Die Causa Özil ist in Wahrheit eine Causa Erdogan

Nicht türkischer Patriotismus, sondern der türkische Nationalismus ist das Problem

Lange habe ich gezögert, mich zur Causa Özil zu äußern. Denn gleich dreifach fühle ich mich durch sie persönlich angesprochen: als Fußballfan, der den Sport leidenschaftlich verfolgt. Als Deutscher, der durch den Komplex Rassismus und Ausländerfeindlichkeit in besonderer Weise historisch belastet ist. Und als Grieche, den ein spezielles Verhältnis mit dem Türkischen verbindet, das noch älter und tiefer ist als das deutsch-türkische Verhältnis.

Vorab: man muss Özils oft sehr zurückgenommene Selbstdarstellung auf und neben dem Spielfeld nicht mögen. Doch die Statistik spricht für sich: kein Mittelfeldspieler hat in den vergangenen Jahren in der deutschen Nationalelf so viele Torvorlagen geliefert wie Mesut Özil, und der Weltmeistertitel 2014 ist auch sein Verdienst. Bei einer solchen spielerischen Bilanz nachzutreten und ihm, wie es jüngst Uli Hoeneß tat, vorzuhalten, er habe zuletzt „nur einen Dreck gespielt“, ist unwürdig und schäbig – unabhängig davon, dass Özil bei seiner letzten WM in diesem Jahr tatsächlich versagte und, etwa im Südkoreaspiel, massenweise Chancen vergab. Ehre, wem Ehre gebührt.

Gegen Özil Patriotismus ist nichts einzuwenden

Etwas anders liegt die Sache beim leidigen Erdogan-Thema. Nun ist patriotisches Brimborium außerhalb Deutschlands nicht nur nicht ungewöhnlich, sondern gehört fest zur populären Kultur, so gut wie überall auf der Welt. Meine deutschamerikanischen Expartnerinnen mutierten gerne mal zu geradezu fanatischen US-Amerikanerinnen, denn das gehört sich nun mal. Ich selber habe meine erste Militärparade im Griechenlandurlaub in Athen erlebt: Mein Opa hatte mich mitgenommen, es war Anfang der Neunziger, und ich weiß heute noch, dass ich den Anblick der schier endlosen marschierenden Kolonnen, der aufgesessenen Artillerie und natürlich den Überflug der Luftwaffenformationen sehr genossen habe – auch wenn es heiß war und ich, wie alle Kinder, ellenlanges Herumlaufen und -stehen in der großstädtischen Sommerhitze eigentlich zutiefst hasste.

Und um schließlich nochmals auf die Fußball-Weltmeisterschaft zurückzukommen: wer sah, wie nach dem siegreichen Finale im Lushniki-Stadion der immer lustige, immer zu einem Scherz aufgelegte Antoine Griezmann vor seinem, kaum zehn Jahre älteren, Staatspräsidenten Emanuel Macron im strömenden Regen salutierte; wer anschließend Macron in der Kabine mit Pogba, Mbappé und Umtiti herumalbern sah, der wusste: dieser Sieg und diese Siegerehrung waren auch ein Akt der patriotischen Selbstvergewisserung eines Landes, das sich längst in einer wirtschaftlichen und auch politischen Krise befindet. Dieser Patriotismus aber ist nichts Dogmatisches oder gar Gewaltvolles, sondern etwas Spielerisches, quasi ein Rollenspiel mit der eigenen nationellen Identität, hilfreich eben bei der existenziellen Selbstvergewisserung, aber mehr auch nicht.

Gegen den patriotischen Gehalt in Özils Inszenierung mit Erdogan mitsamt einem zum Teil reichlich altmodischen Gepräge („hochachtungsvoll, für meinen Präsidenten“) ist also aus meiner Sicht nichts einzuwenden. Auch ich bin gerne Deutscher – und fühle dennoch in bestimmten Momenten sehr stark und sehr pathetisch den griechischen Anteil in mir. Das macht mich nicht weniger loyal gegenüber Deutschland.

Erdogan führt in Syrien einen lupenreinen Angriffskrieg

Problematisch aber ist hier die Figur Erdogans, und das heißt: die Figur, zu der er durch sein politisches Handeln in den vergangenen Jahren geworden ist. Erdogan führt in Syrien einen lupenreinen Angriffskrieg, der sich als Krisenintervention tarnt. Die Einnahme Afrins durch türkische Soldaten ist ein völkerrechtswidriger Akt, der indessen von der Weltgemeinschaft bislang nahezu widerspruchslos hingenommen wird. Die Gefangennahme und Inhaftierung Deniz Yücels war ebenso ein Rechtsbruch und mit den Normen des internationalen politischen Liberalismus nicht in Einklang zu bringen. Daran ändert auch nichts, dass sie womöglich als Retourkutsche für das abscheuliche so genannte „Schmähgedicht“ von Jan Böhmermann aus dem Jahr 2016 gedacht war, dessen Inhalt und Aussage sich bekanntlich Yücels Arbeitgeber, Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner, coram publico„zu eigen gemacht“ hatte. Einen Journalisten wie Yücel, der einfach nur seien Job macht, dafür durch Einzelhaft büßen zu lassen, wäre derart Ausdruck eines vordemokratischen, autokratischen Politikverständnisses, dass er vielleicht in Game of Thrones passen würde, aber schwerlich ins Jahr 2018.

