Ein verstümmeltes Leben

Eine neue Hannah-Arendt-Biographie besticht durch bisher unbekannte Quellen. Sie machen indes das Fragmentarische im Leben der großen Denkerin nur noch deutlicher sichtbar

Eine leicht gekürzte und geänderte Version des Textes ist am 18. Oktober 2023 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen

Wenige zeitgenössische Gelehrte sind in der Geschichtswissenschaft und der Philosophie gleichermaßen zuhause; Thomas Meyer ist einer von ihnen. Dass seine nun erscheinende über fünfhundert Seiten lange Biographie von Hannah Arendt vom Piper-Verlag als neues Standardwerk beworben wird, liegt vor allem an den vielen unveröffentlichten Quellen, die Meyer, Professor an der LMU München, in minutiöser Archivarbeit zutage gefördert hat. Sie werfen ein neues, helleres Licht auf die „Dark Ages“ im Leben Arendts: jene Jahre zwischen der Flucht aus Deutschland 1933 und der Emigration buchstäblich auf dem letzten Drücker in die USA 1941. 

Die „wichtigste Lebens- und Denkerfahrung“ Arendts nennt Meyer diese Zeit, in der sich die Schülerin von Jaspers und Heidegger von der klassischen Philosophie lossagte und politische Aktivistin wurde. Als Mitarbeiterin der „Kinder- und Jugend-Alijah“ in Paris war sie an der Emigration einiger Hundert jüdischer Kinder nach Palästina beteiligt und wurde so wohl auch zu deren Lebensretterin. 

Nicht alles von dem, was Meyer erzählt, ist neu, vieles aber wurde lange Zeit übersehen. Etwa dass Arendt im Juni 1935 nach Haifa fuhr und sich einige Zeit in Palästina aufhielt (wo sie auch Kurt Blumenfeld kennenlernte), liest man schon in der Arendt-Biographie von Elisabeth Young-Bruehl 1977. Auch die Geschichte der rasch scheiternden Ehe mit Günther Stern (Anders) – sie heirateten am Tag von Heideggers vierzigstem Geburtstag – ist hinlänglich bekannt. 

Interessanter sind da entzaubernde Einblicke wie, dass Hannah „als Kind und Jugendliche mal übersensibel, mal genialisch, mal durchschnittlich, gar schlecht in der Schule war“, wie Meyer dem Tagebuch ihrer Mutter Martha entnimmt; oder dass sie im Juni 1972 im Gefolge der nachträglichen Anerkennung ihrer Habilitation („Lex Arendt“) über eine halbe Million Mark an entgangenem Lohn vom Land Baden-Württemberg erhielt. Die Zuerkennung des Sonning-Preises 1975 führte zu einem abermaligen Geldsegen von 200.000 Dänischen Kronen und zu einem „regelrecht tiefen Durchatmen“ Arendts, die nun, kurz vor ihrem Tod, „erstmalig übers Geldanlegen“ nachdachte. Sehr aufschlussreich ist auch die ausführliche Darstellung von Arendts Herkunft, zugleich ein Stück Sozialgeschichte des jüdischen Bürgertums, aber auch typisch für Intellektuellenherkünfte gestern und heute: erst unterbürgerliche „Landleute“, dann kleine Unternehmer, dann Firmeninhaber.

Das Buch lebt von Archivfunden wie einem Brief Leo Strauss‘ (1899-1973) an den Philosophen Jacob Klein vom 15. Oktober 1933 aus Paris. Darin zieht Strauss über Alexandre Kojève her, der „Hegels Religionsphilosophie mit einer sehr komischen, juvenil-senilen Einleitung“ lese und dabei wie eine Mischung aus „Ziegenbock und einem Mitglied der Heilsarmee“ wirke. Kojèves Pariser Vorlesung sollte die Hegelrezeption und die Geschichtsphilosophie des 20. Jahrhunderts revolutionieren. In dem Brief heißt es aber auch: „Deine speziellen Freunde Günther Stern-Hanna Arendt wohnen in unserer Pension (wir schneiden sie)“, und so ist dies das „älteste erhalten gebliebene Dokument“ über Arendts Pariser Exil.

Fast genauso spannend wie das – in Arendt-Kreisen ja zur Genüge gepflegte – Namedropping der jüdisch-deutschen Geistesgeschichte zwischen der Achse Heidelberg-Marburg, dem großen Intellektuellencancan im Pariser Exil der Dreißiger mit der Flucht über die Pyrenäen als infernalischer Coda und den Siebzigerjahren, als binnen weniger Jahre die „Generation Heidegger“ und auch die erste Generation der Frankfurter Schule ausstarben, ist ein Blick in Meyers Danksagung. Sie wimmelt vor Namen brillanter Denkerinnen und Denker der nicht-marxistischen politischen Theorie heute – eine kleine Geistesgeschichte der Jetztzeit in nuce

Meyer fügt einige neue Namen wie Leopoldine Weizmann oder Eva Stern, die Schwester von Günther Anders (recte Stern), in die Arendt-Rezeption ein, was sein Buch zum Meilenstein in der Forschung macht; aber tragen diese Additive auch zu einem präziseren beziehungsweise neuen Bild von Arendts Denken bei? Ihre politische Ideengeschichte operierte – wie auch die Anders‘, der sie vermutlich stärker beeinflusst hat als viele der in diesem Buch Genannten – mit der Figuration eines nach 1500 bzw. 1800 einsetzenden Verfalls der (europäischen) politischen Kultur, von einer wesenhaften hin zu einer instrumentellen Welthaltung; eine Synthese von Marx und Heidegger, wie sie seit siebzig Jahren für den Kapitalismus- und Technik- und nun auch für den Anthropozändiskurs leitend ist. Arendt habe Heidegger destruiert, indem sie seine Ontologie auf ihre Tauglichkeit für die politische Realität hin abgeklopft habe, schreibt Meyer zutreffend (und mit einer Spitze gegen die „konservative“ Arendt-Deuterin Antonia Grunenberg in den Endnoten). Aber wer destruiert Arendts um die Zauberworte „Polis“ und „Handeln“ herumgebaute politische Theorie und deren kulturpessimistische Pseudokonkretheit, die an der schnöden Realität politischer Befreiung – sei es die der Schwarzen oder die der Juden nach 1948 – wenig interessiert war?

