Vergangenheit, die vergeht

Europa hat den Übertritt von der Neuzeit in die Nachneuzeit längst vollzogen. Dass es dadurch in Deutschland bei den jüngeren Generationen zu einer Historisierung auch der NS-Zeit gekommen ist, ist folgerichtig und unproblematisch

Vor bald dreißig Jahren, nur kurze Zeit vor dem Mauerfall, mit dem nicht nur die Nachkriegszeit, sondern auch die Neuzeit überhaupt zu Ende ging, entbrannte in Westdeutschland der so genannte Historikerstreit. Ernst Nolte, Professor am renommierten Berliner Friedrich-Meinecke-Institut und bis dahin eine unbestrittene Autorität in der deutschen Geschichtswissenschaft, hatte in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Singularität des Holocaust infrage gestellt und die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen in einen Kausalzusammenhang mit dem sowjetischen Bolschewismus gerückt. Noltes These provozierte sogleich heftige Reaktionen und führte schließlich zu seiner Ächtung im deutschen Wissenschaftsbetrieb. Die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Systems und der unter ihm verübten Verbrechen, damit aber deren wesenhafte Ahistorizität, also Geschichtslosigkeit, galt seitdem implizit und explizit als Grundkonsens der deutschen Geschichtswissenschaft und der offiziellen deutschen Erinnerungskultur.
Heute, eine Generation später und ganze einhundert Jahre nach dem Beginn des Weltkriegszeitalters 1914, sieht die Sache anders aus. Die Zeit von 1933 bis 1945 hat sich im kollektiven Gedächtnis Deutschlands und Europas stillschweigend eingereiht in die große longue durée der europäischen Neuzeit überhaupt; die Aura des Einzigartigen, Präzedenzlosen und Unwiederholten hat sie verloren. Meine Generation – also die letzte, die noch vor der Wende und damit noch in der Neuzeit geboren wurde – war, sofern sie im Westen aufwuchs, die letzte, die überhaupt noch in der Denkfigur der Singularität der NS-Zeit aufgezogen worden war. Die Jungen, die Geburtenjahrgänge seit 1990, die nur mehr das vereinte Deutschland kennengelernt haben und die wie selbstverständlich groß wurden in einem global village, stehen mit ihrem Bewusstsein schon in einer ganz anderen Zeit; die Ganzheitlichkeit in ihrem Blick auf die Vergangenheit lässt sie jede Epoche wie selbstverständlich zurücktreten in den einen großen Zusammenhang, den der Zeitbogen von der Renaissance bis zum Weltkriegszeitalter beschreibt.
Freilich: diese Historisierung, welcher das historische Bewusstsein der „Generation 90“ die Epoche zwischen 1914 und 1945 und insbesondere die NS-Zeit unterwirft, entbehrt nicht bestimmter Akzentsetzungen, die erst durch die zeitliche und generationelle Distanz wieder möglich geworden sind. Man neigt heute wieder, wenn auch nur unter der Oberfläche und im Schutz des Verborgenen, dazu, das Moment der Kraftentfaltung, den ungebremsten Voluntarismus, die Emphase der Macht zu betonen, die mit dem Nationalsozialismus verbunden sind. Der deskriptive, anschauende, nicht mehr der normative, bewertende Zugriff bestimmt heute in der Breite die Beschäftigung mit dem Dritten Reich. Stilbildend wirken hie, wie immer, die modernen Massenmedien, insbesondere Film und Fernsehen, aber auch das Internet.
Insbesondere seit Beginn des zweiten Jahrzehnts im neuen Jahrhundert, also seit den letzten drei Jahren zeichnet sich die Tendenz zur Historisierung der NS-Zeit überdeutlich ab. TV-Produktionen wie etwa der abendfüllende Film „Rommel“ von 2012 oder der Dreiteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ von 2013 zeigten das Dritte Reich in seiner Auratik, zeigten es als Lebenswelt, unabhängig von den normativen Konnotationen, die mit ihm untrennbar verbunden sind. Bücher wie Timur Vermes Romansatire „Er ist wieder da“ spielen geschickt mit dem metaironischen Potential, das dem Dritten Reich, vor allem aber der Person Hitlers seit je innewohnt und das seit einiger Zeit insbesondere unter jungen Menschen verstärkt wieder reaktiviert wird.
Wir befinden uns heute in der seltenen historischen Situation, dass wir auf die Vergangenheit in toto zurückblicken können, ohne doch zugleich schon fester Teil eines neuen Zeitalters geworden zu sein. Ich will mich selber als Beispiel nehmen: 1982 in West-Berlin, dem Vorposten der alten Bundesrepublik geboren, wuchs ich auf erst im Geist der Fun-Gesellschaft – Neunziger Jahre –, dann der Globalisierung – „Nuller Jahre“ – und gehöre nun zu der Generation „junger Erwachsener“, die im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends in Politik und Gesellschaft immer einflussreicher wird, bis sie in ein paar Jahren selber den Ton angeben wird. Wir sitzen gleichsam, um ein Wort Jacob Burckhardts über Friedrich den Großen zu gebrauchen, auf der Zeitscheide zwischen zwei Zeitaltern: wir wurden noch geboren in der überschaubaren Behaglichkeit der auslaufenden Neuzeit, dann aber mit Gewalt hineingeworfen ins Meer der post- oder „metamodernen“ Unverbindlichkeit, die das Leben der westlichen Welt seit dem „Ende der Geschichte“ im Jahr 1991 kennzeichnet. Geistig, seelisch und wirtschaftlich sind wir Kinder dieser neuen Zeit, die seltsam außerhalb der Zeit zu stehen scheint; mit unserem frühen Bewusstsein aber sind wir geprägt von einer Lebenswelt, in der es keine Computer und kein Internet gab, in der Sexualität noch nicht ubiquitär verfügbar war und das Wirtschaftsleben tatsächlich noch entfernt irgendeinem allgemeinen Zweck zu dienen schien. Diese beiden konträren Prägungen bestimmen uns, die Generation am Übergang, und damit die geistige Situation der Zeit.
