Auf dem Kirchentag in Dresden hat der Ratsvorsitzende der Evangelisch Kirche Deutschland, Nikolaus Schneider, vor dem Fetisch Wachstum gewarnt: Man benötige endlich eine neue Definition dieses Begriffs, weil eine endliche Erde kein unendliches Wachstum vertrage. 2 SWR2 Aula vom 12.06.2011 Die Krise als Normalfall – Das Drama unserer Gegenwart Von Konstantin Sakkas 2 Genau um diese Kritik geht es heute auch in der SWR2 Aula.
Konstantin Sakkas ist Journalist und Philosoph aus Berlin. Er fordert angesichts der ökonomischen Katastrophe – siehe Börsencrash, siehe Verschuldung von Griechenland, angesichts der ökologischen Katastrophe – siehe Fukushima, eine radikale Umkehr: Weg vom unendlichen Wachstum, weg von der Expansion, weg vom Aktivismus hin zum …? Wohin es gehen soll, das erklärt er in seinem Vortrag.
Expansion, Aktivismus, Selbstverwirklichung – all diese Werte sind fraglich geworden. So stellt uns das Katastrophenjahr 2011, das gerade zur Hälfte um ist, nicht nur vor die Aufgabe, des humanitären, materiellen und ökonomischen Unglücks Herr zu werden, das mit unglaublicher Rasanz über uns kommt; sondern noch viel mehr stellt es uns vor die Frage, mit welcher inneren Haltung wir in Zukunft leben sollen, wenn wir nicht das Leben selbst irgendwann aufgeben.
In seinem Trauerspiel Ein Bruderzwist in Habsburg legt Franz Grillparzer dem melancholischen Habsburger-Kaiser Rudolf II. die Verse in den Mund:
„Drum ist in Sternen Wahrheit, im Gestein,
In Pflanze, Tier und Baum, im Menschen nicht.
Und wer’s verstünde still zu sein wie sie,
Gelehrig fromm, den eignen Willen meisternd,
Ein aufgespanntes, demutvolles Ohr,
Ihm würde leicht ein Wort der Wahrheit kund,
Die durch die Welten geht aus Gottes Munde.“1
Die wenigsten Bürger Europas, Nordamerikas oder Japans werden, „offiziell“ zumindest, in diesen Zeilen etwas finden, was ihrer aktuellen Lebenshaltung verwandt oder auch nur sympathisch wäre. Franz Grillparzer gilt als Dichter der österreichischen Reaktion, seine politische Haltung als hoffnungslos vormärzlich und altmodisch, verspätetes achtzehntes Jahrhundert; und doch verbirgt sich in seinen Versen ein Gedanke von geheimnisvoller Aktualität: der Gedanke der Ruhe.
Wollte man das Kennzeichen unseres Zeitalters in einem Wort bestimmen, so wäre es zweifellos die Unruhe. Ein fieberhafter, „hysterisch-destruktiver Aktivismus“2 waltet über unserer Zeit wie über keiner Epoche zuvor. Es ist, als wäre Hegels prophetisches Wort von der „Furie des Verschwindens“3 , das er über die Französische Revolution gebrauchte, erst heute wahr geworden. Unser nach außen hin so rationales, berechnendes Zeitalter orientiert sich in Wahrheit wie kaum eines zuvor an der irrationalen Größe schlechthin: am Gefühl. Das Gefühl ist das Unsicherste und Wechselhafteste am Menschen überhaupt. Auch Gefühl und Verantwortung – man hört es nicht gerne – sind einander diametral entgegengesetzt: denn Verantwortung zielt auf Beständigkeit; Gefühl aber auf den ständigen Wechsel, die zur Regel gewordene Unregelmäßigkeit, die dauernde Bereitschaft zur Umkehrung der Verhältnisse. Dieses Pragma der Umkehrung bestimmt unser Zeitalter. In ihrem Buch Vita activa, das 1960 erschien, hat es die Philosophin Hannah Arendt geistesgeschichtlich beschrieben:
