in der Wissenschaft einschlägt, tut das nicht primär, um reich und mächtig zu werden; sondern um die Menschheit voranzubringen. Natürlich kann man auf diesem Weg auch Klinikdirektor oder Institutsleiter werden, aber das ist nur ein Nebeneffekt. Dem Wissenschaftler geht es je um die Menschheit, um die Gesellschaft, um das große Ganze.

Damit steht der Wissenschaftler in natürlicher Opposition zum Wirtschaftsbürger. Das Wirtschaftsbürgertum ist der genuine Treiber des Kapitalismus, vom internationalen Großkonzern bis zur Würstchenbude. Der ständige, idealerweise regellose, oftmals rücksichtslose Wettbewerb um persönlichen Vorteil ist sein Lebenselixier.

Das ist nicht illegitim, denn ohne Wettbewerb käme die menschheitliche Entwicklung zum Stillstand; Deutschland kommt auch deshalb so gut durch die Corona-Krise, weil es ein starkes und gesundes kapitalistisches Wirtschaftsleben hat. Aber Wettbewerb ist nicht alles. In der Wissenschaft ist persönlicher Ehrgeiz idealerweise immer nur Mittel zum Zweck: die Ware, die der Wissenschaftler verkauft, ist immer ein höheres Gesetz, entweder ein Naturgesetz oder eine philosophische Maxime. Das Gleichheitsprinzip ist jeder Wissenschaft und jedem wissenschaftlichen Arbeiten von Grund auf eingeschrieben.

Wie wertvoll wissenschaftliches Denken ist, merken viele erst jetzt, in der Krise. Wirtschaftsunternehmen sind auf einmal gezwungen, gemeinwohlorientiert zu arbeiten, und stellen ihre Produktion auf Atemschutzmasken und Beatmungsgeräte um. Der Staat hat gigantische Soforthilfeprogramme ins Leben gerufen, die de facto nach dem Prinzip des bedingungslosen Grundeinkommens funktionieren. Fußballmillionäre verzichten auf Gehalt. Der Egoismus in der Gesellschaft, der uns jahrzehntelang als das Höchste der Dinge verkauft wurde, geht spürbar zurück.

Die Unkenrufe, die vor einer Scientocracy warnen, kommen wenig überraschend aus der Ecke des Wirtschaftsbürgertums – aus der berechtigten Angst vor der Einschränkung von Freiheitsrechten; aber auch aus einem tiefsitzenden Komplex des Wirtschaftsbürgertums gegenüber der intellektuell hochnäsigen, aber weltfremden Wissenschaft, die von der egoistischen Welt des Geldverdienens und der ausgefahrenen Ellenbogen nichts verstünde.

Doch jetzt ist eben nicht die Zeit der ausgefahrenen Ellenbogen; jetzt ist die Zeit der Objektivität. Dabei geht es nicht um Gleichmacherei; die Welt der Wissenschaft ist selber höchst elitär. Und ja: die Wissenschaft war – und ist – in viele Ungerechtigkeiten und Verbrechen verstrickt; denken wir nur an die Medizin im Nationalsozialismus, an den Contergan-Skandal oder auch an Monsanto heute.

Aber: ihrem Wesen nach ist Wissenschaft um Gerechtigkeit und Wahrheit bemüht. Und eine Pandemie – und übrigens auch den Klimawandel – besiegt man nur mit wissenschaftlicher Wahrheit und mit politischer Gerechtigkeit. Der Egoismus des Einzelnen muss sich dem unterordnen. Und vielleicht erweist sich ja die Scientocracy der Virologen als Modell für die Zeit nach dem Virus: als Modell für eine Politik, die sich ihre Inspirationen nicht mehr von Lobbyverbänden holt, sondern von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

 

© Konstantin Johannes Sakkas, 2020

Der Mythos vom sauberen Holocaust

Lesedauer: 30 min

Triggerwarnung: Der nachfolgende Text enthält drastische Schilderungen der den Juden im Holocaust angetanen Gewalt.

„Ich habe aber auch keinen Zweifel darüber gelassen, dass, wenn die Völker Europas wieder nur als Aktienpakete dieser internationalen Geld- und Finanzverschwörer angesehen werden, dann auch jenes Volk mit zur Verantwortung gezogen werden wird, dass der eigentlich Schuldige an diesem mörderischen Ringen ist: Das Judentum! Ich habe weiter keinen darüber im Unklaren gelassen, dass dieses Mal nicht nur Millionen Kinder von Europäern der arischen Völker verhungern werden, nicht nur Millionen erwachsener Männer den Tod erleiden und nicht nur Hunderttausende an Frauen und Kindern in den Städten verbrannt und zu Tode bombardiert werden dürften, ohne dass der eigentlich Schuldige, wenn auch durch humanere Mittel, seine Schuld zu büßen hat.“

Diese Worte diktierte Adolf Hitler seiner Sekretärin Traudl Junge am 29. April 1945, einen Tag vor seinem Selbstmord im so genannten Führerbunker in Berlin, und sie haben eine erstaunliche Karriere gemacht. Noch 75 Jahre später nämlich herrscht insgeheim die Meinung vor, der Völkermord an den europäischen Juden sei zwar ein historisch einzigartiges Verbrechen – aber kein besonders grausames Ereignis gewesen.

Das Vernichtungslager als Ort, an dem man durch beflissene SS-Männer wie den ikonisch lächelnden „Todesengel“ Josef Mengele an der „Rampe“ bis zuletzt getäuscht und beinahe gewaltfrei und quasi durch „gutes Zureden“ in eine geräumige Gaskammer geleitet wurde, in der man dann nach wenigen Atemzügen starb: so hätte man es gern, und so wurde und wird es durch Film und Literatur teilweise suggeriert. Aber so war es nicht.

Zum populären Allgemeinwissen über den Holocaust insbesondere in Deutschland gehört seit Jahren der Topos, dass in den Vernichtungslagern vor den Gaskammern Schilder angebracht gewesen seien, auf denen sinngemäß zu lesen gewesen sei, „nach dem Duschen gibt es Kaffee und Kuchen“. Etwa die Literaturverfilmung Aus einem deutschen Leben von Theodor Kotulla mit Götz George in der Hauptrolle aus dem Jahr 1977 zitiert diesen Topos („nach dem Duschen bekommen Sie alle einen halben Liter Kaffee“).

Der Satz mit dem Kaffee, den es nach der vermeintlichen Desinfektion in den Baderäumen, die sich dann als Gaskammern herausstellten, geben würde, ist historisch durchaus verbürgt. Hier liegt nicht das Problem. Das Problem liegt vielmehr darin, dass man erstens den ungeheuerlichen Sadismus, der bei den Massenmorden in den Vernichtungslagern die Regel war, im öffentlichen Gedächtnis immer noch weitgehend ignoriert; und dass man sich zweitens selbst noch nach der erinnerungskulturellen Zäsur von 1968 über das Ungeheuerliche der Massenvernichtung mit der klammheimlichen Selbstbeschwichtigung hinwegtröstet, dafür sei diese Massenvernichtung ja „human“ abgelaufen.

Doch diese Selbstbeschwichtigung ist eine Selbsttäuschung, die historisch nicht gedeckt ist. Sie wird zum Teil dadurch gefördert, dass die Massentötung von Juden durch Giftgas in Deutschland vor allem mit dem Namen Auschwitz verbunden ist, weniger mit den je nach Zählung bis zu sieben weiteren Vernichtungslagern. Für eine realistische Erinnerungskultur ist das in mehrerlei Hinsicht problematisch.

Erstens: Auschwitz war kein reines Vernichtungslager, sondern bestand aus drei Lagern: dem Stammlager Auschwitz I, dem Lagerkomplex Auschwitz-Monowitz und dem eigentlichen Vernichtungslager Auschwitz II, auch bekannt als Auschwitz-Birkenau. In Birkenau befanden sich die Gaskammern, dort fand der planmäßige Mord mit Zyklon B statt.

Zweitens: aus diesem Doppelstatus als Arbeits- und Vernichtungslager ergab sich, dass es zu Selektionen unter den neu ankommenden Juden kam, die es in den reinen Vernichtungslagern, von denen in diesem Beitrag hauptsächlich zu sprechen sein wird, dagegen nicht gab. Bei den Selektionen in Auschwitz, die durch einige millionenfach reproduzierte Fotografien zur erinnerungskulturellen Ikone wurden,  wurde bekanntlich nach arbeitsfähig und nicht-arbeitsfähig unterschieden; wer als arbeitsfähig „selektiert“ wurde, wurde offiziell ins Stammlager Auschwitz eingewiesen und bekam die berüchtigte Häftlingsnummer eintätowiert; die anderen, in der Regel Alte, Kinder und überdurchschnittlich viele Frauen, wurden, zumeist auf Lastwagen, nach Birkenau eskortiert, wo sie dann in die Gaskammern kamen.

Weil die Lager-SS in Auschwitz also wenigstens einen Teil der Ankömmlinge als Arbeitshäftlinge brauchte, war sie darauf angewiesen, dass es bei den Selektionen einigermaßen „ordentlich“ zuging; durch eine übermäßig brutale Behandlung der Nicht-Arbeitsfähigen, von denen ja klar war, dass man sie wenig später umbringen würde, hätte die SS – auch wenn es bei deren „Abfertigung“ erwiesenermaßen brutal zugehen konnte – bei den Arbeitsfähigen, die unter den Nicht-Arbeitsfähigen oftmals Verwandte und Freunde hatten, unnötig Unruhe ausgelöst, was zu unerwünschten Widerstandshandlungen direkt an der „Rampe“ hätte führen können. Man kann also davon ausgehen, dass die Täuschungsfassade bei der Ankunft in Auschwitz aufgrund der Selektionen relativ effizient aufrechterhalten wurde.

Drittens: Auschwitz war Anlaufstelle vor allem von süd- und westeuropäischen sowie der meisten deutschen Juden. Das ist der Hauptgrund, warum ausgerechnet Auschwitz zu einer erinnerungskulturellen Ikone wurde und Belzec, Sobibor und Treblinka, die Lager der so genannten Aktion Reinhard, nicht, und ebenso wenig die beiden weißrussischen Lager Maly Trostinez und Bronnaja Gora oder das Lager Majdanek bei Lublin, das wie Auschwitz sowohl Arbeits- als auch Vernichtungslager war, allerdings mit einer vermutlich weitaus geringeren Opferzahl als Auschwitz. Denn das Gedächtnis an den Holocaust in der westlichen Welt wurde und wird teils noch immer (2024) von der westlichen Geschichtsschreibung und Medienöffentlichkeit dominiert.

Die polnischen Juden, die hauptsächlich in der so genannten Aktion Reinhard zwischen März 1942 und November 1943 in den drei bereits genannten Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka ermordet wurden, hatten zu Beginn dieser Mordkampagne, also Anfang 1942, bereits mehr als zwei Jahre Gewalterfahrung hinter sich. Sie wussten oder ahnten, was sie bei ihrer finalen Deportation erwartete, so dass die Täter in ihrem Fall auf ausgeklügelte Täuschungsmanöver nicht durchgehend, aber vielfach verzichteten und sie von der „Verladung“ zur Deportation bis zu den letzten Schritten in Tötungsprozess durch Vergasen, Erschießung oder anderweitige Methoden ihre Unterlegenheit und ihr Ausgeliefertsein ausdrücklich und oft mit sadistischer Freude spüren ließen.

Erstens: Diese osteuropäischen Juden lebten seit Ende 1939 in Ghettos zusammengepfercht, die völlig überfüllt waren und in denen die sanitäre und die Versorgungslage von den Deutschen bewusst katastrophal gehalten war. Ein erheblicher Teil des durch das nationalsozialistische Deutschland ermordeten Juden – das vergisst man heute gerne – starb gar nicht durch direkte Gewalteinwirkung, sondern ist qualvoll in den Ghettos verhungert. Schon als im März 1942 die Transporte nach Belzec begannen – jüdische Insassen psychiatrischer Anstalten wurden im besetzten Polen schon seit 1939, also Kriegsbeginn, planmäßig ermordet –, konnten sich die polnischen Juden nur noch schwerlich Illusionen über das Ziel ihrer Reise machen.

Zweitens aber hatte sich 1942 nach einigen Monaten die Tatsache, dass, wie es im Jargon der NS-Bürokratie hieß, in speziellen Lagern in Ostpolen Juden „sonderuntergebracht“ wurden, in den Ghettos und Städten Polens weit herumgesprochen. Die polnischen Juden kamen in den so genannten Reinhard-Lagern an als Todgeweihte, und exakt so wurden sie nicht nur in den Lagern in Empfang genommen, sondern auch schon bei der Abfahrt behandelt.

Die Historikerin Sara Berger untersucht in ihrer einschlägigen Dissertation Experten der Vernichtung, die 2013 erschien, nicht nur die personellen und technischen Kontinuitäten zwischen der so genannten Euthanasie und der Aktion Reinhard, sondern gibt vor allem einen beklemmenden, realistischen Einblick in die Realität der Todeslager, die mit der geradezu romantischen Vorstellung, die sich der Volksmund gern von der Judenvernichtung macht, drastisch abweicht. Wir stützen uns im Folgenden neben einigen Primärquellen vor allem auf die Forschungsergebnisse Bergers.