Die NS-Vergangenheit spielt auch im achtzigsten Jahr nach der so genannten Machtergreifung deshalb eine so prägnante Rolle in unserem Geschichtsbild, weil sie das letzte Stück „große Geschichte“ ist, das, soweit wir zurückblicken können, stattgefunden hat. Die Beengtheit der Lebensverhältnisse in der alten Zeit, die selbst für die höchsten Gesellschaftsklassen galt, erzeugte eben jene existenzielle Erwartungshaltung, die es möglich machte, dass sich in Europa seit der Römerzeit ständig irgendwer mit irgendwem im Krieg befand. Der Krieg war die willkommene Abwechslung von der scherfälligen Eintöngigkeit des alltäglichen Lebens, einer Eintönigkeit, die wir uns heute im Zeitalter der totalen Verfügbarkeit von allem und jedem überhaupt nicht mehr vorstellen können. Die Heilserwartung, mit der die Mächtigen ihre jeweiligen kriegerischen Intentionen aufluden, wurde ergänzt durch die ganz praktische Erwartung des Einzelnen, aus der Bedeutungslosigkeit eines Trabantenlebens zu erwachen und aus seiner stillen Ecke, und dies wortwörtlich, herauszukommen. Der weltbewegende Gestus, der allen politischen Begebenheiten der Zeit vor 1945 merkwürdig innewohnt, erklärt sich genau aus diesem Kontrast zwischen der lebensweltlichen Enge hier, der phantastischen Grenzenlosigkeit des Geistes dort. Aus der brisanten Spannung zwischen diesen Polen erwuchs jene Stimmung, die sich immer wieder in kriegerischen Eskalationen entlud, bis sich im Weltkriegszeitalter die Eskalation schließlich selber übertraf und dann mittels des technischen Fortschritts ad absurdum führte.
Heute kann niemand mehr mit kriegerischen Mitteln die Welt in den Abgrund reißen, weil dieser Abgrund keine emphatische Übertreibung mehr wäre, sondern nackte Realität. Der „große Krieg“ ist im Zeitalter der Atombombe ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Wir alle konnten im Jahr 2011 erleben, wie sich eine wahre Katastrophe anfühlt, als eine gigantische Flutwelle auf Japans Ostküste traf und das Reaktorunglück von Fukushima auslöste. Es ist paradox: aber die größten Bedrohungen für die Menschheit gehen im Zeitalter der Übertechnologisierung, so scheint es, nicht mehr vom Menschen aus, nicht mehr von einzelnen „großen Individuen“ und deren verrückter Phantasie, sondern ganz altmodisch von der Natur selber, dem Inbegriff des A-technischen. Der Mensch, der Entdecker des Feuers, ist im digitalen Zeitalter herabgesunken zum Spielball der Naturgewalten, die, ganz gleich, ob er selber nun nachgeholfen hat oder nicht, mit ihm ihre Kurzweil treiben und mit grausamer Ironie den Beweis darüber führen, dass eine hundsordinäre Schlechtwetterperiode ausreichen kann, Autobahnen, Kanalisationen und Mobilfunknetze in einer Sekunde in sich zusammenbrechen zu lassen. Der Katastrophenhorizont des Menschen 2.0 sind nicht mehr Kriegs- und Hungerperioden wie der Dreißigjährige Krieg, sondern Auslöschungsszenarien, die er sonst nur aus der Prähistorie kennt.
Uns Jüngere, die die Erfahrung menschengemachten Elends nur noch als fernes Echo trifft, beschäftigt umso mehr die Frage nach der Möglichkeit, als Mensch über das Menschsein hinauszuwachsen und einzugreifen in den Lauf der Geschichte. Mit Neugier, ja heimlicher Lüsternheit blicken wir Kinder einer unheroischen Zeit auf den Heroismus ferner Zeiten. Das historische Wissen wurde uns quasi mit in die Wiege gelegt. Die „Generation Guido Knopp“ bewegt sich mit eigentümlicher Sicherheit in Gefilden, die nur an der Oberfläche nicht zum Image aus digitaler Bohème und großstädtischer Promiskuität zu passen scheinen; tatsächlich steht die Phantomerfahrung politischer Gigantomanie immer mehr im Background der modernen Selbstverwirklichung, je mehr diese sich apolitisiert. Das Private ist das Politische, nicht mehr die Politik, wie noch Napoleon behauptete, ist das Schicksal, sondern das Privatleben. Gerade deshalb aber wird das Politische zu seiner idealen Aufladung. Die sündhafte Neigung zu Pathos und Grandeur aber wird zum eigentlichen Tabu in einer Zeit, in der die Eskapade legitim, das Politische aber langweilig geworden ist.