„Die περιαγωγή, die Umkehr, die Plato[n] von dem Philosophen verlangt, läuft im Grunde auf eine Umstülpung der homerischen Weltordnung hinaus. Nicht das Leben körperloser Seelen nach dem Tode, wie in dem homerischen Hades, sondern das Leben an einen Körper gebundener Seelen auf der Erde spielt sich in der Höhle einer Unterwelt ab, und die Seele ist nicht der Schatten des Körpers, sondern der Körper ist der Schatten der Seele; verglichen mit Himmel und Sonne ist die Erde ein Hades [, also eine Unterwelt], und das Treiben der in Unwissenheit und Sinnlosigkeit gebannten Körper der Menschen auf dieser Erde entspricht genau der schattenlosen, substanzlosen, sinnlosen Bewegtheit der homerischen ‚Seelen’, die der Tod […] in die unterirdische Höhle gebannt hat.“ 4
Man muss diesen Abschnitt sehr genau lesen: Die Rede von der „schattenlosen, substanzlosen, sinnlosen Bewegtheit“ (wobei „schattenlos“ soviel meint wie spurlos oder folgenlos) passt nämlich exakt auf die Lebenshaltung der heutigen Gesellschaft – und zwar im Öffentlichen wie im Privaten, politisch und wirtschaftlich ebenso wie emotional und erotisch. Nicht nur, dass wir das Prinzip der Relativität längst zum Dogma erhoben haben, das sonderbarerweise nicht hinterfragt wird; viel wichtiger noch ist, dass wir unsere politische, wirtschaftliche und biographische Ordnung diesem Dogma komplett unterworfen haben. Unter dem Tarnbegriff der Selbstverwirklichung pflegen wir in Wahrheit einen Lebensstil, der uns konsequent vom eigenen Selbst entfremdet. Wer immer sich den politischen Entscheidungsprozess – man denke an die Pirouetten, die derzeit in puncto Atomkraft gedreht werden –, die Börsenkurse oder unser Paarungsverhalten in Ruhe anschaut, muss den Eindruck haben, dass er es hier nicht mit rationalen, erwachsenen Menschen zu tun hat; sondern mit lauter Verrückten. Um wieder Goethe zu zitieren:
„Ach, so viele tausend Menschen kennen,
Dumpf sich treibend, kaum ihr eigen Herz,
Schweben zwecklos hin und her und rennen
Hoffnungslos in unversehnem Schmerz;
Jauchzen wieder, wenn der schnellen Freuden
Unerwart’te Morgenröte tagt […].“ 5
„Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ – eine phlegmatische Sinnlichkeit und eine aggressive Emotionalität durchwalten unseren angeblich aufgeklärten Zeitgeist. Das Private selbst ist Beruf geworden, und Normen aus der Emotionalsphäre werden rücksichtslos dem Berufsleben oktroyiert. Niemals wurde karrieristische Selbstentfaltung so sehr als das höchste Lebensziel, als die Erfüllung aller Träume, als Garantie der individuellen Glückseligkeit angepriesen wie im so genannten weiblichen Zeitalter. Umgekehrt aber hat der Furor des Politikmachens von unserer Privatsphäre erbarmungslos Besitz ergriffen: In einer gnadenlosen Verfälschung der Idee der Selbstverwirklichung, die eigentlich Selbsterkenntnis, also einen geistigen Vorgang, meint, deuten sich Menschen aller Altersstufen die eigene Lebensfrist in einer seltsamen Mischung aus Naivität und Rohheit zur erotisch-beruflichen Frontbewährung um: von der Schülerin, die Depressionen hat, weil sie vielleicht als Sechzehnjährige noch nicht mit einem Jungen geschlafen hat, über den dreißigjährigen Hochschulabsolventen, der, zerrissen zwischen großen Plänen und Minderwertigkeitskomplexen, als ewiger Praktikant und ständig pleitebedroht durch den Arbeitsmarktdschungel irrt, bis zum endlich und unter unsäglichen Mühen erfolgreich gewordenen Fünfzigjährigen, dessen Lebensbahn sich nun aber nur mehr zwischen lauter wild gewachsenen Lebenslügen hinzieht. Man lebt nicht mehr; man wird gelebt. Man macht „Politik“, Lebenspolitik.