In einem Vortrag, den sie 2018 vor Bundesoffizieren hielt, sagte Sara Berger einleitend:

„Vorab möchte ich gerne betonen, dass es sich bei den Lagern keineswegs um eine anonyme Vernichtungsmaschinerie gehandelt hat, die quasi ohne menschliche Kontakte zwischen Tätern und Opfern funktionierte und ohne Gewalt auskam. Die Ermordung in den drei Lagern war im Gegenteil ein äußerst gewaltsamer Vorgang, an dem alle Täter im Lager ausnahmslos beteiligt waren.“

„Die vorherigen Herrscher über Leben und Tod“ dagegen versuchten nach dem Krieg, so Berger in ihrem Buch, „den Massenmord als reines Fließbandverfahren, als perfekt funktionierende Todesmaschinerie ohne Gewalt darzustellen.“ Doch gewaltfrei war nicht einmal der Transport in die Todeslager. Der frühere polnische Seifenfabrikant Rudolf Reder, einer von nur zwei bekannten Überlebenden des Vernichtungslagers Belzec, das von März bis Dezember 1942 betrieben wurde, schildert in seinem Bericht aus Belzec die Prozedur der Verladung am Bahnhof von Lemberg:

„Um sechs Uhr morgens befahlen sie uns, aus dem feuchten Gras aufzustehen und Vierergruppen zu bilden, und die langen Reihen der Verdammten gingen zum Bahnhof Kleparów. Gestapo und Ukrainer umstanden uns in dichten Reihen. Keiner konnte entkommen. Sie drängten uns auf die Rampe des Bahnhofs. Ein langer Güterzug wartete schon an der Rampe. Es waren fünfzig Waggons. Sie begannen uns zu verladen. Die Türen der Güterwaggons waren geöffnet worden. Die Gestapoleute [gemeint ist SS; K.S.] standen an beiden Seiten der Türen – zwei an jeder Seite mit Peitschen in den Händen – und schlugen jeden, der einstieg, ins Gesicht und auf den Kopf. Die Gestapoleute schlugen ohne Ausnahme auf die Leute ein. Wir hatten alle Striemen im Gesicht und Beulen auf dem Kopf. Die Frauen schluchzten, die Kinder weinten und drückten sich an ihre Mütter. Unter uns waren auch Frauen mit Säuglingen. Als wir von der die Menschen rücksichtslos schlagenden Gestapo angetrieben wurden, stolperten wir übereinander. Der Einstieg war hoch, und die Menschen mussten heraufklettern und stießen sich gegenseitig weg – wir waren selbst in Eile, wir wollten es hinter uns bringen. Ein Gestapo-Mann mit einem Maschinengewehr saß auf dem Dach eines jeden Waggons. Die Gestapo schlug die Leute und ließ jeweils Hundert in einen Waggon. Es ging alles so schnell, dass es nicht länger als eine Stunde dauerte, um einige tausend Menschen zu verladen.“

Das Martyrium der Juden begann also bereits mit der Zugfahrt, und dies führt uns zu einem weiteren erinnerungskulturellen Topos, dem ikonischen „Viehwaggon“, worin die Deportierten transportiert wurden. Tatsächlich waren es aber nicht einmal Viehwaggons, sondern so genannte gedeckte Güterwagen, in denen vor allem die osteuropäischen Juden in den Tod gefahren wurden. Schon die Standards für den Transport von Tieren wurden hierbei nicht eingehalten, die Menschen wurden, wie in der deutschen Wikipedia zu lesen ist, „wie Stückgut“ transportiert. Denn die Waggons waren in der Regel hoffnungslos überfüllt. Die Menschen saßen nicht, sondern standen, und das oft über mehrere Tage hinweg und wie aneinandergeklebt, sie mussten ihre Notdurft im Waggon verrichten und waren auf den von ihnen mitgebrachten Proviant angewiesen. Zivilisten, die ihnen bei Zwischenhalten Nahrung reichen wollten, wurden durch die Begleitmannschaften in der Regel mit Gewalt abgewiesen. Angehörige der Begleitmannschaft, die mit Wasser Schwarzhandel trieben, verlangten dafür entweder horrende Preise, oder aber nahmen den Deportierten erst Geld und Wertsachen ab, lieferten dann aber nicht das versprochene Wasser.

Die Deportationszüge fuhren mit erheblich gedrosselter Geschwindigkeit. Zum einen wegen ihrer Überladung, zum anderen wegen der häufigen Stopps. Denn der Holocaust war, wie der Historiker Christian Gerlach zu Recht betont, nicht nur Produkt eines irrationalen Nihilismus, sondern zugleich pragmatisch kalkuliert. Material- und Soldatentransporte der Wehrmacht hatten absoluten Vorrang vor den Todeszügen, so dass man schon für wenige hundert Kilometer mehrere Tage brauchen konnte. Das alles im Güterwagen, stehend beziehungsweise kauernd, bei Frost und bei Hitze, und mangelhaft oder gar nicht verpflegt. Dass eine Fahrt unter solcherlei Umständen von vielen Juden zutreffend als Fahrt in den eigenen Tod entschlüsselt wurde, zeigt sich daran, dass es auf fast allen Transporten Passagiere gab, die versuchten, aus dem fahrenden Zug zu fliehen, indem sie die Bodenverkleidung herausrissen und hinaussprangen. Die meisten von ihnen starben dabei oder wurden von den Begleitmannschaften erschossen, einigen wenigen gelang so die Flucht aus dem Zug, die freilich noch längst nicht die endgültige Rettung bedeuten sollte. Viele wurden wieder „eingefangen“ und ein weiteres Mal deportiert.

Wenn dann ein Deportationszug endlich seinen Bestimmungsort endlich erreicht hatte, so hieß das noch lange nicht, dass er auch sofort „abgefertigt“ wurde. Kam ein Zug nach Dienstschluss an, so ließ man ihn vor dem Lagertor warten und begann erst mit Schichtbeginn am kommenden Morgen mit der so genannten „Abfertigung“. Die Menschen, die einem Deportationszug entstiegen, waren schon bei der Ankunft mehr tot als lebendig – wenn sie nicht tatsächlich bereits gestorben waren.

Der SS-Obersturmführer Kurt Gerstein, ein Mitglied der Bekennenden Kirche, das sich nach eigener, nicht unumstrittener Aussage gleichsam in die SS eingeschlichen hatte, um das Böse von innen kennenzulernen und später davon Zeugnis abzulegen, hat nämlich in einer als Gerstein-Bericht bekanntgewordenen Niederschrift aus der unmittelbaren Nachkriegszeit beschrieben, wie man sich die Ankunft eines Deportationszuges ungefähr vorzustellen habe:

„Am anderen Morgen kurz vor sieben kündigt man mir an: In zehn Minuten kommt der erste Transport! Tatsächlich kam nach einigen Minuten der erste Zug von Lemberg aus an. 45 Waggons mit 6.700 Menschen, von denen 1.450 schon tot waren bei ihrer Ankunft. Hinter den vergitterten Luken schauten, entsetzlich bleich und ängstlich, Kinder durch, die Augen voller Todesangst, ferner Männer und Frauen. Der Zug fährt ein: 200 Ukrainer reißen die Türen auf und peitschen die Leute mit ihren Lederpeitschen aus den Waggons heraus.“

Von 6.700 Deportierten waren bei Ankunft im Vernichtungslager also fast 1.500 schon tot, mithin fast ein Viertel. Und das war nicht alles. Bereits in den Neunzigerjahren hat Christopher Browning in seiner bekannt gewordenen Studie Ganz gewöhnliche Männer über das berüchtigte Ordnungspolizeibataillon 101 dargestellt, wie Männer ebendieses Bataillons bei der Abfahrt eines Transportes Chlorkalk in die Waggons beziehungsweise auf die bereits verladenen Menschen gestreut hätten, vorgeblich zur Desinfektion, tatsächlich aber wohl aus Sadismus. Als der Zug dann endlich am Ort seiner Bestimmung ankam, hatte sich ein Großteil der dort zusammengepferchten Juden grauenvolle Verätzungen zugezogen und war schon tot. Immer wieder gab es Züge, bei denen mehr als 50 Prozent der Deportierten bereits bei Ankunft tot waren; von einem Deportationszug aus Rumänien, der sieben Tage unterwegs war, ist bekannt, dass bei seiner Ankunft über 75 Prozent der Juden in ihm nicht mehr lebten.

Transporte in dieser Art und mit ähnlich hohen Todesraten gab es zwar aus allen Teilen Europas; die Regel aber waren sie eher in Ost- als in Westeuropa. Aus dem so genannten Altreich etwa wurden die Menschen häufig in Abteilwagen dritter Klasse transportiert; zur Tarnung nach außen, aber eben auch zur Beschwichtigung. In der Literatur ist mehrmals von Transporten großbürgerlicher Juden aus den Niederlanden nach Treblinka beziehungsweise Sobibor bekannt, die in im Personenzug mit Speisewagen stattfanden. Der Film Flucht aus Sobibor aus den Achtzigerjahren mit Rutger Hauer hat diese Episode popularisiert; sie dürfte authentisch sein, stellt aber eben eine Ausnahme dar.

Die Prozedur des Aussteigens hat ebenfalls Rudolf Reder, der als Angehöriger des so genannten Sonderkommandos nicht vergast wurde und späterhin bei einem Außeneinsatz fliehen konnte, beängstigend eindrücklich beschrieben:

„Und dann fand der „Empfang des Zuges“ statt. Einige Dutzend SS-Männer öffneten die Waggons und schrien „los!“. Sie schlugen die Menschen mit Peitschen und Gewehrkolben aus den Zügen. Die Türen der Waggons waren einen Meter über dem Boden, und alle, die hinausgetrieben wurden – Junge und Alte gleichermaßen, mussten herunter auf den Boden springen. Dabei brachen sie sich ihre Arme und Beine.“

Was dann kam, beschreibt Sara Berger am Beispiel der so genannten Frühphase des Lagers Treblinka, in dem am 23. Juli 1942 der erste Transport mit Warschauer Juden ermordet wurde, folgendermaßen:

„Die im Verhältnis zur Opferzahl – täglich durchschnittlich über 7.000 Menschen – defizitären Lagerstrukturen glichen die Männer durch die Ausübung von roher Gewalt aus: Um die Situation ohne Gefahr für das eigene Leben kontrollieren zu können, positionierten sich die – häufig betrunkenen – T4-Reinhard-Männer und die Wachmänner [gemeint sind die zumeist ukrainischen Hilfsmannschaften, K.S.] auf den Dächern der Baracken und schossen während der ‚Transportabfertigung‘ in die Menschenmenge.“

Wenngleich sich diese Zustände im Vernichtungslager Treblinka nach dem vorläufigen Zusammenbruch der Vernichtungsmaschinerie und der Ablösung des „überforderten“ ersten Lagerkommandanten Irmfried Eberl Ende August 1942 etwas milderten, so blieb doch die Behandlung der deportierten Juden von der Ankunft im Vernichtungslager bis zu ihrem letzten Atemzug von purer Gewalt geprägt. Ja, es gab Elemente der Täuschung, die aber rasch wieder konterkariert wurden. So wurde den Ankömmlingen gelegentlich eine Rede gehalten, in der ihnen suggeriert wurde, sie gingen jetzt baden, um anschließend zum Arbeitseinsatz zu kommen. Hierauf sollen die Juden manchmal applaudiert und „Danke“ gerufen haben. „Viele Menschen ließen sich jedoch“, so schreibt Sara Berger,

„auch durch den Verwesungsgeruch im Lager und durch Warnungen der im Lager beschäftigten ‚Arbeitsjuden‘, über das ihnen zugedachte Schicksal nicht mehr hinwegtäuschen. Aus diesem Grund wurde zunehmend auf die Ansprache verzichtet. Stattdessen wurden nur noch Anweisungen gegeben und rohe Gewalt angewandt, um Widerwillige zum Auskleiden zu zwingen.“

Sobald aber die Frauen zum Haareschneiden kamen, schlug die Stimmung vollends um. Chil Rajchman, der eine Zeit lang beim Friseurkommando im Vernichtungslager Treblinka eingesetzt war und beim legendären Aufstand des Sonderkommandos Anfang August 1943 fliehen konnte, beschreibt in seinen Erinnerungen Ich bin der letzte Jude – sie erschienen erst 2009, fünf Jahre nach seinem Tod, und sie zeitigten kaum mediale Resonanz –, wie auch den arglosesten jüdischen Frauen beim Haareschneiden schlagartig klar wurde, was mit ihnen geschehen würde.

Rajchmans Darstellung deckt sich mit der Rudolf Reders aus Belzec:

„Es war ein Moment der Hoffnung und der Täuschung. Für einen Moment atmeten die Menschen auf. Absolute Stille herrschte. Die ganze Menschenmenge ging schweigend weiter, die Männer direkt über den Platz zu einem Gebäude, auf dem in großen Buchstaben geschrieben stand: „Bade- und Inhalationsräume“. Die Frauen gingen einige zwanzig Meter weiter zu einer großen Baracke (30×15 Meter). Den Frauen und Mädchen wurde in diesen Baracken das Haar abrasiert. Sie gingen hinein, ohne zu wissen, warum man sie hineingeführt hatte. Die Ruhe und die Stille dauerten noch eine Weile an. Nachträglich sah ich, dass ihnen nur einige Minuten später schlagartig alles klar wurde – als man ihnen Holzschemel gab und sie in den Baracken aufreihte, als man ihnen befahl, sich zu setzen und acht jüdische Friseure (Roboter, schweigend wie ein Grab) zu ihnen kamen, um ihr Haar bis zum Schädel abzurasieren. Keine von ihnen […] konnte[n] noch irgendwelche Zweifel haben. [… ] Plötzlich – ohne ein Zwischenstadium zwischen der Hoffnung und der absoluten Verzweiflung – hörte man Jammern und Kreischen. Viele Frauen wurden vom Wahnsinn gepackt.“

Anschließend kam der Gang durch einen eingezäunten Weg zur Gaskammer. Dieser Weg ist in der Literatur oft beschrieben worden, die SS selbst – so etwa Unterscharführer Franz Suchomel in seinem Interview mit Claude Lanzmann für dessen Dokumentarfilm Shoa –nannte ihn „Himmelfahrtsweg“ oder „Himmelfahrtsstraße“, im Lagerjargon hieß er schlicht „Schlauch“. Der Zaun war beidseitig durch dichtgesteckte grüne Zweige getarnt, was der Treblinka-Überlebende Richard Glazar, zum Anlass nahm, seine Erinnerungen Die Falle mit dem grünen Zaun zu betiteln. In Flucht aus Sobibor läuft einer der kindlichen Helden unter dem düster anschwellenden Ostinato der Filmmusik diesen Weg entlang, als er einem SS-Dienstgrad an der Gaskammer eine Botschaft zu überbringen hat. Die Juden liefen üblicherweise in Fünferreihen durch den Schlauch, während zu beiden Seiten SS-Leute und ukrainische so genannte „Hilfswillige“ mit Wachhunden postiert waren, die die Menge mit Schlägen, Peitschenhieben und Bajonettstichen zur Eile trieb.