Auf diesem Prospekt spielt sich, noch kaum öffentlich wahrgenommen, der Prozess der Historisierung der NS-Vergangenheit ab – ein ideeller, nicht ideologischer Prozess, der reell flankiert wird dadurch, dass nicht nur die letzte Generation unmittelbarer Zeitzeugen, die Flakhelfer also, von der politischen Bühne abgetreten ist, sondern auch deren Kinder, also die zwischen 1950 und 1970 Geborenen, immer mehr in die Jahre kommen. Die Jahrgänge seit den späten Siebziger Jahren sind die ersten, die quasi ohne direkte politische Erbsünde aufwachsen. Ihre Beschäftigung mit der Vergangenheit ist wesenhaft spielerisch, das Spiel aber hat bekanntlich zwei Seiten: eine naive, harmlose, und eine sündhafte, sadistische. Das Spiel ist jenseits von gut und böse, aber diese unverbindliche Jenseitigkeit macht es gefährlich und damit schon böse sui generis.
Die wohl prominentste Neuerscheinung mit Bezug auf das Dritte Reich im vergangenen Jahr war Malte Herwigs Studie über die Flakhelfer. Er entwirft darin ein interessantes Psychogramm der Generation, die in den späten Zwanziger Jahren geboren wurde und das Kriegsende als Jugendliche erlebten, also den Eindrücken ihrer Zeit voll ausgesetzt waren. Die Integration beziehungsweise Nicht-Integration dieser Eindrücke, oftmals das Verleugnen der eigenen – und sei sie auch nur formell – Verstrickung ins NS-System wurde für viele von ihnen die Lebensaufgabe schlechthin. Eine Hauptrolle spielt die NSDAP-Mitgliedschaft, die Herwig ausgerechnet bei ihnen, den späteren Lehrmeistern der deutschen Nachkriegsdemokratie, in hoher Dichte nachweist. Dennoch: eine dezidierte ideologische Affinität wollte und konnte er ihnen in corpore nicht nachweisen, und das wäre auch unsinnig gewesen bei einer Gruppe, deren Altersdurchschnitt bei Kriegsende bei sechzehn, vielleicht höchstens zwanzig Jahren lag. Sie waren, von der geistigen Entwicklung her, halbe Kinder, und als Handlungen von halben Kindern sind ihre Handlungen, und sei es der Eintritt in die NSDAP wie bei Hans-Dietrich Genscher oder gar in die Waffen-SS wie bei Günter Grass, zu beurteilen.
Das ganz große Medienecho blieb diesem Buch folglich versagt. Interessant ist aber der Schluss, den man aus ihm ziehen konnte: dass nämlich historische Strukturen nicht nur eine dogmatische, normative, sondern auch eine deskriptive, auratische Seite haben. Diese auratische Dimension ist die, in der sich unser äußeres Leben eigentlich abspielt. Sie determinierte die Menschen 1933, Hitler zu wählen, so wie sie ihre Kinder 1945 dazu determinierte, wirklich „bis zum letzten Atemzug“ kämpfen zu wollen, auch wenn man wusste, dass dies sinn- und zwecklos sein würde. Diese billige Wahrheit mag die Altvorderen irritieren und desorientieren; tatsächlich liegt in ihr das Geheimnis historischer Erfahrung: die Faktizitäten zählen, nicht die Normen, unter denen sie stehen. Diese sind darum zwar nicht weniger in Geltung; aber ins Gewicht fallen sie erst, wenn die Fakten Geschichte geworden sind.
Die Geschichte selber aber ist – eine billige Weisheit, gewiss – immer das Produkt der jeweiligen Gegenwart. Die unmittelbare und mittelbare Nachkriegszeit, also die Zeit zwischen 1945 und 1968 beziehungsweise zwischen 1945 und 1990 oder auch 2001 war bestimmt von der unmittelbaren Erfahrung des Weltkrieges. Hitler und der Vergleich beziehungsweise Nicht-Vergleich mit ihm war in Politik und Medien omnipräsent. Seit dem elften September hat sich dies grundlegend gewandelt. Die politischen Konstellationen auf der Welt sind definitiv andere geworden in gewisser Weise findet gerade eine Reaktivierung von Frontstellungen statt, die es so zuletzt im Mittelalter gab – hier der Westen, dort die islamische Welt. Zugleich sind wir – auch das eigentlich eine „orientalische“, sehr gegenständliche, körperliche Entwicklung – tief eingetaucht ins Äon der jederzeitigen Verfügbarkeit von Ware und Information. Wir leben tatsächlich in einem Global Village, in einem Weltdorf. Die schrittweise Verbilligung der alltäglichen Lebenshaltung – paradoxe Begleiterscheinung einer krassen Inflation, die seit den späten Achtziger Jahren ununterbrochen im Gang ist – trägt das Ihre dazu bei, dass mittlerweile entweder jeder jedes topographische Ziel erreichen kann, oder aber jedenfalls die Mittel dazu hat, sich so umfassend zu informieren, als hätte er schon alles erlebt, als wäre er schon überall gewesen.
Aus dieser Auratik heraus erklärt sich wiederum die Auratik, mit der unser heutiges historisches Bewusstsein das Äon vor 1945 umgibt. Wir behandeln diese Phase nicht mehr mit der moralischen Finesse, die die Generationen vor uns, wollten sie redlich und vor allem reinen Gewissens bleiben, unbedingt einhalten mussten; sondern wir erlauben uns stillschweigend, sie vor allem als horrende Kuriosität zu betrachten, die in sich noch einmal das ganze Spektrum des politisch Erfahrbaren, die Politik als Schicksal in seiner krassesten, aberwitzigsten, schrecklichsten Form hatte auftreten lassen. In extremer, schauerlicher Verdichtung brachen da die menschlichen Urenergien hervor – so nackt und atavistisch, dass sie sich jede auch nur irgendwie sinngebende rationale Camouflage sparten.