„Tantae molis erat Romanam condere gentem“, „Also mühevoll war’s, das römische Volk zu begründen“6 – diesen pathetischen Leitspruch des Alten Roms, der eine blutige, hektische und im Grunde chaotische Gewaltherrschaft mythologisch legitimieren sollte, hat die westliche Gesellschaft zweitausend Jahre später als Leitspruch von Existenz überhaupt adaptiert: man ist, so scheint es, nachgerade vernarrt in die Vorstellung von einem Leben, das sich hinzieht zwischen orgasmushaften Aufschwüngen und katastrophalen Abstürzen, ob auf dem Börsenparkett oder im Schlafzimmer; zwischen dümmlicher Euphorie und billiger Verzweiflung; zwischen naiver Illusion und erwartbarer Enttäuschung. Es ist sicher kein Zufall, dass die Volkskrankheit unserer Epoche der Krebs ist; jene Krankheit, deren wirres, planloses und gefräßiges Wachstum wie ein grausiges Abbild unserer verkrampften, pseudoekstatischen Lebenshaltung wirkt; ein wahrhaftes Ebenbild unseres beschädigten Lebens.
An die Stelle der Terrorisierung durch den Staat ist die Terrorisierung durchs Private getreten. Heute bedarf es keiner monströsen Autorität mehr, die junge Männer in den Krieg schickt und junge Frauen einer falschen Regulierung ihres emotionalen und sexuellen Haushalts unterwirft; nein, die Unterwerfung vollziehen wir selber qua der sinnlosen Hetzjagd nach dem so genannten individuellen Glück, hinter dem sich tatsächlich meist die Chimäre eines ungesunden und ephemeren Genusses verbirgt. Alle paar Augenblicke den Partner, den Beruf, den Aufenthaltsort zu wechseln, gilt nicht als anstrengend, krankhaft und psychopathisch, was es eigentlich ist; sondern als chic, zeitgemäß und menschengerecht. Es herrscht geradezu ein Kult der Labilität.
Diese Labilität hat ihre Wurzel zum einen in der modernen Wirtschaftsordnung; zum anderen aber in den modernen Territorialstrukturen mit ihren Abermillionen von Einwohnern, wo der Einzelne nur mehr die Wahl hat: entweder mitzumachen in dem hysterischen Kampf um Geld, Anerkennung und „Erfolg“; oder aber unterzugehen in der Masse und abgedrängt zu werden an den Rand. Die Möglichkeit, bescheiden und trotzdem auskömmlich und „gut“, das heißt ungestört und friedvoll zu leben, fehlt in unseren aufgeblähten Flächenstaaten, die wir ausgerechnet vom fürstlichen Absolutismus der frühen Neuzeit übernommen haben. Der europäische Territorialstaat, an dem sich die USA in ihrem nation building im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert ein Beispiel nahmen, ist ein Überbleibsel des dynastischen Zentralismus, der im späten Mittelalter seinen Ausgang nahm. Damals verloren Regionen, Städte und viele kleine Bauern und Hintersassen unter dem brutalen Druck monarchischer Konsolidierungsbemühungen ihre Selbständigkeit und wurden zwangsweise in den frühmodernen Staatsverband eingegliedert. Die moderne Standes- und Klassengesellschaft, deren traumatisierende Wirkung bis heute anhält, nahm hier ihren Anfang; erst damals wurden aus den Hunderttausenden kleinen, mehr oder weniger selbständigen Bauern mehr oder weniger rechtlose Leibeigene.
Unsere bürokratische Staatsorganisation, aber auch der Oligopolismus, der die heutige kapitalistische Wirtschaft auf vielen Feldern, etwa in der Energiebranche, bestimmt, sind Ausläufer dieser Entwicklung, die ein halbes Jahrtausend alt ist. Der existenzielle Alpdruck, den Staatsverwaltung und Wirtschaft auf den gewöhnlichen Bürger jeder Einkommensklasse ausüben, erklärt sich historisch aus der Akkumulation von Territorium unter gleichzeitiger Annullation persönlicher Freiheit seit dem vierzehnten Jahrhundert. Von dieser zwanghaften territorialen Enge des Absolutismus haben uns auch die Revolution von 1918, die demokratische Neuordnung von 1945 und ’49 und schließlich die Umwälzung von 1990 noch nicht befreit. So kommt es, dass heute noch Millionen Menschen eingepfercht in ein einziges Staatswesen leben, dessen Administration mit dieser Masse an Bewohnern natürlich absolut überfordert ist.
Die Wirkung dieser historischen Bedingung wurde durch formale Neuerungen nicht einfach aufgehoben: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“7 , schrieb Karl Marx in seinem Achtzehnten Brumaire. Dieser Satz ist so bedeutsam, weil er die Konvergenz von Exoterik und Esoterik so eindrücklich aufzeigt: Die gegenständliche, äußere Entwicklung, also der politische und wirtschaftliche Prozess, hinterlassen ihren Abdruck in der Seele des Menschen, und zwar individuell und kollektiv. Auch wenn der juristische Status sich längst geändert hat, bleiben innere Dispositionen nach wie vor bestehen; sie ändern sich erst unter therapeutischem Einfluss.