Wie der Gang durch den „Schlauch“ zur Gaskammer ablief, beschreibt die Historikerin Berger am Beispiel von Belzec wie folgt:

„Häufig zögerten die Deportierten, durch den mit Stacheldraht begrenzten „Schlauch“ weiterzugehen, wurden dann aber durch die nachfolgenden Menschenmassen weitergedrängt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt schlug die Situation in Hektik und Gewalt um. SS-Männer […] sowie […] Zugwachmänner […] standen vor den Gaskammern, verhöhnten die verzweifelten Menschen, trieben sie mit Geschrei, Peitschen, Gewehren, Bajonetten und Prügeln die Stufen hoch in das Gebäude und verteilten sie auf die sechs Gaskammern. Versuchte jemand zu fliehen, wurde er auf der Stelle getötet.“

Noch eindrücklicher wird die Situation von Reder wiedergegeben, auf den sich Berger in ihrer fundierten Studie mehrfach bezieht:

„Während man die Frauen vorwärtstrieb, und sie nackt und rasiert wie Vieh zum Schlachter peitschte, ohne sie zu zählen, schneller, schneller – waren die Männer schon in den Kammern gestorben.“

Sofern die SS Männer und Frauen sowie Kinder getrennt vergaste, tötete sie zuerst die Männer. Umgekehrt hätte nämlich das Risiko bestanden, dass die Männer durch den vermuteten Tod ihrer Frauen und Kinder den Mut zu einer Verzweiflungstat gefasst und ihre Peiniger angegriffen hätten, um Rache zu üben. Mindestens ein solcher Verzweiflungsakt ist für das Lager Belzec für Ende 1942 überliefert. Wie schon bei den Einsatzgruppenmorden, wurden auch in den Reinhard-Lagern Frauen vor der Vergasung vergewaltigt. Sara Berger beschreibt zudem, wie Hochschwangere vor der Gaskammer „durch Tritte und Gewalt zum Gebären“ gezwungen wurden.

Reder fährt fort:

„Man brauchte etwa zwei Stunden, um die Frauen zu rasieren […] Einige Dutzend SS-Männer benutzten Peitschen und scharfe Bajonette, um die Frauen zu den Gebäuden mit den Kammern und die drei Stufen zu dem Korridor hoch zu treiben, in dem askars [so wurden die ukrainischen Hilfskräfte auch genannt] 750 Menschen für jede Kammer abzählten. Frauen, die sich sträubten hineinzugehen, wurden von den askars mit dem Bajonett in den Körper gestochen, das Blut floss […].“

Die Juden gingen schon deshalb nicht „wie die Schafe zur Schlachtbank“, weil sie körperlich in der Regel gar nicht mehr in der Lage zu effektivem Widerstand gewesen wären und weil dieser Widerstand durch ein Szenario blanker Gewalt und Brutalität im Vorhinein erstickt wurde. Nochmals Rudolf Reder:

„Die Männer wurden zuerst mit Bajonetten vorangetrieben, man stach auf sie ein, während sie zu den Gaskammern rannten. Die askars steckten 750 in jede Kammer. Bis alle sechs Kammer gefüllt waren, hatten die Menschen in der ersten schon zwei Stunden lang gelitten. Erst wenn alle sechs Kammern so dicht mit Menschen vollgepackt waren, dass man die Türen kaum schließen konnte, wurde der Motor angelassen.“

Die Ermordung der Juden war nicht human, wie die Vordenker des Holocaust das mehrmals schriftlich ventiliert hatten und wie es Hitler persönlich in seinem politischen Testament behauptete, sondern sie war ein einziges brutales und sadistisches In-die-Länge-ziehen des Sterbens, eine teuflisch ausgetüftelte Perversion des Sterbeprozesses. Was Reder berichtet, bestätigt der SS-Offizier Gerstein, von Rolf Hochhuth in seinem Drama Der Stellvertreter literarisiert, in seinem bereits zitierten Bericht:

„Eine Jüdin von etwa 40 Jahren, mit flammenden Augen, ruft das Blut, das hier vergossen wird, über die Mörder. Sie erhält 5 oder 6 Schläge mit der Reitpeitsche ins Gesicht vom Hauptmann Wirth persönlich, dann verschwindet auch sie in der Kammer. […] Die Kammern füllen sich. Gut vollpacken – so hat es der Hauptmann Wirth befohlen. Die Menschen stehen einander auf den Füßen. 700-800 auf 25 Quadratmetern, in 45 Kubikmetern! Die SS zwängt sie physisch zusammen, soweit es überhaupt geht. – Die Türen schließen sich. Währenddessen warten die anderen draußen im Freien, nackt. Man sagt mir: Auch im Winter genau so! Ja, aber sie können sich ja den Tod holen, sage ich. – Ja, grad for das sinn se ja doh! sagt mir ein SS-Mann darauf in seinem Platt.“

In den Lagern der Aktion Reinhard starben binnen eineinhalb Jahren geschätzt um die zwei Millionen Menschen. Nach Aussagen früherer Häftlinge, die in den so genannten Totenkommandos eingesetzt waren – also die Leichen aus den Gaskammern zerren und vergraben beziehungsweise späterhin verbrennen mussten –, wurden an manchen Tagen 20.000 Juden ermordet, manche sprechen sogar von 30.000. Der Tod in der Gaskammer kam dabei nicht schnell; auch dieser letzte Akt wurde von den Tätern qualvoll in die Länge gezogen. Wieder Kurt Gerstein:

„[…] Der Diesel funktioniert nicht! Der Hauptmann Wirth kommt. Man sieht, es ist ihm peinlich, dass das gerade heute passieren muss, wo ich hier bin. Jawohl, Ich sehe alles! Und ich warte. Meine Stoppuhr hat alles brav registriert. 50 Minuten, 70 Minuten [?] – der Diesel springt nicht an! Die Menschen warten in ihren Gaskammern. Vergeblich! Man hört sie weinen, schluchzen … Der Hauptmann Wirth schlägt mit seiner Reitpeitsche den Ukrainer, der dem Unterscharführer Hackenholt beim Diesel helfen soll, 12, 13 mal ins Gesicht. Nach zwei Stunden 49 Minuten – die Stoppuhr hat alles wohl registriert – springt der Diesel an. Bis zu diesem Augenblick leben die Menschen in diesen 4 Kammern, viermal 750 Menschen in 4 mal 45 Kubikmetern! – Von neuem verstreichen 25 Minuten. Richtig, viele sind jetzt tot. Man sieht das durch das kleine Fensterchen, in dem das elektrische Licht die Kammern einen Augenblick beleuchtet. Nach 28 Minuten leben nur noch wenige. Endlich, nach 32 Minuten, ist alles tot!“

Insgesamt 3 Stunden 21 Minuten dauerte es also, bis diese dreitausend Juden tot waren. Allerdings standen manche von ihnen nicht nur diese drei Stunden, sondern noch länger in ihrer „Kammer“, denn der Benzinmotor, mit dessen Abgasen die Juden getötet wurden, wurde natürlich erst angelassen, als alle Kammern belegt waren. Wer also mit in die erste Gaskammer gegangen war, der musste das Füllen aller Kammern, den anschließenden Motorschaden und schließlich das Wirken des Gases selbst abwarten, bis endlich der Tod eintrat, insgesamt wohl deutlich über vier Stunden.

Selbst hier müssen wir noch bedenken, dass ein Deportationszug mit sechzig Waggons sechstausend Menschen fassen konnte. Das bedeutet, dass die in diesem Fall restlichen dreitausend Opfer draußen vor dem Lager in ihren Güterwaggons warteten, bis sie „an der Reihe waren“. Im Ungewissen, natürlich, und ohne jede Versorgung durch Begleit- oder Lagermannschaft.

Dennoch: der Tod der Juden durch Motorenabgase, wie ihn Gerstein bei seinem Besuch in Belzec beschreibt, war noch nicht einmal das schlimmste Los, das die Juden in der Aktion Reinhard treffen konnte. Chil Rajchman beschreibt nämlich, was in Treblinka offenbar üblich war:

„An den Tagen, an denen die Herren durch das Vernichtungskommando in Lublin telefonisch unterrichtet wurden, dass am folgenden Tag kein Transport kommen würde, sperrten die Mörder die Menschen aus reinem Sadismus in den Gaskammern ein und ließen sie da, so dass sie aus Mangel an Luft den Erstickungstod starben. Einmal sind sie achtundvierzig Stunden so darin geblieben, und als die Klappen geöffnet wurden, röchelten einige und gaben noch Lebenszeichen von sich.“

Diese Schilderung wird von Rajchmans Kameraden Jankiel Wiernik, ebenfalls einem Treblinka-Überlebenden, bestätigt:

„Wie ich schon bemerkt habe, gab es nicht viel Platz in den Gaskammern. Die Menschen erstickten einfach durch die Überbelegung. Der Motor, der das Gas für die neuen Kammern erzeugte, funktionierte nicht richtig, und so mussten die hilflosen Opfer stundenlang leiden, bevor sie starben. Satan selbst hätte sich keine teuflischere Methode ausdenken können. Als man die Kammern wieder öffnete, waren viele der Opfer nur halbtot und mussten mit Gewehrkolben, durch Kugeln oder schwere Tritte getötet werden.  Häufig wurden Menschen die ganze Nacht in den Gaskammern gelassen, ohne den Motor anzustellen. Überbelegung und Luftmangel tötete viele von ihnen auf eine äußerst schmerzhafte Art. Jedoch überlebten viele diese nächtlichen Torturen – vor allem die Kinder waren auffallend widerstandsfähig. Sie waren noch am Leben, als man sie am Morgen aus den Kammern zog, aber die Deutschen machten mit Revolvern kurzen Prozess mit ihnen.“

Zehn-, vielleicht Hunderttausende wurden noch nicht einmal vergast – sondern man ließ sie, ihre Körper aneinandergeklebt, qualvoll und über Stunden hinweg ersticken, nachdem sie bereits Tage im engen, stickigen Güterwaggon zugebracht hatten. Wenn aber mit Gas getötet wurde, so kam es auch hier immer wieder zu Fällen, in denen Einzelne durch Bewusstlosigkeit die Vergasung überlebt hatten, draußen wieder zu sich kamen und dann kurzerhand erschossen wurden.

Wer aber nicht erschossen wurde, wurde lebendig begraben. Das galt für die Vergasten, aber auch für diejenigen, die zu schwach für den Gang zur Gaskammer waren und daher in allen drei Reinhard-Lagern ins so genannte Lazarett gebracht wurden, einer separaten, als Krankenstation getarnten Erschießungsgrube, an deren Rand sie gesetzt und dann erschossen wurden. „Nachschüsse“, so schreibt die Historikerin Berger, „wurden nicht abgegeben.“

Das Lebendigbegraben der Opfer war dabei kein Einzelfall. In der auf die Shoa umgedichteten Version des Male Rachamim, eines jüdischen Totengebetes, die durch den Spielfilm Der Garten der Finzi Continiweltbekannt wurde, wird ausdrücklich jener gedacht, „die lebendig begraben wurden für die Heiligung Deines Namens“. Chaim Hirszman, neben Reder der einzige andere Überlebende von Belzec, beschrieb kurz nach dem Krieg, wie Säuglinge und Kleinkinder eines Transports kurzerhand in eine große Grube geworfen und dann mit Erde bedeckt wurden; dass viele von ihnen noch am Leben waren, sah Hirszman daran, dass sie sich unter der Masse der Erde noch eine Zeitlang bewegten. Gas für sie zu verwenden, wäre, so das sadistische Kalkül der Mörder, Verschwendung gewesen. Sara Berger weist ausführlich nach, wie üblich es in allen Reinhard-Lagern war, Kleinkinder und Säuglinge direkt bei der Ankunft im Lager an den Beinen zu packen und ihre Köpfe oder Körper an einer Wand zu zerschmettern.

Selbst die eigentliche Vergasung in den Reinhard-Lagern war nicht schmerzlos, sondern qualvoll. Christian Wirth, ein äußerst sadistischer Polizeihauptmann, der von SS-Gruppenführer Odilo Globocnik, dem Koordinator der Aktion Reinhard, mit der Inspektion der Todeslager betraut worden war, ließ in diesen Lagern nur zu Anfang mit dem relativ schmerzfreien Kohlenmonoxid töten. Bald darauf ging er zu Benzinabgasen über, die die Lungen der Opfer unnötig reizten und, anders als reines Kohlenmonoxid, das Menschen bekanntlich quasi „einschlafen“ lässt, zu einem qualvollen Erstickungstod führten.