Die politischen Konstellationen unsere Gegenwart, also des Jahrs 2014, sind nämlich kein Produkt des Zweiten Weltkrieges. Sie wurden bereits 1918, genauer: im Jahrzehnt des Ersten Weltkrieges vorgezeichnet: das Heranwachsen der USA und Russlands zu Supermächten; das Erwachen Chinas aus seinem Dornröschenschlaf; die militärische Selbstruinierung des alten Europa mit Deutschland als heimlichem Sieger; schließlich das Zerbrechen des Osmanischen Reiches und damit das Erwachen des politischen Islam, der seit der Einnahme von Konstantinopels fünfhundert Jahre lang geschlafen hatte. In der Tat muss man, geht man nach der bloßen Faktenlage, viel eher 1914 als 1945 als Geburtsjahr der Nachneuzeit ansehen, und genau so hat es ja auch etwa Christian Graf von Krockow in seiner Studie „Die Entscheidung“ zur geistigen Lage der Zwischenkriegszeit von 1954 getan.
Dennoch wäre der Ausklang der Neuzeit nicht komplett ohne das was sich zwischen 1914 und 1945 abspielte. Dieser so genannte zweite Dreißigjährige Krieg – wie oft ist dieses Schlagwort in den letzten Jahren in Literatur und Medien gefallen! – war das Resümee all dessen, was Europa in den letzten fünfhundert Jahren ausgemacht hatte. Auf Unsicherheit folgte die Chaotisierung des Kontinents durch Hitler, und auf das Chaos endlich die Friedensordnung, die sich Europa immer gewünscht hatte. Denn es gehört zu den typischen und doch immer wieder irritierenden Paradoxien der Geschichte, dass das Gegensätzliche einander bedingt. Aus dem Geist der Massenvernichtung erwuchs in kürzester Zeit der Gedanke der Massenversöhnung und der Massenwohlfahrt. Nie hat sich die Welt in so kurzer Zeit so radikal verändert wie in den einhundert Jahren zwischen 1914 und 2014.
Zweiter Weltkrieg und Holocaust erscheinen im Rückblick vielleicht nicht als Hegelsche „List der Vernunft“, wohl aber als notwendige Retardation zu den archaischen Ursprüngen Europas, die noch einmal aufzeigen sollte, auf welchem infernalischen Horizont das „gute Leben“ erst gedeiht. Eine Lust am Inferno gibt es heute ganz gewiss nicht; aber eine gruselige Faszination für das Harte, Grausame und Extreme. Nicht die Gewalt an sich fasziniert; sondern das Gewaltsame, der Gestus des Überweltlichen, mit dem die weltlichsten Dinge überhaupt ins Werk gesetzt werden. Das Politische heute ist so tatsachenbezogen, so steinkalt, so trocken geworden, die Politiker selber so unauratisch und gewöhnlich, dass man sich seien heroischen Imagines aus der Geschichte holt. Nach ihnen aber wird heute wieder verstärkt nachgefragt; nicht aus politischen Motiven, aber aus persönlicher Befindlichkeit heraus. Der Mensch ist in seiner Individualisierung so weit fortgeschritten, dass er dann und wann davon träumt, diese Individualität wieder einzutauschen gegen das sklavische, aber unheimlich fruchtbare Dasein als „Menschenmaterial“, das seine Vorfahren noch vor einem Jahrhundert geführt haben.
Auf diesem Grund gedeiht gegenwärtig eine merkwürdige Entwicklung, infolge derer man aufs Dritte Reich und Hitler eben nicht mehr als auf historische Singularitäten schaut, sondern nur mehr als auf eine einzigartig dichte Zusammenballung von Kräften, wie sie in der Geschichte anfänglich gewirkt haben und ursprünglich, ob offen oder latent, weiterwirken. Die Geschichtskultur, die sich seit den Neunziger Jahren mit ihren TV-Dokumentationen in Endlosschleife und ihren Abertausenden von Sach- und Fachbüchern entwickelt hat, hat diesem klammheimlichen Bedürfnis nach Vergegenwärtigung des Radikalen, Harten und Gigantischen ungebremst und kontinuierlich Vorschub geleistet. Genau dieser Geschichtskultur aber verdankt es sich, dass das, wovor man jahrzehntelang Angst hatte: die so genannte „Historisierung“ des Dritten Reiches, im Verborgenen längst stattgefunden hat.
Ob sich nun ein Berliner Rapper und seine Clique untereinander mit noms de guerres aus der Führungsriege der Nazis anreden; ob sich junge Männer auf Youtube den Riefenstahl-Parteitagsfilm „Triumph des Willens “anschauen; ob Leute, von denen man es nie erwarten würde, wie zum Beispiel Kfz-Meister und Immobilienmakler mit detaillierten Kenntnissen über Wehrmacht und Waffen-SS glänzen: das Dritte Reich ist allgegenwärtig, und zwar, dies das Merkwürdige, nicht als Erinnerungs-, sondern als Alltagssubkultur. Es ist Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden mit jenem popkulturellen Einschlag, der typisch ist für den alltäglichen, scheinbar schwerelosen Umgang mit der Vergangenheit. Geschichte nicht mehr als moralische Unterweisung, sondern als „Show“ – wir Deutsche lernen hier etwas kennen, was für Engländer, Amerikaner und Franzosen, wie für alle übrigen Nationen auch, längst selbstverständlich und normal ist.