Doch Bedingung von Therapie ist Einsicht. So haben die Ereignisse in Japan viele Menschen zu einer grundlegenden Einsicht über die Risiken der Nutzung von Atomenergie geführt; grundsätzliche Zweifel an unserer Wirtschaftsordnung sind gleichwohl kaum laut geworden. Dabei gehört aber das Nuklearproblem in einen Zusammenhang mit jenen Problemen, die uns ohnehin seit einem Jahrzehnt vermehrt zu schaffen machen: die Aufblähung der Finanzmärkte, die gigantische Verschuldung aller Industriestaaten – etwa Japan und die USA sind faktisch bankrott –, die schleichende Inflation, die die wirtschaftliche Basis der Mittelschichten in allen entwickelten Ländern sukzessive zerstört sowie infolgedessen das enorme Verarmungsrisiko in unserer Gesellschaft überhaupt. Die ökologische Problematik steht also nicht allein im Raum; sondern sie gehört in und verweist auf einen höheren, größeren Zusammenhang: nämlich die kapitalistische Wirtschaftsordnung und ihre wesentlichen Elemente: Überproduktion, Ausbeutung von Ressourcen, sowie die Bindung realer Faktoren – nämlich Lebensqualität, Grund und Boden, Solidität des Staatshaushalts – an eine irreale Bedingung: nämlich das Geld.
Es ist gewiss kein Zufall, dass der Wortstamm der beiden wichtigsten Vokabeln unserer Zeit, Ökonomie und Ökologie, das griechische οἴκος ist, was übersetzt „Haus“ bedeutet. Wer also dem Wortsinne nach ökonomisch beziehungsweise ökologisch denken wollte, der denkt in den Kategorien von Häuslichkeit und Behausung. Häuslichkeit beziehungsweise Behaust-sein ist das Wesen des In-derWelt-seins. Das Wesen aber der heutigen Politik und insbesondere der modernen Wirtschaft ist zutiefst weltlos, das heißt: unbehaust, unbeheimatet, ungreifbar. Diese Unbehaustheit spiegelt sich in der tieferen Ideenlosigkeit, die sich bei jeder Nachfrage nach dem höheren Ziel eines Projekts sogleich offenbart: Die Vergeblichkeit so genannter großer Entwürfe, ob im Öffentlichen oder im Privaten, ist allgegenwärtig; die Hilflosigkeit unserer Politiker in der „Bewältigung“ von Ereignissen wie Fukushima, der Mangel an ideologischer Orientierung und die hieraus unweigerlich resultierende Entschlussschwäche sind offenkundig. Doch sie sind kein individuell vorwerfbares Versagen; sondern die logische Konsequenz aus der Bewusstseinslage unseres Zeitalters. Wenn man heute überhaupt etwas vorwerfen kann, dann ist es nicht ein Falsch-Handeln; sondern überhaupt das Handeln. Die wahre Alternative zum falschen Handeln wäre nämlich nicht das richtige; sondern das Nicht-Handeln. Das Nicht-Handeln ist die wahre Ethik des οἴκος.
Nicht-Handeln, wu wei – in diesem Gedanken fand der sagenhafte chinesische Denker Laotse Ursprung und Wesen des Seins und zugleich Maxime seiner Ethik. Selten war man weiter von diesem Gedanken entfernt als heute; denn der aktionistische Wahn des Machens und Wachsens, den einst nur eine schmale Oberschicht von Fürsten, Regierenden und Besitzenden auslebte, hält heute ganze Bevölkerungen in seinem Bann. Auch die ostasiatischen Völker, einst bekannt für ihren Quietismus und ihre Introvertiertheit, tun es uns längst gleich; welch ein Symbol für diesen Wandel, dass ausgerechnet in Japan sich die Katastrophe abspielt, die zum Fanal für ein energiepolitisches, ja überhaupt ein politisches Umdenken geworden ist; dass ausgerechnet in China diktatoriale Repression und Turbokapitalismus längst in einer unheiligen Allianz miteinander leben. Die unsägliche, primitive und pseudologische Wachstumsgeilheit, das geistes- und kulturgeschichtliche Markzeichen der europäischen Geschichte der vergangenen fünfhundert Jahre, hat im zwanzigsten Jahrhundert auch von China, dem alten Reich der Mitte, der Ruhe und der Introversion, Besitz ergriffen. Und während Europa sich vielleicht langsam von seiner alten Besessenheit erholt und heilt, kommen die jungen Wachstumstriebe in der Weltmacht China erst so richtig zum Blühen. Doch auch diese, nicht ungefährliche, Entwicklung darf Europa in seinem Erkenntnisprozess nicht hemmen.