Der Prozess der Ermordung der europäischen Juden war eine von Anfang bis Ende durchchoreographierte Orgie der Gewalt, der besonderen, sinnlosen Erniedrigung, Demütigung und Quälerei. „In Treblinka eine Kugel zu bekommen, war ein Luxus“, zitiert der russische Romancier Wassili Grossman in seinem Bericht Die Hölle von Treblinka, der seit Jahrzehnten nicht auf Deutsch vorliegt, einen Augenzeugen. Das galt für die in den Vernichtungslagern eingesetzten jüdischen Arbeitskommandos, die, ebenfalls entgegen einer beliebten Legende, entsetzlicher Gewalt und Brutalität ausgesetzt waren; aber auch für die zur sofortigen Ermordung Bestimmten.

Dass der Tod im Gas nicht „human“ und keine „Gnade“ war, war den unmittelbaren Tätern im Übrigen glasklar, ebenso wie den zur Kollaboration gezwungenen Juden. In seiner bekannten Befragung durch die legendäre Holocaust-Forscherin Gitta Sereny aus dem Jahr 1971 schildert der zweite Kommandant von Treblinka, Franz Stangl, der im dritten Treblinka-Prozess 1970 vom Landgericht Düsseldorf zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, folgende Begebenheit.

„Aber am meisten habe ich mit dem Blau geredet, ihm und seiner Frau. Ihn hab ich zum Koch ernannt, im Arbeitslager. Er und seine Frau hatten eine Kammer, ein kleines Zimmer, neben der Küche. Der hat gewusst, ich würde immer helfen, wo ich konnte.

Eines Tages klopfte er in der Früh an die Tür von meinem Büro, kam herein, stand hab Acht und bat um Erlaubnis, mit mir zu sprechen. Er schaute sehr besorgt aus. Ich sagte: „Aber natürlich, Blau. Kommens herein. Was haben Sie denn auf dem Herzen?“ Er sagte, es war sein 80jähriger Vater; er sei diesen Morgen mit dem Transport angekommen. Könnte ich etwas tun? Ich hab gesagt: „Also, Blau, Sie müssen verstehen, das ist unmöglich. Ein Mann von achtzig.“ Er sagte schnell, ja, das verstehe er natürlich. Aber dürfte er mich um Erlaubnis bitten, seinen Vater ins Lazarett zu führen (wo die Opfer erschossen wurden) statt in die Gaskammer. Und könnte er seinen Vater erst in die Küche nehmen, um ihm etwas zu essen zu geben. Ich hab gesagt: „Ja, tuns, was Sie fürs Beste halten, Blau. Offiziell weiß ich nichts davon. Aber inoffiziell können Sie dem Kapo sagen, ich hab gesagt, es geht in Ordnung.“

Am Nachmittag, als ich in mein Büro zurückkam, war er schon wieder da und wartete auf mich. Er hatte Tränen in den Augen. Er stand hab Acht und sagte: „Herr Hauptsturmführer, ich wollt mich nur bedanken. Ich hab meinem Vater zu essen gegeben, und ich hab ihn gerad ins Lazarett geführt – es ist schon alles vorüber. Dank Ihnen vielmals.“ Ich hab gesagt: „Ja, Blau, da ist ja gar kein Grund, mir zu danken. Aber natürlich, wenn Sie mir danken wollen, dann können Sie es tun.““

Dass Stangl hier sein Verhältnis zum Oberkapo Blau, der der SS als Spitzel unter den „Arbeitsjuden“ diente und nach der Liquidierung von Treblinka angesichts seiner bevorstehenden Ermordung Selbstmord beging, unsäglich romantisiert und sich als paternaler Wohltäter gegenüber „seinen Arbeitsjuden“ inszeniert, hat schon Gitta Sereny empört und bedarf keiner besonderen Erörterung. Aber aufschlussreich ist die Passage allemal, denn sie zeigt, wie es in den so genannten Todesfabriken eigentlich zuging und dass ein SS-Führer, der einem jüdischen Greis eine Wohltat erweisen wollte, diesen statt in die Gaskammer ins so genannte Lazarett schickte, weil er ganz klar wusste, was den Juden auf dem Weg durch den „Schlauch“ und in der Gaskammer bevorstand und dass sie dort alles andere als ein leichter Tod erwartete. –

Die Ermordung der europäischen Juden durch das Deutsche Reich lässt sich grob in drei Etappen einteilen: die Einsatzgruppenmorde, auch bekannt als „Kugel-Holocaust“, die hauptsächlich zwischen Juni 1941, also dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, und Mitte 1942 stattfanden; der Aktion Reinhard 1942 und 43, der hauptsächlich, aber nicht ausschließlich die in Polen ghettoisierten Juden zum Opfer fielen, sofern diese nicht bei einzelnen Massenerschießungen, insbesondere im Baltikum, ermordet wurden; und dem Massenmord in Auschwitz, der Ende 1941 begann, seine dichteste Phase aber erst mit der so genannten Ungarnaktion 1944 erlebte, als fast vierhunderttausend ungarische Juden in wenigen Monaten dort vergast wurden. Die Verschleppung der deutschen und westeuropäischen Juden vollzog sich im großen Stil ab Anfang 1942; dabei kristallisierte sich, insbesondere aus logistischen Gründen, zwar bald Auschwitz als zentrale Anlaufstelle heraus; jedoch landeten auch viele westeuropäische Transporte in den Reinhard-Lagern, insbesondere in Sobibor und Treblinka.

Die Gesamtzahl der in Auschwitz ermordeten Juden wird von der Forschung auf etwa eine Million geschätzt, wobei die als Arbeitshäftlinge Umgekommenen mitgezählt werden. Während die Juden der sowjetischen Westgebiete zumeist durch die Einsatzgruppen erschossen und die polnischen Juden, wie gesagt, fast ausschließlich in den Reinhard-Lagern oder den diesen vorgeschalteten Durchgangslagern ermordet wurden – wenn sie nicht schon zuvor in den Ghettos oder beim Transport gestorben waren –, „landeten“ in Auschwitz vor allem jene Juden, die erst spät in den Zugriff des Reichssicherheitshauptamts kamen: etwa die italienischen Juden nach dem Seitenwechsel Italiens ab Oktober 1943 oder die griechischen Juden ab derselben Zeit, jene von den griechischen Inseln sogar erst Mitte 1944 sowie insbesondere die ungarischen Juden im Rahmen der so genannten Ungarn-Aktion zwischen Mitte Mai und Mitte Juli 1944, in deren Verlauf ca. 380.000 der etwa 430.000 nach Auschwitz verschleppten Juden unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurden. Sie kamen deshalb nach Auschwitz, weil zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung alle drei Reinhard-Lager bereits wieder geschlossen waren.

In Auschwitz wurde bekanntlich mit Zyklon B gemordet, das der Lagerführer des Stammlagers Auschwitz I, SS-Hauptsturmführer Karl Fritzsch, erstmals Ende 1941 an sowjetischen Kriegsgefangenen „erprobt“ hatte und das dann von seinem Vorgesetzten Rudolf Höß übernommen wurde. Höß selber beteuerte nach dem Krieg in polnischer Haft, er sei bei seinem Besuch in Treblinka im Sommer 1942 von der nackten Brutalität bei der so genannten Transportabfertigung so entsetzt gewesen, dass für ihn bei der Behandlung „seiner“ Deportierten in Auschwitz die „Täuschung“ der Opfer zur obersten Priorität geworden sei.

Diese Täuschung ist Höß tatsächlich gelungen, aber anders, als man denken mag. Denn die Nachwelt denkt, wenn sie das Wort „Vernichtungslager“ hört, fast ausschließlich an Auschwitz-Birkenau. Doch gerade Auschwitz, das so zum Inbegriff der Hölle wurde, nahm im System der Konzentrationslager und auch der Vernichtungslager eine Sonderstellung ein. In Auschwitz kamen zahlreiche bürgerliche Juden aus den Metropolen West- und Südeuropas an, in denen die SS-Offiziere bei der Selektion an der „Rampe“ manchmal Standesgenossen erkennen mochten. In Auschwitz lebten Zehntausende Arbeitshäftlinge, sehr viele von ihnen Nichtjuden, die teils eng in Kontakt mit dem „Vernichtungsbereich“ kamen.

In Auschwitz gab es keinen „Schlauch“, und in Auschwitz führte ein Kader altgedienter SS-Offiziere das Regime, die zwar in der Regel fanatische Nazis waren, die aber auch eine gewisse Disziplin unter ihren Männern aufrechterhalten wollten. Das Personal in den „Reinhard“-Lagern dagegen bestand – abgesehen vom Führungspersonal um Wirth, Stangl und einige andere – zum überwiegenden Teil aus Angehörigen des Kleinbürgertums und der Unterschicht, Krankenpflegern und „Leichenbrennern“ aus den Krankenmordanstalten der „Euthanasie“, denen man bei der Abstellung zur Judenvernichtung lediglich Nenn-Dienstgrade verliehen hatte und die hier, in bewusster Isolation vom Rest der Welt, ihre niedersten Triebe und Instinkte an den ihnen zur Ermordung Ausgelieferten hemmungslos austoben konnten und womöglich, und anderslautenden Äußerungen etwa Heinrich Himmlers zum Trotz, auch sollten.

Die heutige Filmindustrie hat kaum ein Tabu mehr offengelassen. Um eine explizite und realistische Darstellung des Todes in der Gaskammer macht sie dennoch einen großen Bogen. Das zeigt sich anhand dreier Filme jüngeren Datums, die am Versuch, den Tod in der Gaskammer realistisch auf die Leinwand zu bringen, gescheitert sind.

Son of Saul, der ungarische Low-Budget-Film von Laszlo Nemes, der 2016 mit dem „Fremdsprachen-Oscar“ ausgezeichnet wurde und den Aufstand des jüdischen Sonderkommandos vom Oktober 1944 schildert, zeigt zwar – stets aus dem Blickwinkel der Hauptfigur – das Innere einer Gaskammer nach einer Vergasung, deutet den Schmutz und das Chaos, die dort geherrscht haben müssen, dabei aber nur an. Ähnliches ist von The Grey Zone (2001) zu sagen, als ein Remake dessen Son of Saul stellenweise gelesen werden kann.

Werk ohne Autor, der dritte Film des deutschen Regisseurs Florian Henckel von Donnersmarck, der 2018 in die Kinos kam, bei der Oscarverleihung 2019 aber leer ausging, zeigt explizit, wie die Tante der Hauptfigur, bekanntlich eine Verschlüsselung des Malers Gerhard Richter, in einer Gaskammer der so genannten Euthanasieaktion durch Kohlenmonoxid stirbt. Richtig an der Darstellung ist, dass der Tod durch reines CO wesentlich schmerzloser ist als der durch Zyklon B oder gar durch Benzinabgase; auch war die Täuschung der Opfer bei diesen Morden, die im Reichsgebiet, quasi in Rufweite der Angehörigen und an überwiegend nicht-jüdischen Reichsbürgern verübt worden, ein unerlässlicher Faktor, musste man doch mit einer Öffentlichkeit rechnen. Aber dennoch waren auch die Kammern in den Euthanasieanstalten, wie ebenfalls Sara Berger gezeigt hat, oftmals heillos überfüllt, was, wie bei der Judenvernichtung, auch hier den Opfern die letzten Illusionen rauben musste: denn bei einer so dichten Raumbelegung ist an eine vernünftige Körperreinigung, wie sie von den Tätern suggeriert wurde, nicht zu denken; dass seine Reise hier zu Ende war, musste durch die unnatürliche räumliche Enge in den Gaskammern auch dem Letzten schlagartig klar werden.

Auch Sobibor, ein Film des russischen Regisseurs Konstantin Chabensky, ebenfalls aus dem Jahr 2018, vermittelt kein realistisches Bild von der Transportabfertigung und Vergasung in einem Vernichtungslager der Aktion Reinhard. Die Aussonderung einiger weniger Juden zum Dienst im Sonderkommando – eigentliche Selektionen wie in Auschwitz gab es in den Reinhard-Lagern bekanntlich nicht, ca. 97 Prozent eines Transportes wurden vergast –, das Auskleiden, der Gang in die Gaskammer, schließlich der Tod dort, wobei die Opfer genügend Platz haben, gepflegt umzufallen: all das vollzieht sich in diesem Film in einer Gesittetheit und Zivilität, die mit den tatsächlichen Vorgängen in Belzec, Sobibor und Treblinka und sicher auch in Auschwitz und in den Euthanasie-Tötungsanstalten wenig zu hat.

Der Tod im Holocaust war nicht steril noch human. Man musste nicht nur, wie Hochhuth seinen Doktor im Stellvertreter zynisch räsonieren lässt, „ein paarmal inhalieren“ und saß dann „zur Rechten Gottes“. Nein: das Sterben beziehungsweise das Gestorbenwerden in den Todesfabriken Hitlers war brutal, gewaltvoll, sadistisch und ekelhaft. Ukrainische Wachmänner sollen vor der Gaskammer von Belzec nackten jüdischen Frauen die Brüste abgeschnitten haben. Kleinkinder wurden beim „Befüllen“ der Gaskammern über die Köpfe der Erwachsenen hinweg in den Raum geworfen.

Ins öffentliche Gedächtnis ist davon, wie gesagt, wenig gedrungen. Der Demjanjuk-Prozess vor dem Landgericht, der die Identität eines jener ukrainischen Wachmänner klären sollte, die dem deutschen SS-Stammpersonal an sadistischem Einfallsreichtum häufig nicht nachstanden, warf vor rund zehn Jahren nochmals ein blasses Schlaglicht auf die Reinhard-Morde; Augenzeugenberichte, wie sie in diesem Beitrag mehrfach zitiert wurden, lagen oftmals schon bei Kriegsende, manche gar schon während des Krieges vor und wurden weltweit publiziert; die Fachliteratur hat das Thema intensiv ausgeleuchtet: dennoch – die Verdrängung des Grausamen, Barbarischen Sadistischen des Todes im Vernichtungslager war im Großen und Ganzen erfolgreich.