Dieser heimliche Wandel im Umgang mit, im Zugriff auf unsere Geschichte hat sicher auch seinen Platz in dem Gesamtpanorama der Entwicklung Deutschlands zur tonangebenden Wirtschaftsmacht in der westlichen Welt seit dem Platzen der New-Economy-Blase und dem 11. September 2001. Aus dem biedern Westdeutschland Helmut Kohls ist unter seiner Elevin Merkel quasi im Handumdrehen der Tonangeber nicht nur Europas, sondern der atlantischen Welt überhaupt geworden. Was unter all den harten, männlichen Leitfiguren, die die deutsche Geschichte der Neuzeit in so einzigartiger, überschießender Dichte hervorgebracht hat, nur ein müder Traum gewesen war: Angela Merkel ist es gelungen. Sei es die Eurokrise oder die amerikanische Außenpolitik: hier wie dort schaut man auf Deutschland als den Arbiter und seine Kanzlerin, dieses merkwürdig geschlechtslose, sphinxhafte, aber irgendwie allwissende Mutterwesen als Wegweiserin.
Auf dieser Kontrastfolie – der unherrischen Herrschaft einer unfraulichen Frau – entsteht das Bedürfnis nach Reidentifizierung mit Männlichkeit und Heroentum, wie es vor kaum einem Dreivierteljahrhundert noch die politischen Faktizitäten bestimmte. Selbst Kennedy, der Don Juan im Weißen Haus, dem aber seine Kriegsverletzung das orphische Signum des Leidenden und Vielgeliebten gab, hatte noch die ganz klassische Aura des Führers, und als solcher wurde er von den Mensche gesehen und begrüßt, nicht zuletzt von den Berlinern 1962. Filme wie „Rommel “aus der bewährten Münchner Unterhaltungsschmiede Teamworx bedienten geschickt und unter dem legitimen Mäntelchen, sowohl politisch als auch historisch wirklich und bis in die Fingerspitzen korrekt zu sein, die Sehnsüchte nach „manliness“ und Führung, nach heroischer Dramatik und militaristischer Emphase, die bei jungen Frauen und Männern heutzutage sehr, sehr präsent sind. In Deutschland hat sich in den letzten zehn Jahren ein bestimmtes Ideal von Männlichkeit entwickelt, das den Habitus des Metrosexuellen und des Hipsters geschickt adaptiert hat, um ihn aber hinter sich zu lassen und zusammenzuführen mit dem Habitus des smarten, weltläufigen Kriegers. James Bond als Wehrmachtsoffizier, Goethe und Generalstab, Sherlock Holmes und Prinz William – die Synthese des scheinbar Antinomen hat die deutsche Heroen- und Herrenphantasie längst vollzogen, mit dem Panorama der Kriegszeit als virtuellem Abenteuerspielplatz, auf dem der Heros sich zu bewähren hat.
Die deutsche Gesellschaft ist mit meiner Generation, so viel lässt sich sagen, aus der Bräsigkeit der Nachkriegsjahrzehnte und der Achtziger Jahre erwacht. Mit den scheinbar konträren Matrizes von Pop- und Geschichtskultur hat sie sich – oder sie ist gerade dabei – ein eigenes kollektives Über-Ich erarbeitet, mit dem sich operieren lässt: im Privaten, indem man sich und seinen alltäglichen Lebenskampf, der durch die Wirtschafts- und Finanzkrise nicht leichter geworden ist, emphatisch mit den Topoi eines vergangenen Heroentums identifiziert; im Politischen dadurch, indem man diese Topoi bewusst ausblendet und einen möglichst staubtrockenen Pragmatismus pflegt. Auch deshalb ist Angela Merkels Position im achten Jahr ihrer Kanzlerschaft stabiler denn je: erstens will man keinen Heroen auf ihrem Thron; und zweitens haben die heroischen Typen selber wenig Lust auf das Bohren dicker Bretter, was Politik heute beinahe ausschließlich noch ist. Ihr Kampfplatz ist das Leben, ihr Schlachtfeld ist die Liebe: das reicht, dadurch sind sie genügend herausgefordert. Politiker wird beziehungsweise bleibt heute nur noch, wer es wirklich im zivilen Leben nicht geschafft hat.
Eine politische Aufladung besitzt die Neubebwertung oder besser Neuauffassung der deutschen Geschichte durch die Deutschen folglich nicht. Man wird niemandem rechtes Gedankengut unterstellen können, nur weil ihn der Anblick von Uniformen fasziniert, weil er vom Zeremoniell des Großen Zapfenstreichs ergriffen ist oder sich dank ZDF History in der „jüngsten Vergangenheit“ erstaunlich gut auskennt. Existenzielle Streitbarkeit, eine gewisse auratische Militanz sind nichts Abseitiges oder Verpöntes mehr, sondern gehören zum Selbstbild zahlreicher Männer ebenso wie zum Erwartungshorizont von Frauen, die auf dem Prinzenmarkt nach dem männlichen Gesamtkunstwerk Ausschau halten. Die USA, mehr aber noch England mögen bei dieser Popularisierung des Historischen, die zugleich eine Historisierung des Pop bedeutet, Pate gestanden sein. Denn es zeichnet das Mutterland der Popkultur aus, dass sich in ihm stets die Extreme berühren: der von allen Rechtskonservativen angebetete Hort der Reaktion, der zugleich die älteste Tradition in Demokratie und Toleranz vorweisen kann. Die steifoberlippige Erbmonarchie, die von den Beatles bis zu Robbie Williams der Popmusik ihren Stempel aufgedrückt hat. Das Land, in dem auf einem Popkonzert die Prinzen William und Harry einer jubelnden Menge ganz protokollarisch korrekt als „their royal highnesses“ angekündigt werden.