Unseren pseudologischen, künstlichen Wachstumsbegriff, der eine rationalistische, aber nicht rationale Projektion archetypischer menschlicher Allmachts- und Befriedigungsphantasien ist, hat der Philosoph Bernhard Taureck kürzlich in dieser Sendung einer fundamentalen Kritik unterzogen. Es heißt dort unter anderem:
„Ein Mensch ist etwa mit zwanzig Jahren ausgewachsen. Ein Hund etwa mit einem Jahr. Ein Baum braucht länger. Menschen, Pflanzen und Tiere wachsen nur eine gewisse Zeit, dann gilt: Sie sind ausgewachsen.“ 8
Wachstum ist in seinem Wesen etwas Beschränktes. Es trägt sein Ziel, wie Aristoteles sagt: sein τέλος, in sich. Ja, man kann den Gedanken weiterspinnen und sagen: Beschränkung selbst ist das Wesen der Ausdehnung. Es ist die Aufgabe des Menschen, inmitten der universellen Grenzen- und Bodenlosigkeit, in die er hineingestellt ist, sein innerstes Selbst, sein Wesen zu finden und festzuhalten. Der Weg dorthin führt aber nicht über die Eroberung des buchstäblichen Welt-Raums, also die ideelle, materielle und sexuelle Inbesitznahme der menschlichen und natürlichen Umwelt; sondern über die freiwillige, einsichtige Beschränkung des Individuums auf das Nötige: auf sich selbst. So erst wird der Einzelne wirklich und eigentlich frei: „Non coerceri maximo, contineri tamen a minimo divinum est“ – Nicht vom Größten beeindruckt, sondern vom Geringsten getragen werden, ist das wahrhaft Göttliche.“9
Diese Beschränkung hat auch eine politische Dimension. Tatsächlich leben wir ja in einer Periode des rasanten Machtverlustes der Staatsorgane, und paradoxerweise nehmen diesen Machtverlust gerade kritische Medien und Öffentlichkeit nicht nur als selbstverständlich, sondern auch als gerecht hin. Alle Welt empörte sich über die Biegsamkeit eines Staatsapparates, der etwa einem AKW-Betreiber seine Unzuverlässigkeiten in Sicherheitsfragen geduldig nachsah, bis es zur Katastrophe kam und jeder regulierende Eingriff zu spät war; auch in Deutschland regt sich im Gefolge des Fukushima-Unfalls gewaltiger Unmut gegenüber dem Energielobbyismus und den Risiken, die er unbesonnen eingeht; doch Stimmen, die einen stärkeren Staat fordern würden, werden kaum laut.
Dabei wäre es an der Zeit, dass die Regierungen der mächtigen Staaten gemeinsam über ihre Neugestaltung nachdächten: Auflösung der großen Flächenstaaten in regionale und lokale Territorien; Gewährleistung von Grund und Boden oder eines Grundeinkommens für jeden Einwohner; genossenschaftliche Beteiligung aller mündigen Bürger an der Energieversorgung, an der Verkehrsverwaltung sowie an allen weiteren wesentlichen öffentlichen Institutionen: das könnten Elemente einer künftigen politischen Lebensordnung sein, die sich von den Macht- und Wachstumsphantasien der Vergangenheit endgültig verabschiedet hat; die jedem Menschen den Anteil am Ganzen gibt, den er braucht; und in der nicht mehr die öffentlichen Angelegenheiten Spielwiese menschlicher Triebhaftigkeit sind, sondern diese Triebhaftigkeit aufgehoben wird in eine Kultur der Innerlichkeit und der Schönheit.