Dass es in den „Lagern der Nazis“, wie es gern verallgemeinernd heißt, brutal und menschenverachtend zuging, wird dabei nicht bestritten. Nur wird ein anderer Schwerpunkt gesetzt: man fokussiert sich auf die Zustände in den Arbeitslagern, Auschwitz I und Monowitz eingeschlossen: die Mangelernährung, das Unwesen der Kapos, die Lagerstrafen, Prügelbock und Hungerbunker, die Erschießungen an der berüchtigten „Schwarzen Wand“, Gewaltexzesse beim Verhör durch die Lager-Gestapo und ähnliches; geht es aber um die, „die gleich ermordet wurden“, überwiegt der unausgesprochene Eindruck, die hätten es noch „am besten erwischt“.

Dabei ist es umgekehrt: wer selektiert wurde, hatte eine Chance zu überleben, und war sie auch noch so gering; sein Leben hatte einen minimalen Wert behalten, auch für die Täter, denen es, wie Christian Gerlach gezeigt hat, nur sekundär um „Vernichtung durch Arbeit“, primär aber um das Erreichen ihrer wirtschaftlichen Ziele und um einen reibungslosen organisatorischen Ablauf ging, um derentwillen situativ sogar Rücksicht auf einzelne Häftlinge oder Häftlingsgruppen, darunter auch Jüdinnen und Juden, genommen werden konnte.

Wer aber zum Sterben bestimmt war, auf den brauchte man keinerlei Rücksichten mehr zu nehmen; er, nicht die „Arbeitsfähigen“, war das bevorzugte Objekt einer grenzenlos gewaltvollen, sadistischen Phantasie.

Dass der Holocaust sauber gewesen sei, ist eine Lüge, die seine Initiatoren gleich zu Anfang in die Welt setzten und die heute von vielen gutgläubig perpetuiert wird. Es bestehe, schrieb der SS-Offizier Rolf-Heinz Höppner an Adolf Eichmann am 16. Juli 1941, also in der Frühphase des Mords an den sowjetischen Juden,

„in diesem Winter die Gefahr, dass die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen.“

Zum Zeitpunkt des Briefes tobten seit kaum einem Monat die Einsatzgruppenmorde. Viele NS-Funktionäre, die in den neu eroberten Gebieten nun Statthalterposten innehatten, beschwerten sich über die Form der Massenerschießungen, die zwangsweise in der Öffentlichkeit stattfanden, und wünschten eine „diskretere Lösung“. Auf ihre Initiative griff man auf Vergasung als Methode zurück, die man schon von den Krankenmorden im Reich sowie in Polen kannte. Und so heißt es in dem Entwurf zu einem Brief an den „Reichskommissar für das Ostland“ (i.e. das Gebiet der 1941 eroberten drei baltischen Sowjetrepubliken) Hinrich Lohse, den der Amtsgerichtsrat im Reichsministerium für die Besetzten Ostgebiete Erhard Wetzel drei Monate nach Höppners Brief, am 25. Oktober 1941, konzipierte und der als „Gaskammerbrief“ bekannt geworden ist:

„Unter Bezugnahme auf mein Schreiben vom 18. Okt. 1941 teile ich Ihnen mit, dass sich Herr Oberdienstleiter Brack von der Kanzlei des Führers bereit erklärt hat, bei der Herstellung der erforderlichen Unterkünfte sowie der Vergasungsapparate mitzuwirken. […] Nach Sachlage bestehen keine Bedenken, wenn diejenigen Juden, die nicht arbeitsfähig sind, mit den Brackschen Hilfsmitteln beseitigt werden. Auf diese Weise dürften dann auch die Vorgänge, wie sie sich bei den Erschießungen der Juden in Wilna … ergeben haben, und die auch im Hinblick darauf, dass die Erschießungen öffentlich vorgenommen wurden, kaum gebilligt werden können, nicht mehr möglich sein.“

Was das aber für die Opfer bedeutete, wollte dieser Beitrag zeigen. „Humaner“ war der Tod im Vernichtungslager höchstens für die Mörder, nicht für die Opfer. Für die Opfer bedeutete er ein barbarisches Sterben oder vielmehr noch: ein Gestorbenwerden, wie der französische Philosoph Jean-François Lyotard in seinem Buch Le Différend 1983 argumentierte; ein Gestorbenwerden, weil dem Opfer noch die geringste Nuance seines Sterbeprozesses aus der Hand genommen und pervertiert und es so ganz zum Objekt des Willens seiner Mörder gemacht wird: sei es bei der unmenschlichen Hetze mit Schwertern und Bajonetten durch den „Schlauch“ hin zur Gaskammer; sei es beim erzwungenen Warten vor der Gaskammer nackt und bei eisigen Temperaturen im Winter, bei dem kleinen Kindern oft die Füße an der Erde festfroren; sei es beim „Tod durch Überbelegung“ in der Gaskammer, wo dem Opfer noch die letzte Gnade einer erlösenden Vergiftung verwehrt wird und es stattdessen an in die Länge gezogener Entkräftung langsam eingeht, verwesend bei atmendem Leib.

Das war der Holocaust für die meisten seiner Opfer, kein selbstbewusstes In-den-Tod-Gehen gereckten Hauptes. Von dieser letzten Legende Hitlers: dass die Ermordung der europäischen Juden durch „humane Mittel“ geschehen sei, einer Legende, die durch die beliebte technizistische Phrase vom „industriellen Massenmord“ leider noch befeuert wird, sollte sich die Nachwelt, wenigstens die deutsche, heute, fünfundsiebzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und dem Ende der Shoa, endgültig verabschieden.

© Konstantin Johannes Sakkas, 2019. All rights reserved. Header: Skulptur „Treblinka“ von Vadim Sidur, 1966, Standort: Amtsgerichtsplatz Berlin. Quelle: Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin/www.berlin.de 

Handball, ein Wintermärchen

Ein Nachwort zur Handball-WM 2019

 

Es ist vorbei, Deutschland ist im Halbfinale der Handball-WM im eigenen Land gegen Norwegen ausgeschieden. Dennoch hat das gute Abschneiden unserer Nationalmannschaft zu einem regelrechten Handballboom in der Berichterstattung geführt. Auf einmal fühlte sich alles und jeder bemüßigt, den Deutschen zu erklären, dass Handball nicht nur toll, sondern auch dem Nationalsport Fußball absolut überlegen sei.

 

Doch das ist blanker Unsinn. So schön unsere Erfolge bei der WM auch gewesen sein mögen – im Vergleich mit Fußball zieht Handball eindeutig den Kürzeren. Ja, ich wage zu behaupten: Handball ist eigentlich ein Antisport. Handball ist ein Sport für Nichtsportler. Auch deshalb war ausgerechnet das sonst nicht für Sportthemen bekannte Feuilleton voll mit Lobeshymnen auf den heimlichen Lieblingssport der Nerds.

 

Handball braucht kein Ballgefühl

 

Warum ich Handball für einen Anti-Sport halte, hat mehrere Gründe. Erstens: Handball ist nicht kunstvoll. Jeder, der zwei gesunde Hände hat, ist seit dem Säuglingsalter gewohnt, mit seinen Händen zu arbeiten, und zwar jeden Tag. Das Training kommt also quasi mit dem Alltag. Wir schreiben von Hand, wir tragen Dinge mit unseren Händen, wir lenken Fahrrad und Auto mit unseren Händen und vieles mehr. Handball erfordert also kein besonderes Ballgefühl, nicht einmal beim Erzielen von Toren, auch wenn sich dort im Ansatz so etwas wie Artistik und Eleganz zeigt. Das ist der große Unterschied zum Basketball, der viel Fingerspitzengefühl erfordert (aber paradoxerweise als Unterschichtensport verschrien ist, doch dazu gleich mehr).

 

Fußball hingegen ist nicht denkbar ohne Ballgefühl. Zwar gilt Fußball seit je als Proletensport. Das liegt aber weniger am Sport selbst, als an der Fankultur, die – eben – aus dem Proletariat des späten Neunzehnten Jahrhunderts hervorgegangen ist. Fußball war der erste genuine Sport der Unterklasse, wohingegen alle anderen Sportarten Produkte der europäischen Eliten seit dem 16. Jahrhundert waren. Deshalb sieht die Tribüne in Melbourne so anders aus als die Kurve auf Schalke.

Der Fußballsport selbst hingegen erfordert eine ungemein hohe Körperbeherrschung, vor der jeder, der ein bisschen Ahnung hat, den Hut ziehen muss. Jeder Depp kann lernen, einen melonengroßen Ball auf 20 Meter Entfernung mit den Händen zu werfen und zu fangen und damit dann ein paar Schritte zu laufen. Aber versuchen Sie, liebe Leser, einmal zuhause, einen Fußball über mehr als zehn Berührungen mit den Füßen über dem Boden zu halten? Sehen Sie, da fängt es schon an. Und wissen Sie, wo der Weltrekord im Fußballjonglieren liegt? Bei 55.198 Berührungen. Sie haben richtig gelesen. 55.198 Ballberührungen. Mit den Füßen, den Oberschenkeln, der Brust, dem Kopf. Aber nicht und niemals mit der Hand! Gehalten wird er übrigens von einer Frau, der Brasilianerin Milene Domingues, Ex-Fußballerin und Ex-Spielerfrau (von niemand Geringerem als dem brasilianischen Ronaldo). Von den teils zentimetergenauen Pässen, teils über 50 und mehr Meter hinweg, vom filigranen Kurzpassspiel (Tiki-Taka), von den tausend verschiedenen Arten, den Ball zu spielen (Spitze, Hacke, Innenrist, Außenrist etc.), rede ich gar nicht. Fußballer sind keine Proleten. Fußballer sind Künstler. (Disclaimer: Hier schreibt jemand, der seit seinem 9. Lebensjahr Klavier spielt und fürs Feuilleton arbeitet. Ich weiß sehr gut, wovon ich rede, wenn ich „Kunst“ sage.)

 

Handball ist kein harter Sport

 

Zweitens: Handball ist nicht hart. Wenn ich diesen Quatsch lese von wegen, Handballer würden nach Fouls gleich wieder aufstehen und nicht so viel „herumjammern“, Fußballer (Stichwort Neymar) dagegen schon, dann kann ich nur lachen. Dass Handballfouls weniger Theater nach sich ziehen, liegt schlicht und ergreifend daran, dass sie von Natur aus glimpflicher abgehen. Was wiederum in der Natur des Spiels liegt. Fußball wird – richtig – mit den Füßen gespielt. Haben Sie das Foul von Thomas Müller gegen Nicolas Tagliafico im Champions-League-Vorrundenspiel gegen Ajax Amsterdam gesehen? Richtig, er hat ihn gegen den Kopf getreten. Aber wir müssen gar nicht den notorischen Thomas Müller bemühen. Ein Tritt auf den Rist, die Wade oder gar das Sprunggelenk reicht vollkommen, um zu erfahren, was höllische Schmerzen sind. Beim Handball kann all das nicht passieren. Warum? Sie ahnen es – weil Handball mit den Händen gespielt wird. Handballer mögen resilienter sein, weil Handball einfach kein so aggressiver Sport ist wie Fußball. Handball hat nicht die Artistik des Fußballs – aber auch nicht die Härte des American Football.

 

Handball braucht keine Spielintelligenz

 

Drittens: Handball ist ausrechenbar. Das handballerische Spielprinzip ist denkbar simpel. Eine Unterscheidung der Mannschaftstypen nach Ballbesitz und Konter wie etwa beim Fußball gibt es hier im Grunde nicht. Im Wesentlichen führt jeder Angriff zu Tor oder wenigstens Torwurf. Ähnlich wie beim Basketball. So kommt es auch zu den relativ hohen und knappen Endständen. Fußball hingegen ist nicht vorhersehbar. Das liegt am viel größeren Spielfeld, an der Art des Spiels selbst und an tausend anderen Faktoren wie etwa Wetter und Bodenbeschaffenheit, die alle beim Handball ausfallen. Um Fußball auf Profiniveau zu spielen, bedarf es einer extrem hohen Spielintelligenz. Die zehn Feldspieler einer Mannschaft müssen sich wortwörtlich blind miteinander verstehen, sonst brauchen sie auf dem 100×70 Meter großen Spielfeld gar nicht erst aufzulaufen. Und dann müssen sie noch sauber schießen. Bitte bilden Sie sich bloß nicht ein, Leute wie Marco Reus oder Franck Ribéry seien nicht intelligent, nur weil sie sich manchmal wie Proleten verhalten. Fußball ist ein Hochleistungssport nicht nur für den Körper, sondern auch fürs Gehirn. Und Fußball ist eine Wundertüte. Fußball ist spannend bis zur letzten Minute. Im Fußball kann ein Underdog wie Hertha die einzigen beiden Chancen, die sie in einem Spiel haben, traumgerecht verwandeln, während ein Team wie Bayern München im selben Spiel sagenhafte 24 Schüsse aufs Berliner Tor einfach nicht versenkt bekommt. Beim Handball wäre das undenkbar.