Da ist es kein Wunder, dass England, als Nation ein Gesamtkunstwerk, in den Deutschen seine treuesten Bewunderer hat: Das Royal Wedding 2011 wurde in Deutschland mehr als in jedem anderen europäischen Land abgesehen von Großbritannien zum Mediengroßereignis: ein Mädchen, das einen echten Prinzen heiratet, der sie in der Uniform eines Gardeoffiziers, die Abzeichen eines Obersten auf der Schulter, mit Ordensschärpe über der trainierten Brust und den Offiziersdegen an der Seite zum Altar führt – hier werden uralte, ewige Sehnsüchte angetriggert, die in der moralisch entspannten Atmosphäre der Zehner Jahre zu reicher Blüte finden.
Moralisch ist das alles, wie gesagt, unbedenklich, aber es muss eben festgestellt werden. Die seltsamen moralphilosophischen Verkrampfungen der Grass, Walser und wie sie hießen liegen uns so meilenweit fern wie die pseudopolitische Ausflucht in eine Dogmatisierung des Alltäglichen, die den Sozialcharakter der Jahrgänge von den späten Fünfzigern bis zu den frühen Siebzigern beherrschte und auf deren Grund zum Beispiel die grüne Bewegung erwuchs; eine Bewegung von Bausparern und Neuwagenkäufern, kurz: von Leuten, die vom Ernst des Lebens, wie ihre Eltern sie kannten und wie wir ihn wieder kennen, nicht die leiseste Ahnung haben, und die auch deshalb so unheroisch, so ausstrahlungslos wirken. Das geile Liebäugeln mit dem Militarismus, mit dem Genus Grande, wie es die europäische Weltgeschichte einst bestimmte, passt bei uns ganz gut zu der oft beschämend knappen Alltagssituation, die für die bestausgebildete, qualifizierteste Generation seit je der Preis ist, den sie für ihren Schick, ihre Schneidigkeitk ihre Feingliedrigkeit zahlt.
Ein Kollege von mir aus dem katholischen Lager nannte diese Generation vor einigen Jahren die Generation Credo. Nun sind derlei übergreifende Zuschreibungen empirisch zweifellos problematisch; Fakt aber ist, dass wir, ob katholisch oder evangelisch oder einfach nur spirituell orientiert, uns dem Religiösen wieder mehr zuwenden – nicht um des Glaubens, sondern um der Aura, um der Verwurzelung, der Aufgehobenheit willen. Die Ablösungskämpfe der Generationen vor uns sind obsolet geworden in einer Zeit, in der alles kann und nichts muss; in der ohnehin alles erlaubt ist. Worum es uns geht, ist es, dem Leben eine Form zu geben, und wenn es geht: eine schöne und gute Form. Dasselbe Motiv aber gilt für unser Geschichtsbewusstsein: es geht um Formgebung, es geht um die Widerlegung der Behauptung Hannah Arendts, das Weltkriegszeitalter habe uns Nachgeborene in Weltlosigkeit erzogen und weltlos hinterlassen.
Tatsächlich ist kein Mensch und ebenso keine Epoche weltlos; gerade weil nämlich jeder Mensch und jede Epoche in seiner und ihrer Unmittelbarkeit zu Gott gewiss einzigartig ist, und dies jenseits von ihrer moralischen Qualität, die etwas irdisches und daher immer nur vorläufig ist. Das Dogma von der Singularität des Weltkriegszeitalters und des Dritten Reiches hat genau diesen Topos produziert: seither fühlte man sich als wie aus der Zeit gefallen, und der bundesdeutsche Nationalcharakter, wenn man davon sprechen darf oder kann, wurde genau von diesem Topos in der Tiefe geprägt. Ich erinnere mich noch gut an den TV-Spot, mit dem 2001 die Einführung des Euro beworben wurde: da war die Rede von Millionen von Träumen, da sang eine merkwürdig triste Frauenstimme „Auf Wiedersehen, D-Mark“. Als ob man zu einer Währung Aufwiedersehen sagen könnte!
Unsere Generation ist die erste, die ohne Ideologie und ohne Verkrampfung wieder holistisch, ganzheitlich auf die Vergangenheit und damit auf das Welt- und Geschichtsganze an sich blicken kann. Dafür, und für nichts weiter, ist die Historisierung der NS-Vergangenheit Indiz. Auch nach außen werden die letzten Schlacken dieser Vergangenheit abgetragen: die Aufarbeitung des Flakhelfer-Traumas, von der schon die Rede war, einige viel zu späte Strafprozesse gegen NS-Täter, das brisante Spiel mit Hitlervergleichen natürlich, mit denen die gebeutelte Bevölkerung in den Krisenländern regelmäßig Angela Merkel und die Deutschen überzieht, ohne das freilich zu ernst zu meinen.
Freilich: unser Holismus ist nicht unser Verdienst, wie überhaupt keine Haltung per se verdienstvoll ist. Er ergibt sich schlicht aus der geistigen Situation der Zeit: wir stehen gleichsam mitten in einer neuen Renaissance und haben den Scheitelpunkt des Übergangs zwischen Neuzeit und Nachneuzeit schon hinter uns. Wir sind nicht mehr weltlos, sondern sind gerade dabei, uns eine neue Welt zu bauen, die Fundamente einer künftigen Geschichte zu legen. Das gibt uns die geistige Kraft, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen und ihr damit das Recht zu geben, das sie so oder so, im Guten wie im Bösen, für sich reklamiert. Singulär und ahistorisch ist immer nur die unmittelbare, nicht fang- und fassbare Gegenwart; die Vergangenheit aber, die Geschichte ist das Bett, in das der Geist sich legt, wenn er sich ausruht von seiner Aufbauarbeit. Die „deutsche Vergangenheit“ ist eine Vergangenheit geworden wie andere Vergangenheiten auch; man mag das verurteilen, aber es ist ein Faktum, das nicht zu ändern ist. Und es ist, so viel lässt sich guten Gewissens sagen, alles, bloß keine Gefahr.