Alles in unserer Zeit ruft nach einer Besinnung auf die natürlichen und vernünftigen Grenzen persönlicher und institutioneller Expansion. Das „Reich der Naturbegriffe“ und das „Reich des Freiheitsbegriffs“ 10: also die Sphäre der natürlich-tierhaften Beschränkung und die der existenziell-menschlichen Überschreitung, stehen zueinander nicht so sehr im Gegensatz; tatsächlich liegt die wahre Transzendenz im Rückzug, in der bewussten, sich notwendig ergebenden Beschränkung des Menschen auf sich selbst, in seiner politischen, wirtschaftlichen und emotionalen Introversion. Den aporetischen Punkt, an welchem wir heute mit unserem Politikmachen und unserem Wirtschaften angelangt sind, hat Hannah Arendt schon vor einem halben Jahrhundert hellsichtig beschrieben:
„Es ist uns gelungen, die dem Lebensprozess innewohnende Mühe und Plage so weit auszuschalten, dass man den Moment voraussehen kann, an dem auch die Arbeit und die ihr erreichbare Lebenserfahrung aus dem menschlichen Erfahrungsbereich ausgeschaltet sein wird. Dies zeichnet sich deutlich in den fortgeschrittensten Ländern der Erde bereits ab, in denen das Wort Arbeit für das, was man tut oder zu tun glaubt, gleichsam zu hoch gegriffen ist. In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders.“11
Das „Wesen“ dieser blind fluktuierenden Jobholdergesellschaft, die sich in der seriellen Monogamie in unserem Privatleben abbildet, ist ihre Unnatürlichkeit. Falsche Bedürfnisse, eingebildete Notwendigkeiten regieren unser Dasein, schaffen aber echte Not: gegenständliche, wie in Japan, die zugleich aber eine geistige Konsequenz hat, nämlich die Ablenkung des menschlichen Intellekts von der Suche nach dem Sinn seines Lebens, deren Voraussetzung ja gerade die Befreiung von jener urzeitlichen existenziellen Bedrohtheit ist, die ein unverantwortliches Handeln wie in Fukushima wiederherstellt.
Aber nur „die wenigsten Menschen bringen die Kraft auf, jene abstrakte Frage nach dem Sinn des Lebens wirklich und ernsthaft zu stellen; statt dessen lassen sie sich gehen im fieberhaften Wahn der Expansion und des Wachstums, politisch, wirtschaftlich, körperlich. Doch wohin dieser existenzielle Expansionismus führt, konnte man in Japan sehen, wo die atomare Katastrophe noch die schrecklichsten Wirkungen von Erbeben und Tsunami in den Hintergrund treten ließ. In einer solchen existenziellen Grenzsituation aber fragt man nur noch, wie unsere prähistorischen Vorfahren, ganz konkret: wie kann ich mich retten, wie kann ich überleben? In seinem zivilisatorischen Wahn fällt der Mensch gerade hinter die Zivilisation zurück und verspielt so das Privileg, das ihn vom Tier unterscheidet: nämlich nicht ums nackte Überleben kämpfen zu müssen, sondern frei nachdenken zu können.“12
Dieses Frei-nachdenken-können ist die wesentliche Auszeichnung des Menschseins. Seine Konsequenz für das praktische Leben sind aber nicht nur Zurückhaltung im Konsum und Beschränkung in der gesellschaftlichen Selbstdarstellung; sondern auch eine gewisse Untätigkeit, Langeweile und Einsamkeit. Nun ist zwar kein Mensch gerne einsam; aber dennoch ist Einsamkeit, entgegen aller Dogmatik des life style, sein innerstes Wesen: „Jeder Mensch ist doch völlig allein“13 , schreibt Marcel Proust an einer berühmten Stelle in seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Der Mensch ist – anders, als es unsere vulgärromantische Kulturindustrie mit Telenovelas und Partnerbörsen uns weismachen will – kein Herdentier, sondern Einzelgänger.
Der Einzelgänger aber strebt nicht nach der vermeintlich „großen“ Erfüllung; dafür ist er zu klug. Die großen Einzelgänger in der Tierwelt, etwa der Wolf, der Tiger, haben alle ihr fest umrissenes Revier, ihren Bezirk, ihren οἴκος, den sie benötigen, den sie aber auch nicht überschreiten. Nun ragt der Mensch zwar aus der Tierwelt heraus, steht aber mit seiner Körperlichkeit tief in ihr verwurzelt. Andererseits ragt er qua seines Geistes hinein in die Geisterwelt, das heißt also: die Welt jenseits der sichtbaren Welt. Aber auch hier gibt es keine erratische Expansion, kein wühlerisches, süchtiges Suchen mehr; sondern nur noch die Unbewegtheit und Klarheit, die aus der gelungenen Selbsterkenntnis kommt. Was ihm das Tier unbewusst vorlebt, steht dem Menschen als fernes zwar, aber wesentliches Ziel im Leben nach dem Tod vor Augen: Gott, dem Göttlichen näher zu kommen, um ihm schließlich, am Ende der Zeiten, gleich zu werden:
„Drum ist in Sternen Wahrheit, im Gestein,
In Pflanze, Tier und Baum, im Menschen nicht.