 

Handball ist kein Leistungssport

 

Viertens: Handball ist kein Leistungssport. Das betrifft nicht nur die mangelnde Körperlichkeit (siehe oben), sondern auch die Fitness. Das Handballfeld ist viel zu klein, um Höchstleistungen abzurufen, und das Spielprinzip – Angriff gegen Angriff – macht die körperlichen Abläufe geregelt und vergleichsweise moderat. Es gibt kein weites Vorlegen und kein weitläufiges Abjagen des Balls. Im Profifußball hingegen werden regelmäßig Spitzengeschwindigkeiten von 35 km/h erreicht. Wissen Sie, was das bedeutet? Schauen Sie sich mal die Laufbänder in Ihrem Fitnessclub an. Die meisten regeln bei 24 km/h ab. Ein erfahrener männlicher Langstreckenläufer in meinem Alter hält Tempi über 18 km/h in der Regel nur wenige Minuten durch, unser Ausdauertempo (also auf eine Stunde Trainingsdauer und länger) liegt sehr deutlich darunter. Bei einem europäischen Erstligaspiel hingegen legen Spieler wie André Hahn oder Ousmane Dembélé Sprints mit 20, 25, 30, 35 km/h hin. Und zwar nicht einen, sondern mehrere pro Spiel, also verteilt über 90 Minuten. Solche Geschwindigkeiten werden im Handball schon deshalb nicht erreicht, weil sie dort völlig unnötig und unsinnig wären. Ein Fußballspiel ist nicht nur ein Mannschaftssportereignis, sondern auch ein High Intensity Interval Training. Es gibt zahllose hochtalentierte Freizeitkicker, bei denen eine Profikarriere brutal an der Fitness scheitern würde.

 

Das Handball-Wintermärchen: ein Märchen

 

Fazit: Handball ist nett. Handball ist easy. Auch ich habe gerne unsere Länderspiele geschaut, auch ich habe mich darüber gefreut, wie leidenschaftlich Christian Prokop und seine Jungs die Hymne singen, auch ich habe über unseren Last-Minute-Sieg gegen Frankreich gejubelt. Aber glauben Sie bitte nicht, was Feuilletonisten, die von Sport sichtlich keine Ahnung haben, Ihnen einzureden versuchen, nämlich was für ein toller, intelligenter und fordernder Sport Handball sei. Es ist nichts von alldem. Im Gegenteil: es ist der Sport der Unsportlichen, die die Handball-WM dazu benutzen, dem Rest der Welt weiszumachen, sie seien die wahrhaft Sportlichen. Das Handball-Wintermärchen 2019 war deshalb vor allem eines: ein Märchen.

 

Die Causa Özil ist in Wahrheit eine Causa Erdogan

Nicht türkischer Patriotismus, sondern der türkische Nationalismus ist das Problem

Lange habe ich gezögert, mich zur Causa Özil zu äußern. Denn gleich dreifach fühle ich mich durch sie persönlich angesprochen: als Fußballfan, der den Sport leidenschaftlich verfolgt. Als Deutscher, der durch den Komplex Rassismus und Ausländerfeindlichkeit in besonderer Weise historisch belastet ist. Und als Grieche, den ein spezielles Verhältnis mit dem Türkischen verbindet, das noch älter und tiefer ist als das deutsch-türkische Verhältnis.

Vorab: man muss Özils oft sehr zurückgenommene Selbstdarstellung auf und neben dem Spielfeld nicht mögen. Doch die Statistik spricht für sich: kein Mittelfeldspieler hat in den vergangenen Jahren in der deutschen Nationalelf so viele Torvorlagen geliefert wie Mesut Özil, und der Weltmeistertitel 2014 ist auch sein Verdienst. Bei einer solchen spielerischen Bilanz nachzutreten und ihm, wie es jüngst Uli Hoeneß tat, vorzuhalten, er habe zuletzt „nur einen Dreck gespielt“, ist unwürdig und schäbig – unabhängig davon, dass Özil bei seiner letzten WM in diesem Jahr tatsächlich versagte und, etwa im Südkoreaspiel, massenweise Chancen vergab. Ehre, wem Ehre gebührt.

Gegen Özil Patriotismus ist nichts einzuwenden

Etwas anders liegt die Sache beim leidigen Erdogan-Thema. Nun ist patriotisches Brimborium außerhalb Deutschlands nicht nur nicht ungewöhnlich, sondern gehört fest zur populären Kultur, so gut wie überall auf der Welt. Meine deutschamerikanischen Expartnerinnen mutierten gerne mal zu geradezu fanatischen US-Amerikanerinnen, denn das gehört sich nun mal. Ich selber habe meine erste Militärparade im Griechenlandurlaub in Athen erlebt: Mein Opa hatte mich mitgenommen, es war Anfang der Neunziger, und ich weiß heute noch, dass ich den Anblick der schier endlosen marschierenden Kolonnen, der aufgesessenen Artillerie und natürlich den Überflug der Luftwaffenformationen sehr genossen habe – auch wenn es heiß war und ich, wie alle Kinder, ellenlanges Herumlaufen und -stehen in der großstädtischen Sommerhitze eigentlich zutiefst hasste.

Und um schließlich nochmals auf die Fußball-Weltmeisterschaft zurückzukommen: wer sah, wie nach dem siegreichen Finale im Lushniki-Stadion der immer lustige, immer zu einem Scherz aufgelegte Antoine Griezmann vor seinem, kaum zehn Jahre älteren, Staatspräsidenten Emanuel Macron im strömenden Regen salutierte; wer anschließend Macron in der Kabine mit Pogba, Mbappé und Umtiti herumalbern sah, der wusste: dieser Sieg und diese Siegerehrung waren auch ein Akt der patriotischen Selbstvergewisserung eines Landes, das sich längst in einer wirtschaftlichen und auch politischen Krise befindet. Dieser Patriotismus aber ist nichts Dogmatisches oder gar Gewaltvolles, sondern etwas Spielerisches, quasi ein Rollenspiel mit der eigenen nationellen Identität, hilfreich eben bei der existenziellen Selbstvergewisserung, aber mehr auch nicht.

Gegen den patriotischen Gehalt in Özils Inszenierung mit Erdogan mitsamt einem zum Teil reichlich altmodischen Gepräge („hochachtungsvoll, für meinen Präsidenten“) ist also aus meiner Sicht nichts einzuwenden. Auch ich bin gerne Deutscher – und fühle dennoch in bestimmten Momenten sehr stark und sehr pathetisch den griechischen Anteil in mir. Das macht mich nicht weniger loyal gegenüber Deutschland.

Erdogan führt in Syrien einen lupenreinen Angriffskrieg

Problematisch aber ist hier die Figur Erdogans, und das heißt: die Figur, zu der er durch sein politisches Handeln in den vergangenen Jahren geworden ist. Erdogan führt in Syrien einen lupenreinen Angriffskrieg, der sich als Krisenintervention tarnt. Die Einnahme Afrins durch türkische Soldaten ist ein völkerrechtswidriger Akt, der indessen von der Weltgemeinschaft bislang nahezu widerspruchslos hingenommen wird. Die Gefangennahme und Inhaftierung Deniz Yücels war ebenso ein Rechtsbruch und mit den Normen des internationalen politischen Liberalismus nicht in Einklang zu bringen. Daran ändert auch nichts, dass sie womöglich als Retourkutsche für das abscheuliche so genannte „Schmähgedicht“ von Jan Böhmermann aus dem Jahr 2016 gedacht war, dessen Inhalt und Aussage sich bekanntlich Yücels Arbeitgeber, Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner, coram publico„zu eigen gemacht“ hatte. Einen Journalisten wie Yücel, der einfach nur seien Job macht, dafür durch Einzelhaft büßen zu lassen, wäre derart Ausdruck eines vordemokratischen, autokratischen Politikverständnisses, dass er vielleicht in Game of Thrones passen würde, aber schwerlich ins Jahr 2018.

Man kann ein großer, mächtiger Staat sein, ohne Recht zu brechen, wenigstens nicht derart eklatant. Kein Journalist der New York Times, kein Mitarbeiter der BILD-Zeitung muss fürchten, im Gefängnis zu landen, wenn er oder sie Donald Trump oder Angela Merkel öffentlich kritisiert.

Erschwerend kommt im Fall Özil, der eigentlich ein Fall Erdogan ist, hinzu, dass sich Erdogan auf eine nationalistische Tradition stützen kann, die in seinem Land fester verankert ist als in vielen anderen modernen Gesellschaften. Wie das Deutsche Reich wurde das Osmanische Reich 1919 von den (westlichen) Siegermächten zerschlagen, doch anders als Deutschland hat der türkische Nationalismus und Expansionismus nie einen derart scharfen Dämpfer erhalten wie Deutschland schließlich 1945.

Seit 1974 hält die Türkei Nordzypern völkerrechtswidrig besetzt

Das sieht man an der politischen Kultur wie an der (außen)politischen Praxis der Türkei gestern wie heute. Seit 1974 hält die türkische Armee das nördliche Drittel Zyperns besetzt – gegen das Völkerrecht und gegen den Willen der Weltgemeinschaft. Bis heute hat kein Staat, nicht die USA, nicht Russland, das türkische Protektorat über Nordzypern anerkannt. Bis heute kommt es beinahe im Wochentakt zu Verletzungen des griechischen Hoheitsgebiets in der Ägäis durch die türkische Luftwaffe, ohne spürbare Sanktionen. Und im Syrienkrieg schließlich sieht Erdogan seine Chance gekommen, sein Territorium zu arrondieren – scheinbar legitimiert durch die Rolle als geopolitische Ordnungsmacht, die die Westmächte der Türkei mangels Alternativen gelassen haben – 1923 im Vertrag von Lausanne und 1952 durch den – synchron mit Griechenland vollzogenen – Beitritt zur NATO.

Die Türkei müsse sich vergrößern, hieß es vor einiger Zeit in einem O-Ton aus einer türkischen Stadt, der in den deutschen Hauptnachrichten gesendet wurde. Hier stellt sich die Frage: wie vergrößern, und in welche Richtung? Waren wir da nicht schon weiter?

Das Problem ist nicht der Islam. Das Problem ist der türkische Nationalismus

Die Causa Özil wirft ein Schlaglicht auf einen gefährlichen türkischen Nationalismus, der seine Sprengkraft aus seiner Anachronizität gewinnt – gerade auch im Vergleich mit seinem geopolitischen Umfeld. Deutscher oder griechischer Patriotismus etwa ist – abgesehen von den paar Verrückten, die tatsächlich noch ernsthaft von der Rückholung Konstantinopels träumen oder immer noch den verlorenen Ostgebieten hinterhertrauern – nicht mehr als eine pittoreske, durchaus liebenswerte Allüre. Und in der arabischen Welt sieht es ähnlich aus. Die Syrer singen in ihrer Hymne von Assur und Harun Ar-Raschid, die Ägypter sind stolz auf die Pharaonen, die Mamelucken und Muhammad Ali (den Feldherrn, nicht den Boxer) – doch beide wissen sie, dass ihre großen Zeiten als Nationalstaaten längst vorbei sind. Lieber sehen sie sich als Araber und als Muslime – was, entgegen einem leider auch in Deutschland häufig anzutreffenden Vorurteil, zur Schaffung und Stärkung demokratischer Strukturen und auch zu einer gewissen weltanschaulichen Liberalität eher beiträgt als nationalistische Borniertheit. Sowohl dem Konzept der westernness als auch dem des Panarabismus wohnt ein bestimmter Universalismus inne, der ethnische und ideologische Grenzen durchbricht und nach innen und außen für Verständigung sorgen kann.

Anders aber sieht es mit dem türkischen Nationalismus aus, der mit einer unseligen Wagenburgmentalität einhergeht. Die offensive Vereinnahmung Özils durch Erdogan ist ein Instrument dieses Nationalismus. Er bewirkt nicht Verständigung und Ausgleich, sondern er verschärft Widersprüche und führt schlimmstenfalls zur Eskalation.

Was uns Hoffnung geben kann: viele Türkinnen und Türken sehen die Sache genauso. Auch unter ihnen sind viele ein anachronistisches autoritäres Regime leid und wünschen sich demokratische Reformen und eine Überwindung des Nationalismus, der nicht in unsere Zeit passt. Mesut Özil aber kann man nur bedauernd zurufen: nicht Dein Patriotismus als Türke war der Funke, der das Pulverfass zur Explosion brachte. Sondern die konkrete Person dieses Präsidenten, mit dem Du Dich öffentlich identifiziert hast, und die Politik, für die er steht.

© Konstantin Johannes Sakkas, 2018. Header. Messt Özil (.) und Recep Tayyip Erdogan, 2018. Quelle: http://www.zdf.de

 

Judentum, Islam und Orientalität

Die Juden sind nicht Speerspitze des Westens gegen den Orient, sondern Speerspitze des Orients in der westlichen Welt

 

Als Historiker setze ich mich quasi gezwungenermaßen mit dem „Dritten Reich“ und der Judenvernichtung auseinander. Ein Wort, das mich in zahllosen Dokumenten immer wieder anspringt, ist das Wort „orientalisch“. Viele SS-Täter verwenden es, wenn sie ihre Opfer beschreiben. So ist die Rede von „sehr schönen orientalischen“ Mädchen unter den Jüdinnen irgendeiner weißrussischen oder ukrainischen Stadt, die bei irgendeiner „Aktion“ einer Einsatzgruppe noch schnell vergewaltigt wurden, um dann doch wie alle anderen ermordet zu werden.

 

Der Antisemitismus ist ein Antiorientalismus

 

Der europäische Antisemitismus war bis 1945 ein dezidierter Antiorientalismus. Juden waren Orientalen, und Orientalen passten dreifach nicht ins weiße, nordische Europa: erstens: sie sahen anders aus, eben „orientalisch“. Zweitens: sie passten nicht in die Ständegesellschaft, denn etwas Vergleichbares wie die Einteilung der Menschheit in vererbten Adel und Nichtadel, die den Westen tausend Jahre lang geprägt hatte, gab und gibt es im Orient nicht. Drittens: sie hatten eine andere Religion.