Man kann ein großer, mächtiger Staat sein, ohne Recht zu brechen, wenigstens nicht derart eklatant. Kein Journalist der New York Times, kein Mitarbeiter der BILD-Zeitung muss fürchten, im Gefängnis zu landen, wenn er oder sie Donald Trump oder Angela Merkel öffentlich kritisiert.

Erschwerend kommt im Fall Özil, der eigentlich ein Fall Erdogan ist, hinzu, dass sich Erdogan auf eine nationalistische Tradition stützen kann, die in seinem Land fester verankert ist als in vielen anderen modernen Gesellschaften. Wie das Deutsche Reich wurde das Osmanische Reich 1919 von den (westlichen) Siegermächten zerschlagen, doch anders als Deutschland hat der türkische Nationalismus und Expansionismus nie einen derart scharfen Dämpfer erhalten wie Deutschland schließlich 1945.

Seit 1974 hält die Türkei Nordzypern völkerrechtswidrig besetzt

Das sieht man an der politischen Kultur wie an der (außen)politischen Praxis der Türkei gestern wie heute. Seit 1974 hält die türkische Armee das nördliche Drittel Zyperns besetzt – gegen das Völkerrecht und gegen den Willen der Weltgemeinschaft. Bis heute hat kein Staat, nicht die USA, nicht Russland, das türkische Protektorat über Nordzypern anerkannt. Bis heute kommt es beinahe im Wochentakt zu Verletzungen des griechischen Hoheitsgebiets in der Ägäis durch die türkische Luftwaffe, ohne spürbare Sanktionen. Und im Syrienkrieg schließlich sieht Erdogan seine Chance gekommen, sein Territorium zu arrondieren – scheinbar legitimiert durch die Rolle als geopolitische Ordnungsmacht, die die Westmächte der Türkei mangels Alternativen gelassen haben – 1923 im Vertrag von Lausanne und 1952 durch den – synchron mit Griechenland vollzogenen – Beitritt zur NATO.

Die Türkei müsse sich vergrößern, hieß es vor einiger Zeit in einem O-Ton aus einer türkischen Stadt, der in den deutschen Hauptnachrichten gesendet wurde. Hier stellt sich die Frage: wie vergrößern, und in welche Richtung? Waren wir da nicht schon weiter?

Das Problem ist nicht der Islam. Das Problem ist der türkische Nationalismus

Die Causa Özil wirft ein Schlaglicht auf einen gefährlichen türkischen Nationalismus, der seine Sprengkraft aus seiner Anachronizität gewinnt – gerade auch im Vergleich mit seinem geopolitischen Umfeld. Deutscher oder griechischer Patriotismus etwa ist – abgesehen von den paar Verrückten, die tatsächlich noch ernsthaft von der Rückholung Konstantinopels träumen oder immer noch den verlorenen Ostgebieten hinterhertrauern – nicht mehr als eine pittoreske, durchaus liebenswerte Allüre. Und in der arabischen Welt sieht es ähnlich aus. Die Syrer singen in ihrer Hymne von Assur und Harun Ar-Raschid, die Ägypter sind stolz auf die Pharaonen, die Mamelucken und Muhammad Ali (den Feldherrn, nicht den Boxer) – doch beide wissen sie, dass ihre großen Zeiten als Nationalstaaten längst vorbei sind. Lieber sehen sie sich als Araber und als Muslime – was, entgegen einem leider auch in Deutschland häufig anzutreffenden Vorurteil, zur Schaffung und Stärkung demokratischer Strukturen und auch zu einer gewissen weltanschaulichen Liberalität eher beiträgt als nationalistische Borniertheit. Sowohl dem Konzept der westernness als auch dem des Panarabismus wohnt ein bestimmter Universalismus inne, der ethnische und ideologische Grenzen durchbricht und nach innen und außen für Verständigung sorgen kann.

Anders aber sieht es mit dem türkischen Nationalismus aus, der mit einer unseligen Wagenburgmentalität einhergeht. Die offensive Vereinnahmung Özils durch Erdogan ist ein Instrument dieses Nationalismus. Er bewirkt nicht Verständigung und Ausgleich, sondern er verschärft Widersprüche und führt schlimmstenfalls zur Eskalation.

Was uns Hoffnung geben kann: viele Türkinnen und Türken sehen die Sache genauso. Auch unter ihnen sind viele ein anachronistisches autoritäres Regime leid und wünschen sich demokratische Reformen und eine Überwindung des Nationalismus, der nicht in unsere Zeit passt. Mesut Özil aber kann man nur bedauernd zurufen: nicht Dein Patriotismus als Türke war der Funke, der das Pulverfass zur Explosion brachte. Sondern die konkrete Person dieses Präsidenten, mit dem Du Dich öffentlich identifiziert hast, und die Politik, für die er steht.

© Konstantin Johannes Sakkas, 2018. Header. Messt Özil (.) und Recep Tayyip Erdogan, 2018. Quelle: http://www.zdf.de