Und wer’s verstünde still zu sein wie sie,
Gelehrig fromm, den eignen Willen meisternd,
Ein aufgespanntes, demutvolles Ohr,
Ihm würde leicht ein Wort der Wahrheit kund,
Die durch die Welten geht aus Gottes Munde.“1
Nur die Furcht vor der vermeintlichen Langweiligkeit eines introvertierten und unpathetischen Lebens verleitet uns zu jenen vermeintlich großen Entwürfen, welche dann in Katastrophen enden, die uns ernüchtern, weil sie sinnlos und unnötig waren. Das war so in der politischen Geschichte, und es ist auch heute so, wo das Private, wo Ökonomie und Sexualität die Herrschaft über den öffentlichen Raum an sich gerissen haben. Auch unsere moderne Populärkultur, assistiert von Wirtschaft und Medien, folgt einer hysterischen, sich „existenzialistisch“ dünkenden Lebensethik; aber nicht im Sich-veräußern an die Dinge, im Erobern- und Besitzenwollen, sondern in der Ruhe und im Rückzug liegen der wahre Individualismus und die wahre „Erfüllung der Zeiten“. Die lächerliche Lebensphilosophie des „Ich will alles, und zwar sofort“ beweist keinen Fortschritt außer den der äußersten Verkümmerung des menschlichen Denkvermögens. Was wir dagegen brauchen, ist eine Lebensphilosophie der Ruhe.
Die Ruhe steht übrigens auch „im Zentrum des Christentums und der Christologie. Der Kirchenlehrer Augustinus etwa stellte sich das Leben im Paradies vor wie einen ‚ewigen Sabbat’, also einen ewigen Ruhetag. Heute spricht man zwar lieber von ‚Frieden’ als von ‚Ruhe’; doch die Friedensbotschaft, die etwa zu Weihnachten routiniert verkündet wird, meint weniger den äußeren, politischen Frieden […]; sondern vielmehr den inneren Frieden, also die Ruhe, die wir alltäglich durch sinnlose, unüberlegte und triebhafte Begehrlichkeiten gefährden und ruinieren. Ein nervöses Karrierepathos durchzittert unser berufliches wie privates Leben.“14 Dieses Pathos zittert fort in der physikalischen Erschütterung, deren Zeuge wir in diesem Frühjahr geworden sind; jedes Naturunglück ist auch ein Warnruf an den menschlichen Geist, und entsprechend sollten und müssen wir die Zeichen dieses Jahres 2011 deuten.
Das Zeitalter des Wachstums und der Expansion ist vorbei, öffentlich wie privat. Die westliche Menschheit, die dem Rest der Erdkugel zweitausend Jahre lang diese „Werte“ vorgelebt hat, hat nun die Aufgabe, ihr die neuen Werte der Selbstbeschränkung, der Innerlichkeit und der Ruhe vorzuleben. Denn hierin, und nirgends sonst, liegt die Zukunft des Menschengeschlechts. Zwei Erblasten sind es, die die atlantische Welt mit sich herumträgt: der römische Kult der Gewalt; und die, wie Hannah Arendt betonte, götzenhafte christliche Stilisierung des physischen Lebens zu „der Güter höchstem“15, die aber ihre Wurzel gerade in der ungeheuerlichen, brutalen und ignoranten Vergewaltigung des Menschseins durch den römischen Machtstaat hatte; von beidem, von der Idolatrie des Todes und der Idolatrie des Lebens und der Liebe, müssen wir uns befreien, vorbehaltlos und gründlich. Und: von beidem wussten das antike Judentum und Griechentum übrigens nichts; für sie zählte nur das lebendige Wort Gottes und die ewige Schönheit und Ordnung des Welt-Alls.