 

Die Religion, bzw. der Glaube war dabei das am wenigsten Relevante. Die Juden wurden gehasst, weil sie, durchaus ähnlich wie die so genannten Parias in Indien, nicht einmal Dritter Stand, nicht einmal Bauern oder später Proletariat waren. Sie ließen sich keinem Stand zuordnen, was in einem Zeitalter, das jeden Menschen über seinen Stand definierte, so sicher zu Problemen führt wie nur irgendetwas. Und sie wurden gehasst, weil sie einen Einschlag in Haut- und Haarfarbe hatten, den man in einer Zeit, in der es keinen Massentourismus gab, nicht kannte. Dass sie zu JHWH und nicht zum „lieben Gott“ beteten: das war das Geringste der Probleme.

 

Für Alfred Rosenberg war das Christentum „syrisch“

 

Alfred Rosenberg, so genannter Chefideologe der NSDAP, bezeichnete das Christentum konsequent als „syrisch“. Für einen Nazi war der Mann ziemlich klug: er erkannte, dass der eigentliche Gegensatz nicht etwa der zwischen christlich und jüdisch war, sondern der zwischen „nordisch“ und orientalisch. Rosenberg und die deutschen Nationalsozialisten kämpften für das Nordische, für das Heidentum, für die weiße Haut: gegen das „Syrische“, das Orientalische, die dunkle Haut; und dazu gehörte für ihn konsequenterweise auch das Christentum. Spätere Versuche der NS-Führung, Muslime in der Sowjetunion, auf dem Balkan und in Nordafrika zum Dschihad aufzuwiegeln, auch die Aufstellung muslimischer SS-Einheiten waren taktisch motiviert und richteten sich vor allem gegen die jeweiligen Protektoratsnationen, hier die Russen als Führer der slawischen Welt, dort die Briten als Kolonialmacht im Nahen Osten; ins rassistische Weltbild des Nationalsozialismus im Ganzen passten keine Orientalen. Der brutale Umgang der Deutschen mit den Griechen und, nach dem Seitenwechsel 1943, auch mit den Italienern, beides christliche und beides indoeuropäische, „arische“ Völker, deren Angehörige aber „wie Juden aussahen“, zeigt das deutlich.

 

An dieser Stelle möchte ich eine persönliche Anekdote einfügen. Etwa im Jahr 1990 kam eines Abends mein Vater von der Arbeit nachhause und erzählte uns Kindern, jemand habe zu ihm auf dem Weg zur Arbeit in der U 9 gesagt: „Morgen wirst Du vergast, Jude.“ Nun ist mein Vater gar kein Jude, sondern orthodoxer Christ. Aber mein Vater ist Grieche. Er hat eine dunklere Haut- und damals auch noch Haarfarbe als der durchschnittliche „nordische“ Europäer, und er hat eindeutig griechisch-orientalische Gesichtszüge. Und das genügte im West-Berlin der ausgehenden Achtziger, in dem Neonazis noch allgegenwärtig im Stadtbild waren, um ihn als Juden „verdächtig“ zu machen. Ich habe diese Geschichte, die ich am nächsten Tag meinen verständnislosen Mitschülern (übrigens auf einer katholischen Privatschule) erzählte, bis heute nicht vergessen: weil sie mir das schwere Assimilationsschicksal meines Vaters (und damit ein Stück weit auch mein eigenes) verdeutlicht; weil sie eine Grundsolidarität zwischen mir und „den Juden“ hergestellt hat, die ich mir bis heute bewahrt habe; und schließlich, weil sie deutlich macht, was Orientalität bedeutet.

 

Europa ist auf der Idee des Nordens gebaut, als Antithese zum Orient

 

Europa, wie wir es kennen, ist gebaut auf der Idee des Nordens als Antithese zu allem Orientalischem. Karl der Große schnappte sich den Kaisertitel vom griechischen, orientalischen Byzanz weg, als dort zufällig für ein paar Jahre eine Frau auf dem Thron saß. Seine fränkischen Hofjuristen hatten ihm geflüstert, dass jetzt eine gute Gelegenheit sei. Und der (wahrscheinlich langobardische, also germanische) Papst in Rom, der tatsächlich nur einer von fünf gleichrangigen christlichen Patriarchen war und unter diesen fünf der macht- und prestigeloseste, sah ebenfalls seine Chance gekommen und verschaffte sich, indem er Karl die Krone aufsetze, Extraprestige, denn einen Kaiser krönen, das konnten die östlichen Patriarchen nicht.

 

Zweihundertfünfzig Jahre nach Karls Kaiserkrönung kam es dann zum endgültigen Bruch der christlichen Einheit, zum Schisma zwischen Abendland und Morgenland, weil der konstantinopolitanische Patriarch, verständlicherweise, die Oberhoheit seines römischen Kollegen nicht akzeptieren wollte. Kurz darauf fing auch der byzantinische Staat selbst an zu wanken. Die Türken waren auf den Weg nach Westen aufgebrochen. So traten an die Stelle der Griechen im Jahr 1453 die Osmanen, die das vierte islamische Kalifat begründeten: der Sultan als Stellvertreter Gottes und Nachfahre Mohammeds auf Erden in Personalunion, eine Art Papst und Kaiser in einem, aber eben auf orientalisch.

 

Politisch blieben Orient und Okzident voneinander getrennt. Hier der Papst und „seine“ christlichen Herrscher, allen voran der ehemals fränkische König als Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches“, also Deutschlands; dort der jeweilige Kalif – vor den Osmanen gab es bereits drei arabische Kalifate – und „seine“ muslimischen Völker. Ein orientalisches Volk freilich lebte sowohl hier als auch dort: die Juden.

 

Den Juden ging es unter dem Islam besser als im christlichen Europa

 

Natürlich ging es den Juden unter islamischer Herrschaft besser als unter christlicher. Zwar gab es schon immer auch einen islamischen Antijudaismus: die Juden hatten den Bund mit Allah aufgekündigt, so wie sie im Christentum Jesus, den Sohn Gottes, auf dem Gewissen hatten; aber im Alltag überwog die ethnische und sprachliche Verwandtschaft: Arabisch und Hebräisch sind kaum voneinander zu trennen, beides, Juden und Araber, sind semitische Völker. Die großen Pogrome im Mittelalter sind ganz überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich christliche Phänomene, während Juden unter arabischer und später türkischer Herrschaft relativ bequem leben konnten. Beispielhaft dafür die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Thessaloniki, der zweitgrößten jüdischen Gemeinde überhaupt nach Jerusalem, die zwei Jahrtausende unter römischer, byzantinischer, türkischer und schließlich wieder griechischer Herrschaft überdauerte – bis ihre Mitglieder im Jahr 1943 nach Auschwitz deportiert wurden, wo fast alle ermordet wurden. 50.000 Männer, Frauen und Kinder. Einige wenige überlebten als Mitglieder des so genannten Sonderkommandos.

 

Antisemitismus, der eigentlich Antiorientalismus heißen müsste, gab es bis 1945 fast ausschließlich im Westen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, also vor siebzig Jahren, änderte sich das. Angebahnt hatte sich das im 19. Jahrhundert. Die Revolution hatte die Ständegesellschaft beseitigt – nun waren die Juden im Norden erst recht Außenseiter. Als Orientalen passten sie nicht in die modernen Nationalstaatsgesellschaften – also schlug die Geburtsstunde des Zionismus, dessen Galionsfigur der österreichische Jude Theodor Herzl wurde.

 

Arabischen Antijudaismus gibt es erst seit dem 20. Jahrhundert

 

Weil nun jeder Europäer, der noch 1780 einfach Untertan irgendeines Höheren unabhängig von dessen Nationalität gewesen war (das Ancien Régime war sehr internationalistisch), sich auf der Suche nach seiner Identität auf einmal mit seinem eigenen Nationalstaat identifizierte, glaubten auch die Juden, einen Nationalstaat haben zu müssen – und der nun erwachende europäische Antisemitismus ließ ihnen auch kaum eine andere Wahl. Zugleich löste sich das Osmanische Reich langsam auf, die einstmals so mächtige Türkei galt im 19. Jahrhundert bekanntlich als „der kranke Mann am Bosporus“ – und auch hier begann man plötzlich, in Nationen zu denken. Ägypter, Iraker, Syrer wollten nicht mehr osmanische Untertanen sein, sondern Bürger ihres eigenen Staates.

 

1918 ging, wie Österreich-Ungarn, auch das Osmanische Reich unter. Diese europäisch-orientalischen Vielvölkerstaaten, die das Nationenproblem über fünf Jahrhunderte hinweg entschärft und neutralisiert hatten, wurden auf den Friedenskonferenzen in Saint Germain en Laye und Sèvres ausgelöscht. Die arabischen Völker hatten sich im Ersten Weltkrieg den Briten unter dem Abenteurer und Schöngeist Thomas Edward Lawrence angeschlossen, um das osmanische Joch abzuschütteln, wie es ihnen Griechen, Slawen und Rumänen in den hundert Jahren zuvor vorgemacht hatten. Bestärkt wurden sie durch die Zusicherungen, die der britische Hochkommissar in Ägypten, Henry McMahon, im Jahr 1916 dem saudi-arabischen Staatsmann Hussein ibn Ali gemacht hatte: die Engländer versprachen den Arabern Unterstützung im Kampf um Unabhängigkeit von der türkischen Herrschaft – logisch, denn die Türkei kämpfte auf Seiten der Mittelmächte gegen die Entente.

 

Der Judenhass der Araber ist nationalistisch motiviert, nicht rassistisch

 

Nur ein Jahr später, 1917, machte allerdings der britische Außenminister Lord Balfour dem Bankier Lord Lionel Rothschild die Zusage, dass Palästina nach dem Ende der türkischen Herrschaft „Heimstatt der Juden“ werden sollte. Das, und der anglofranzösische Aufteilungsplan von 1916, bekannt als Sykes-Picot-Abkommen, gilt in der arabischen Welt seither als Sündenfall des Westens, der die arabische Sache verraten habe. Und zwar an die Juden verraten. Dass die Juden sich in der Diaspora einfach genauso nach einem eigenen Staat gesehnt hatten wie ihre arabischen Nachbarn während der türkischen Fremdherrschaft, unterschlägt die offiziöse arabische Geschichtspolitik dabei geflissentlich. Und vor allem unterschlägt sie, dass die Juden als Orientalen des Westens tausend Jahre lang, seit Karl dem Großen, genauso wie Dreck behandelt wurden, wie die Araber sich seit Napoleons ägyptischer Expedition, dem Auftakt westlicher Intervention im Orient, von den Westmächten wie Dreck behandelt fühlten.

 

Der Hass vieler Araber – in ihrer Eigenschaft als Araber, nicht zwingend als Moslems – auf die Juden ist also nicht religiös oder rassistisch motiviert, denn „rassisch“ und religiös bilden beide faktisch eine Einheit, sondern nationalistisch. Und er hat auch nicht so sehr mit der Errichtung des jüdischen Staates Israel zu tun, zu der es bekanntlich erst dreißig Jahre nach der Balfour-Deklaration kam, sondern vielmehr mit dem Scheitern des arabischen Nation Building in den vergangenen hundert Jahren, und mit der Rolle, die die Westmächte dabei spielten.

 

Arabische Länder nehmen Israel als Kreuzritterstaat wahr

 

Schauen wir uns zum Vergleich Europa an: dass der alte westeuropäische Nationalismus, der dem Kontinent sechshundert Jahre lang den Stempel aufgedrückt hat, seit 1945 de facto verschwunden ist, liegt im Wesentlichen daran, dass im so genannten Kerneuropa seither faktisch identische Lebensbedingungen herrschen. Nach Ostpreußen oder dem Elsass sehnt sich eben nur, wer wirtschaftlich in der unterlegenen Position ist; Hitlers Wahlerfolg ist undenkbar ohne das Narrativ, dass Franzosen und Engländer im Überfluss lebten, während die deutsche Mutter kaum ihre Kinder ernähren könne, weil die Westmächte den Deutschen Danzig, Oberschlesien und die Kolonien weggenommen und 1923 überdies das Rheinland besetzt hatten. In einem Europa aber, in dem das wirtschaftlich stärkste Land, Deutschland, keine vernünftige Armee hat, dafür aber die anderen, wirtschaftlich schwächeren Länder über den Euro und Brüsseler Beihilfen finanziell aushält, ist Nationalismus so überflüssig wie ein Kropf.

 

In den arabischen Staaten dagegen ist Hass auf Israel deshalb Staatsdoktrin, weil sich diese Staaten selbst als failed states wahrnehmen, Israel hingegen als Kuckucksei des Westens, als Kreuzritterstaat, als Geschöpf von Sykes-Picot – und nicht als das, was es eigentlich ist: nämlich ein majoritär von Orientalen bevölkerter orientalischer Staat mit einer semitischen Amtssprache und einem semitischen Glaubensbekenntnis. In Wahrheit ist Feindschaft zwischen einem Palästinenser und einem Israeli historisch-ethnisch in etwa so „sinnvoll“ wie die Feindschaft zwischen einem Schwaben, Badener oder Rheinländer und einem Franzosen.

 

Die Juden wurden in der Shoa wegen ihrer Orientalität ermordet

 

Der arabische Antisemitismus, der in Wahrheit in Antijudaismus ist, macht mich traurig, weil er so überflüssig ist. Ihm fehlt jede rassistische und im Grunde auch religiöse Grundlage. Seine einzige Motivation ist nationalistisch, und Nationalismus ist erstens etwas vollkommen Unorientalisches und zweitens im Zeitalter der Globalisierung restlos überholt. Juden und Araber sind Brüder, genauso wie Syrer und Tunesier, Marokkaner und Iraker sich automatisch mit „Akhi“ anreden. Wer jüdische Deutschrapper wie Ben Salomo oder Sun Diego hört, fühlt diese Verwandtschaft sofort.