Obiger Essay entstand im Sommer 2013. Die weltpolitischen Ereignisse des Jahres 2014 – Gazakonflikt, Ukrainekrise, 4. Irakkrieg – werden in ihm nicht berücksichtigt.

Titelbild: Die Muse Kleio. Allegorischer Stich von Virgilius Solis, Nürnberg 1562. Quelle: Wikipedia.

Generation verantwortungslos – die Babyboomer

Jüngst hatte ich ein schönes Gespräch mit einem Kollegen über das Versagen der Generation Babyboomer. Ich brauchte nur wenige Stichworte in den Raum zu werfen, und er führte den Gedanken zu Ende, wie ich ihn zu Ende geführt hätte.
Wenn es je ein gemachtes Bett gab, dann jenes, in das sich diese Generation der in den 60er Jahren und drum herum Geborenen legte: diese ewigen Babyfaces, die sich nicht entblödeten, sich selbst (!) als „Generation Golf“ zu bezeichnen; diese ewig von Mutti Verwöhnten und von Papi Gepamperten, diese Bausparer und Mitgiftjäger, die als Milfhunter und als Sugardaddy eine gleichermaßen ridiküle und blamable Figur abgaben und jetzt abgeben. Menschen, nein: menschliche Ressourcen – denn so nennen sie sich selber -, die noch als Fünfzigjährige unterm Pantoffel ihrer nun greisenhaften Eltern stehn; die entweder als Kofferträger von X oder als Freundin von Y Karriere machten; die die Ideologien des Anything goes und des Catch as catch can mit primitiverer Penetranz vor sich hertragen, als es noch die beschränkteste Marketingassistentin in einer westdeutschen Kleinstadt täte.
Diese ewigen Riesenbabies haben keinen Krieg mitgemacht wie die Zwischenkriegskinder; sie haben auch kein zerstörtes Land wieder aufgebaut wie die Kriegs- und Nachkriegskinder; sondern sie haben nur verwaltet, ihr liebes, langes Leben lang, das im Grunde eine einzige Postpubertät geblieben ist. Sie haben in den 90er und dann in den Nuller Jahren mit ihrer grenzenlosen, unendlich kulturlosen Gier, die man sonst nur in Hollywoodfilmen findet, zwei Wirtschaftskrisen ausgelöst und die westliche Welt an den Rand des sozialen Notstands gebracht; sie haben jede politische Idee, ob von links oder von rechts, erst zu ihrem Vorteil benutzt und dann verraten; sie haben sich das Erbe ihrer Eltern und ihres Landes unter den Nagel gerissen und haben die Welt zu einem einzigen, großen Casino umgebaut. Nichts ist an Ihnen authentisch außer der grenzenlosen Verantwortungslosigkeit.
Von der väterlichen Güte, von der mütterlichen Wärme, die sie selber empfangen haben, haben sie ihren Nachfolgern nichts weitergegeben. Eine gründliche Unbildung, eine blasierte Ignoranz in Gefühlsdingen dringt ihnen aus allen Poren. Sie haben den sozialfaschistischen Marketingsprech in unser Idiom introduziert; sie haben den Altgriechischunterricht abgeschafft und geben dafür mit Iphones, Bonusmeilen und Fitnessgutscheinen an, die sie auf Firmenkosten erworben haben. Sie lassen Azubis in Lagerräumen „anbinden“ und Schwarzafrikanerinnen ohne Papiere ihre geschmacklosen „Lofts“ reinigen. Sie verursachen mit ihrer desaströsen Personalpolitik, die eines Lageraufsehers würdig wäre, tagtäglich menschliche Tragödien und lassen tausendmal Begabtere als sie selber jahrelang auf Anstellungen warten. Sie hören Rock’n’Roll nicht aus Rebellion gegen, sondern aus blanker Unkenntnis der klassischen Kultur; sie zerstören die Sozialsysteme und verpesten die Umwelt mit ihrem sinnlosen Herumgefliege zu noch sinnloseren Meetings, deren einziger evidenter Sinn das Hochschrauben der eigenen Gehaltsmaßstäbe und Pensionsansprüche ist.
Diese feisten Babygesichter, denen es nie an etwas fehlte, haben die körperliche Fitness zur Konfession und die materielle Kultur zur Ideologie erhoben und sind doch unschneidiger als jeder Theologiestudent, stilloser als jede Friseuse. Diese Nutznießer der europäischen Einigung, diese Profiteure des so genannten Wirtschaftswunders: sie sind dabei, Europa zu zerstören und das Wirtschaftsleben in ein Tollhaus zu verwandeln. Auf ihr Schuldkonto gehen die Generation Praktikum und das Prekarianertum. Geiz ist geil, aber nur für ihre Personalabteilungen: der kleine Mann soll munter sein Geld ausgeben und sich in alle Ewigkeit abhängig machen. Dabei wird er dann noch wahlweise als faul und arbeitsscheu („Hartz IVler“) bzw. verwöhnt und antriebslos („Generation Y“) beschimpft und verhöhnt. Selber wurden sie nie gedemütigt, dafür demütigen sie andere umso mehr. Man weiß nicht, ob man sie mehr hassen oder verachten soll. –
Ein kleiner Trost immerhin bleibt: dass diese Generation in den Geschichtsbüchern allerhöchstens als Fußnote überleben wird. Und bei allem, was man über sie sonst denken muss: es bleibt Angela Merkels dauerndes Verdienst, dass sie alles dafür getan hat, dass diese Generation kein Stückchen echte politische Macht erhalten hat.

Konsum ist nicht gleich Bürgertum

Im neuen Buch von Christian Thielemann las ich kürzlich den Satz: „Das Wort ‚gutbürgerlich’ bedeutete in meiner Jugend nicht nur den Majoran zu Weihnachtsgans, sondern Bach, Beethoven, Brahms, Bruckner.“ Man muss kein Fan von Thielemann sein, um doch die Wahrheit zu begreifen, der in diesem Satz liegt. Bürgerlichkeit definiert sich nämlich nicht übers Materielle, sondern über den Geist. Das ist nicht nur kultiviert, es hat auch einen sozialen Hintergedanken. Geistige Kultur nämlich kostet nichts. Sie ist die einzige legitime Wurzel des Bürgerlichen.