Die Ethik der Zukunft wird eine „Ethik der Entsagung sein. […] In einer Zeit, der die Unwägbarkeit menschlicher Existenz im Zeichen von Terrorismus, Umweltkatastrophe und weltweiter Verarmung immer klarer vor Augen steht, führt wahre Erkenntnis zurück auf das eigene Leben, die eigene Individualität und die Frage, wie sie zu behüten sei. Auch das bestangelegte Kapital wird irgendwann wertlos; wahren, absoluten Wert hat nur das Menschsein selbst.“16 Dieses Menschsein – es ist eine schwere, aber notwendige Einsicht – lässt sich nicht einholen in hektischer Aktivität, in jener aufgeheizten Lebens- und Liebesgeilheit, die das Kennzeichen unseres Privatlebens und unserer gesellschaftlichen Ordnung ist und die unsere Werbeindustrie in einer fortwährenden, sehr selbstgewissen und doch unsäglich dummen Stereotypie proklamiert; das Menschsein erschließt sich je nur dem Ruhigen, Besonnenen und Nachdenklichen. Jeder sollte sich fragen, was er wirklich in seinem Leben braucht; sei es an Besitz, an Partnerschaft oder an Prestige; und schnell wird man sehen, dass man selber sich wirklich genug ist. Die Auswirkungen einer solchen Selbstbescheidung wären heilsam nicht nur für den Einzelnen; sondern auch für die Gesellschaft und letztlich auch für die internationale Politik.
Hannah Arendt, die ein Leben in höchster, erzwungener Aktivität hinter sich hatte, stellte diese Einsicht an den Schluss ihres Buches Vita activa, das noch heute, nach fünfzig Jahren, aktueller ist als alle lebensgierige und lebensverherrlichende, aber im Grunde flache und uneinsichtige Modephilosophie und Modebelletristik unserer Zeit:
„Numquam se plus agere quam nihil cum ageret, numquam minus solum esse quam cum solus esset“ – „Niemals ist man tätiger, als wenn man dem äußeren Anschein nach nichts tut, niemals ist man weniger allein, als wenn man in der Einsamkeit mit sich allein ist.“17
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1 F. Grillparzer, Ein Bruderzwist in Habsburg, III. Aufzug, in: Sämtliche Werke. Hrsg. v. P. Frank und K. Pörnbacher, München 1960-65, Bd. 2, S. 362.
2 K. Sakkas, Sieg der Entsagung Leben und Sterben mit Schopenhauer. Deutschlandfunk, 19.09.2010: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/essayunddiskurs/1275126/.
3 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (= Gesammelte Werke, Bd. 3), Frankfurt/Main 1986, S. 435 f.
4 H. Arendt, Vita activa. Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 284.
5 Goethe, An Frau von Stein, in: Weimarer Ausgabe, Abt. I, Bd. 4, S. 97.
6 Vergil, Aeneis I 33, dt. v. J. Götte.
7 K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: K. Marx, F. Engels, Werke (MEW), Berlin 1956 ff., Bd. 8, S. 115.
8 B. H. F. Taureck, Wachstum über alles – Die Karriere einer Metapher. SWR 2, 24.09.2009, S. 3: http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/- /id=4737462/property=download/nid=660374/pj46hw/swr2-wissen-20090524.pdf.
9 Diesen Grabspruch des Hl. Ignatius von Loyola (1491-1556) stellte F. Hölderlin seinem Hyperion voran. © für die dt. Übersetzung: Konstantin Sakkas.
10 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werke in sechs Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1957, Bd. 5, S. 242 ff.
11 Arendt, S. 314.
12 Vgl. K. Sakkas, Was soll ich tun? Anmerkungen zur menschlichen Existenz. Deutschlandradio Kultur, 29.4.2011: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1445386/
13 M. Proust, Guermantes (= Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 3), dt. v. E. Rechel-Mertens, Frankfurt/Main 2004, S. 446.
14 Vgl. K. Sakkas, Zur Besinnung kommen Gedanken zu Hannah Arendts „Vita activa“. Deutschlandradio Kultur, 24.12.2010: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1349376/.
15 Arendt, S. 306.
16 Vgl. Sakkas, Sieg der Entsagung.
17 So Scipio d. J. nach dem Zeugnis Ciceros, zit. n. Arendt, S. 317.
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Obiger Text erschien erstmals im Rahmen der Sendung Aula im SWR 2, 12. Juni 2011.
Header: Kaiser Rudolf II. und Tycho Brahe. Gemälde von Eduard Ender, 1855.