 

Die Juden in Auschwitz, Riga und Treblinka wurden als Orientalen gedemütigt, gefoltert und ermordet. Sie sind den Blutzeugentod gestorben für ihre Orientalität, dafür, dass sie auch nach zweitausend Jahren der Diaspora ihre Bindung an ihre Heimat an der Levante nicht aufgegeben hatten; dass sie die orientalische Sprache, das Brauchtum, den sehr persönlichen, sehr unnordischen Glauben an Eloah bewahrt hatten, ob nun als „Fetzentandler im Kaftan“ im galizischen Brody oder als bourgeoise Oberschicht im Faubourg Saint Germain, in Charlottenburg oder in Ferrara.

 

Viel eher als eine jüdisch-christliche gibt es eine jüdisch-arabische Gemeinschaft

 

Die Schergen der SS hatten sie alle wieder gleichgemacht. Nicht so sehr, weil jüdische Oberschicht mit nichtjüdischer Oberschicht unter einer Decke steckte und gemeinsam Geschäfte und Politik machte („Weltjudentum“); sondern weil Juden Orientalen waren und ein Orientale eben niemals zur edlen weißen Rasse gehören konnte. Ein schmutziger Orientale konnte ja nicht einmal mit einem schlichten deutschen SS-Rottenführer-Proleten aus Schlesien oder Westfalen mit Volksschulabschluss gleichziehen; da sollte er sich ja nicht einbilden, auf einer Ebene mit den Balfours oder Guermantes oder Hohenlohes dieser (westlichen) Welt zu stehen. Dieser „Hochmut“ – und um den ging es – sollte den Juden ausgetrieben werden, bestialisch, mit sadistischer Brutalität, die weit über ihre physische Vernichtung hinausreichte.

 

Das sollten wir im Westen nie vergessen. Es ist bequem, in Berlin, Paris oder New York von jüdisch-christlicher Tradition zu sprechen, wenn man sich selbst vorgaukelt, Juden sähen typischerweise wie Gwyneth Paltrow oder die Kushner-Brüder aus. Nun sieht Gwyneth Paltrow (deren Urgroßvater freilich weißrussischer Jude war) aber eben wie eine „aryan goddess“ aus, die schon vor hundert Jahren jeder Marlborough oder de la Rochefoucauld oder Henckel-Donnersmarck trotz strengster katholischer oder anglikanischer Familientradition bereitwillig geheiratet hätte. Das eigentlich Jüdische aber ist eben orientalisch – und steht ergo dem Muslimischen, Arabischen tausendmal näher als dem Weiß-Angelsächsisch-Protestantischen. Viel mehr als eine jüdisch-christliche gibt es eine jüdisch-arabische Gemeinschaft.

 

Juden als Speerspitze des Orients in der westlichen Welt

 

Wir im Westen täten meiner Meinung nach besser daran, diese jüdisch-arabische Gemeinschaft zu betonen, anstatt auf einer reichlich konstruierten christlich-jüdischen Identität herumzureiten, die es so nie gegeben hat und die eine Erfindung des Philosemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg ist (wir dürfen nicht vergessen: nicht nur wir Deutschen als Tätervolk, auch Engländer und US-Amerikaner fühlten sich nach 45 schuldig, weil sie viel zu wenig zur Rettung der Juden unternommen hatten).

 

Und auf der anderen Seite sollen und müssen wir die muslimische Welt daran erinnern, dass die Juden nicht ihre Antipoden, sondern ihre Schwestern und Brüder sind. Dazu gehört freilich Mut: der Mut des Westens, sich ins eigene Knie zu schießen und die Front in den Köpfen nachträglich wieder zu begradigen, die im Namen westlicher Erinnerungspolitik künstlich verzogen wurde: denn diese Front verlief eben nicht zwischen den Arabern und der „christlich-jüdischen Wertegemeinschaft“; sondern zwischen der orientalischen Welt einschließlich der Juden auf der einen und der westlich-nordischen Welt auf der anderen Seite.

 

Der westliche Philosemitismus stellt die Juden und Israel nur zu gerne als Speerspitze des Westens gegen den unzivilisierten, islamischen Orient dar; doch damit vertieft er – unwissentlich und ganz sicher auch wissentlich – die Kluft zwischen dem Westen und dem Orient und vor allem die Kluft zwischen Juden und Moslems. In Wahrheit aber sind und waren die Juden die Speerspitze des Orients in der westlichen Welt. Dieser Gedanke einmal in die Köpfe der Muslime gepflanzt, und der israelisch-arabische Konflikt ist seiner Lösung einen entscheidenden Schritt näher – und der arabische Antijudaismus vielleicht schon bald Geschichte.

 

Berlin, April/Mai 2018. © Konstantin Johannes Sakkas. Header: eine Muslimin verdeckt den Judenstern einer Jüdin, Sarajevo, nach April 1941. Quelle: forward.com

 

Dieser Text erschien in dieser Fassung im März 2019 in der „Islamischen Zeitung“: https://www.islamische-zeitung.de/judentum-islam-und%E2%80%88orientalitaet/

 

 

Bündnis zwischen Mob und Elite. Alexander Graus „Hypermoral“

Nie seit 1933 war Hannah Arendts Wort vom Bündnis zwischen Mob und Eliten passender als heute, da nunmehr eine rechtsradikale Partei an der Gesetzgebung Deutschlands beteiligt ist. Ohne publizistische Begleitmusik wäre es freilich schwerlich so weit gekommen. Die erste Geige spielte dabei das Magazin CICERO, aus dem Chefredakteur Christoph Schwennicke, klassischer Funktionärsjournalist ohne intellektuelles Profil und in der Szene berüchtigt für seine Verhaltensauffälligkeiten, wohl in einer Art nachgeholtem Sturm und Drang ein nationalkonservatives Blatt mit eindeutig neurechter Tendenz zimmerte.

Zu Schwennickes ergebenen Skribenten zählt Alexander Grau, nicht mehr junger Vertreter einer nicht mehr neuen deutschen Intelligenz, die irgendwo bei Botho Strauß und Tristesse Royale ihren Ursprung hat, auf Hinterzimmertreffen gern darüber klagt, dass es bisher „ausschließlich sozialdemokratische Bundeskanzler gegeben habe“, und deren Säulenheilige Carl Schmitt, Oswald Spengler und – falls sie nicht, wie Grau, evangelischer Konfession sind – Joseph Ratzinger heißen. Seit Henryk M. Broders „Hurra, wir kapitulieren“, dem One-Hit-Wonder des nach jäher Blüte liquidierten wjs-Verlages aus dem Jahr 2006, produziert das neurechte Milieu regelmäßig Publikationen, die sich gegen einen vermeintlichen linksgrünen Meinungskonsens richten. In diese Riege stellt sich nun Alexander Grau mit seinem Buch „Hypermoral“.

Grau hat sich mit dem Buch keinen Gefallen getan

Grau, unter anderem mit einer Stilkolumne im „Manager Magazin“ hervorgetreten, hat sich mit diesem Buch keinen Gefallen getan. Seine Kernthese: Moral habe mit Ethos ursprünglich nichts zu tun, sondern sei eine Erfindung von 1789. In vormodernen Gesellschaften sei es nicht darum gegangen, abstrakt „gut“ zu sein, sondern einem summum bonum, einem höchsten Gut zu folgen, das konkret definiert, sakrosankt und Inbegriff von Legitimität war. Diese Idee hieß Gott. Der moderne Pluralismus hingegen habe dieses höchste Gut delegitimiert und verwässert und an seine Stelle viele kleine Ersatzgüter gesetzt, an die seriell geglaubt werde: Klimawandel, Gleichberechtigung etc. Das Ganze heißt bei ihm „Hypermoral“.

Daran ist so viel richtig, dass die Welt vor 1789 um einiges übersichtlicher war als nachher, insbesondere als die Welt nach 1918, 1945 oder gar 1990. Richtig ist auch, dass eine offene Gesellschaft – und globalisierte Gesellschaften sind per se offen – nicht mehr oder nur schwer an tradierten Paradigmata festhalten kann. Und wahr ist schließlich, dass die Glaubenskrise, in der wir uns befinden, beileibe nicht gelöst ist. Alejandro Iñarritus Hugh Glass findet auf seinem Kreuzweg durchs eisige Louisiana Zuflucht und Hoffnung in einem verfallenen katholischen Kloster aus spanischer Zeit: auch eine Parabel auf den postmodernen, aufgeklärten, „amerikanischen“ Menschen, weltlos in den Raum geworfen, der sich nach dem Mutterschoß einer klaren, wärmenden Weltordnung sehnt.

Gespaltenes Verhältnis zur Moderne

„Ich habe kein gespaltenes Verhältnis zur Moderne, ich lehne die Moderne ab“, sagte einst eine befreundete Charlottenburger Szenegröße in abendlicher Runde zu Grau und mir. Der Satz eines stumpfen Reaktionärs, so könnte man meinen. Doch derselbe Satz könnte auch von Lady Gaga (und wahrscheinlich sogar von Gwyneth Paltrow) stammen.

Von alldem freilich, vom real existierenden Unbehagen in der Postmoderne, erfahren wir bei Grau nichts. Stattdessen liefert er eine Philippika gegen „Moralismus“, die so durchschaubar ist wie schales Oettinger. Wie sähe denn der real existierende Antimoralismus aus? Nicht etwa so wie eine große Weltkoalition von Alt-Right und AfD? Die aber kann niemand wollen, am allerwenigsten, wer die von Grau so hoch und heilig gehaltenen Werte des Glaubens und der Religiosität wahrhaftig ernst nimmt.

Nur die Dunkelheit behauptet, das Licht sei der Schatten

Um nur die wichtigste der Prämissen des promovierten Philosophen Grau zu widerlegen: die Vormoderne kannte sehr wohl das abstrakt Gute. Was ist mit Platons idea tou agathou, der Idee des Guten, die er Sokrates in der „Politeia“ aussprechen lässt und die zum Leitbild der abendländischen Philosophie wurde? Was mit der Idee der Gerechtigkeit, die sein Schüler Aristoteles zum Maß der Dinge erhebt? Man kann einzelne Moralen mit gutem Recht unter Ideologieverdacht stellen, ohne zugleich, wie Graus (heimliches?) Vorbild Carl Schmitt, das Moralische in toto zu delegitimieren. Das genau aber tut Grau und begeht damit denselben Fehler wie jene, die etwa auf die Auswüchse des Feminismus (und die gibt es) mit Frauenhass und einem kruden Maskulismus reagieren.

Im Zeitalter der Technik gibt es eine Krise des Menschlichen. Doch die Antwort auf diese Krise, wie immer sie lauten mag, liegt woanders als im Kampf gegen das so genannte Gutmenschentum. Zu diesem Kampf blasen in aller Regel nämlich – schlechte Menschen. Die Frage, woher das Licht der Sonne ursprünglich komme, haben weder Newton noch Einstein beantwortet noch gar Yuval Harari. Gut möglich, dass es von Gott kommt. Doch nur die Dunkelheit würde behaupten, dass dieses Licht eigentlich Schatten sei.

Alexander Grau: Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung. München: Claudius 2017, 128 S., 12 €.

Kevin Spacey alias Frank Underwood: Sadismus als Religion

Anlässlich des jüngsten Skandals um Kevin Spacey sollte die Frage erlaubt sein, ob Äußerungen wie jene, die Ehe sei nur noch so viel Wert wie der „Konsens“ eines „Sexsklaven“, in einen philosophischen Kommentar im öffentlich-rechtlichen Hörfunk gehören. So geschehen neulich im Deutschlandfunk Kultur. Solche Äußerungen dienen eher dazu, das Gefühl für Verantwortung, das ohnehin schon arg lädiert ist, bei Mann und Frau weiter auszuhöhlen und Sadismus – denn um nichts anders handelt es sich hier – noch weiter salonfähig zu machen.

Jeder, der auch nur ein wenig in der Welt herumgekommen ist, weiß, dass der so genannte Masochismus ein Konstrukt ist, um Leute, insbesondere junge Frauen, die meist schon als Kinder entwertet, also missbraucht, wurden, dauerhaft in der Entwertung zu halten. Es geht ums pure Kaputtmachen, nothing else. Und die dauernde, relativistische Negation der so genannten tradierten Rollenbilder trägt ihren Teil dazu bei. Meist sind es in ihrer jeweiligen Persönlichkeit eher ungefestigte Leute, die das „Geschlechterproblem“ aufwerfen (um dann darin unterzugehen).

Wir haben kein Problem mit „alten weißen Männern“. Wir haben ein Problem mit „alten“ (weißen) Männern und Frauen, die auf ihre Verantwortung scheißen und diese Doktrin der Verantwortungslosigkeit über die Medienmaschine in die Köpfe der Menschen transmittieren – um diese zu ihren Komplizen bzw. zu ihren Opfern zu machen.

Kevin Spacey alias Frank Underwood übrigens hätte zu jenem Kommentar vermutlich laut applaudiert. Leider waren sich Tausende KollegInnen nicht zu schade, die von ihm zuletzt gespielte Figur jahrelang hochzuloben, die ein ekelhafter Ausbund an Sadismus ist; eine Serie zu feiern, in der Verantwortungslosigkeit und nackter, brutalster Egoismus abgefeiert werden, in der jeder Respekt vor dem Leben aufs Abscheulichste verhöhnt wird. Und in der, natürlich, die Hauptfiguren keine Kinder haben und eine Ehe führen, die den Namen nicht wert ist und die nur auf den Zweck ausgerichtet ist, andere Menschen als ihre Werkzeuge zu benutzen, wobei sie buchstäblich über Leichen gehen.

Und diese Kollegen fallen jetzt aus den Wolken – ignorantia, wenn es denn welche war, non excusat.


© Konstantin Johannes Sakkas, 2017

Header: Rachel Brosnahan in der Rolle der Rachel Posner, kurz vor ihrer Ermordung. House of Cards, Season 3, 13. Rechte: Netflix