Das hat auch historische Gründe. Die moderne deutsche Bürgerlichkeit, die zum Vorbild für ganz Europa wurde, hat ihre Ursprünge im 18. Jahrhundert. Die Kultur der deutschen Klassik und Romantik, ob in Literatur, Malerei oder Musik, ist hervorgegangen aus klein- und kleinstbürgerlichen Verhältnissen. Im Deutschland des späten Ancien Régime gab es, anders als in den reichen Nachbarstaaten Holland, Frankreich und England, kein relevantes Besitzbürgertum; die Blüte des deutschen Geistes wuchs empor aus weitgehend mittellosen Pastoren-, Schulmeister- und Handwerkerhaushalten. Das aber gab ihr erst ihren Schwung und ihre Größe, der bald ganz Europa begierig nacheiferte.

Bürgerlichkeit ist ursprünglich und wesenhaft etwas Auratisches, sie lässt sich nicht über Konsum oder Besitz definieren. Man schaue sich ihre historischen Ursprünge genau an: Als Friedrich der Große Ende 1759 vor den ihn bedrängenden Alliierten im verschneiten Leipzig Zuflucht nahm, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als sich mit Christian Fürchtegott Gellert zu treffen. Der damals berühmteste Dichter deutscher Zunge lebte in einem armseligen Zimmer und bekannte freimütig, die einzige Reise seines Lebens habe ihn nach Berlin geführt. Man muss sich das vorstellen: der König von Preußen und Oberbefehlshaber einer Armee von 150.000 Mann hat mitten im Krieg nichts Besseres zu tun, als sich mit diesem armen Männlein, dessen Verse indessen in ganz Europa gelesen wurden, zu verabreden und sich mit ihm über Homer und Tacitus zu unterhalten.

Immanuel Kant, der die abendländische Philosophie revolutionierte, hockte sein Leben lang in seiner Junggesellenwohnung in Königsberg. Aber er wurde gelesen vom reichen Landadel, von Fürsten, Königen und Kaisern. Sein Schüler Johann Gottlieb Fichte war ein Bauernkind, das dank fürstlichem Stipendium nach Schulpforta kam. Und Friedrich Schiller, der die großartigsten Dramen hinterlassen hat, die in deutscher Sprache geschrieben wurden, blieb zeit seines Lebens ein armer Schlucker, der sich abwechselnd von seinen Gönnern und seinen Freundinnen (bzw. deren Müttern) Geld pumpen musste. Einzig Goethe, der Frankfurter Patriziersohn, fällt aus diesem Schema: die berühmte Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Selbst der dichtende Adel war selten vermögend, Heinrich von Kleist etwa bettelte abwechselnd seine Tante und die Königin Luise um ein paar Taler an und erschoss sich schließlich auch deshalb, weil es hinten und vorne nicht reichte. Und in Frankreich? Da war es nicht der reiche Sack Voltaire, sondern Rousseau, das arme Würstchen, der Frankreich und ganz Europa in die Revolution führte – das ewige Waisenkind aus der Schweiz, chronisch klamm, lebenslang angewiesen auf Wohltäter und mehr noch Wohltäterinnen, die ihn in der Einsamkeit seine Werke schreiben ließen, die die Welt verändern sollten.

Aus dieser materiellen Enge heraus erwuchs das imposanteste Kulturleben, das unser Zeitalter überliefert, und es konnte nur deshalb die ganze Gesellschaft, Arme und Reiche, bis heute erfassen, weil es ganz Geist war, weil die so genannte „materielle Kultur“ in ihm keine Rolle spielte und auch nicht spielen sollte. Kultur war Konsumersatz, und sie war allen zugänglich: Alles, was man dazu brauchte, war Bildung, und die wurde mehr und mehr zum Allgemeingut, auch dank Herrschern wie eben Friedrich, der in seinem besseren Landhaus Sanssouci zwar ganz unkönigliche Tischsitten pflegte, bei denen der englischen Gentry vor Schreck der Löffel in den Tee gefallen wäre, der aber selbst im schäbigsten Feldhauptquartier Epigramme schrieb und Flötensonaten spielte, die sich die Wache vor der Tür dann anhören durfte.

So wurden im 19. Jahrhundert Kultur und Bildung nicht nur zum Schlüssel des Aufstiegs – nein, sie waren ein Selbstzweck, ein Besitz, den man um seiner selbst willen pflegte und der den Kern dessen ausmachte, was man bürgerlich nennt.

Wer dagegen heute seine vermeintliche Gutbürgerlichkeit über den Flachbildfernseher und die Espressomaschine definiert, aber keine Bachfuge von einer Mozartsonate unterscheiden kann und weder das Vaterunser noch das Avemaria beherrscht, ist kein Bürger.

Aber dem Taxifahrer neulich, der auf der Fahrt seelenruhig das frühe d-Moll-Konzert von Mendelssohn mit Gidon Kremer hörte, hätte ich am liebsten ein Trinkgeld von 100 Euro in die Hand gedrückt. An diesem Mann sollten sich all jene, die so gerne bürgerlich sein wollen, ein Beispiel nehmen.

Bei obigem Text handelt es sich um einen überarbeiteten Auszug aus meiner im September 2012 auf Cicero online erschienenen Kolumne: http://www.cicero.de/salon/oeko-konsum-bedeutet-nicht-buergertum/52692

Das Titelbild zeigt die Begegnung Friedrichs des Großen mit Christian Fürchtegott Gellert am 11. Dezember 1760 im Apelschen Haus in Leipzig in einer Radierung von Daniel Chodowiecki aus dem Jahr 1789.