Aufschlussreich sind Passagen über die Kindheit: die merkwürdig im Dunkeln bleibende Erkrankung (war es Syphilis?) des Vaters Paul Arendt und sein zeitweiliger Aufenthalt in der Psychiatrie, schließlich der frühe Tod von Vater und Großvater innerhalb kurzer Zeit. „Der geliebte Großvater schien nicht richtig vermisst zu werden“, beim Tod des Vaters habe Hannah gar versucht, „die Mutter zu trösten“. Hannah Arendt, eine Muttertochter, die früh erwachsen werden musste und sich Freiheit in Gefühlsdingen früh zu versagen lernte. 

Es wird als Verdienst von Meyers bewusst wenig theoretisierender Biographie gelten dürfen, die Aktivistin, „Macherin“ und Retterin Johanna Arendt-Blücher in den Vordergrund gestellt zu haben. Was sie dabei aber auch, und sei es unfreiwillig, enthüllt: Es war, wie das Anders‘, ein nur halbgelebtes Leben, das wenig echtes inneres Glück gekannt haben dürfte und um seine halkyonischen Tage brutal verstümmelt wurde.

© Konstantin Johannes Sakkas, 2023

Thomas Meyer: Hannah Arendt. Piper 2023, 528 S., 28€. EAN 978-3-492-05993-0

Bild: Hannah Arendt auf der Überfahrt nach Palästina, ca. Juni 1935. © Hannah Arendt Private Archive, für konkrete Nachweise siehe Meyer, Arendt

Die Krise als Normalfall – Das Drama unserer Gegenwart

Auf dem Kirchentag in Dresden hat der Ratsvorsitzende der Evangelisch Kirche Deutschland, Nikolaus Schneider, vor dem Fetisch Wachstum gewarnt: Man benötige endlich eine neue Definition dieses Begriffs, weil eine endliche Erde kein unendliches Wachstum vertrage. 2 SWR2 Aula vom 12.06.2011 Die Krise als Normalfall – Das Drama unserer Gegenwart Von Konstantin Sakkas 2 Genau um diese Kritik geht es heute auch in der SWR2 Aula.

Konstantin Sakkas ist Journalist und Philosoph aus Berlin. Er fordert angesichts der ökonomischen Katastrophe – siehe Börsencrash, siehe Verschuldung von Griechenland, angesichts der ökologischen Katastrophe – siehe Fukushima, eine radikale Umkehr: Weg vom unendlichen Wachstum, weg von der Expansion, weg vom Aktivismus hin zum …? Wohin es gehen soll, das erklärt er in seinem Vortrag.

Expansion, Aktivismus, Selbstverwirklichung – all diese Werte sind fraglich geworden. So stellt uns das Katastrophenjahr 2011, das gerade zur Hälfte um ist, nicht nur vor die Aufgabe, des humanitären, materiellen und ökonomischen Unglücks Herr zu werden, das mit unglaublicher Rasanz über uns kommt; sondern noch viel mehr stellt es uns vor die Frage, mit welcher inneren Haltung wir in Zukunft leben sollen, wenn wir nicht das Leben selbst irgendwann aufgeben.

In seinem Trauerspiel Ein Bruderzwist in Habsburg legt Franz Grillparzer dem melancholischen Habsburger-Kaiser Rudolf II. die Verse in den Mund:

„Drum ist in Sternen Wahrheit, im Gestein,

In Pflanze, Tier und Baum, im Menschen nicht.

Und wer’s verstünde still zu sein wie sie,

Gelehrig fromm, den eignen Willen meisternd,

Ein aufgespanntes, demutvolles Ohr,

Ihm würde leicht ein Wort der Wahrheit kund,

Die durch die Welten geht aus Gottes Munde.“1

Die wenigsten Bürger Europas, Nordamerikas oder Japans werden, „offiziell“ zumindest, in diesen Zeilen etwas finden, was ihrer aktuellen Lebenshaltung verwandt oder auch nur sympathisch wäre. Franz Grillparzer gilt als Dichter der österreichischen Reaktion, seine politische Haltung als hoffnungslos vormärzlich und altmodisch, verspätetes achtzehntes Jahrhundert; und doch verbirgt sich in seinen Versen ein Gedanke von geheimnisvoller Aktualität: der Gedanke der Ruhe.

Wollte man das Kennzeichen unseres Zeitalters in einem Wort bestimmen, so wäre es zweifellos die Unruhe. Ein fieberhafter, „hysterisch-destruktiver Aktivismus“2 waltet über unserer Zeit wie über keiner Epoche zuvor. Es ist, als wäre Hegels prophetisches Wort von der „Furie des Verschwindens“3 , das er über die Französische Revolution gebrauchte, erst heute wahr geworden. Unser nach außen hin so rationales, berechnendes Zeitalter orientiert sich in Wahrheit wie kaum eines zuvor an der irrationalen Größe schlechthin: am Gefühl. Das Gefühl ist das Unsicherste und Wechselhafteste am Menschen überhaupt. Auch Gefühl und Verantwortung – man hört es nicht gerne – sind einander diametral entgegengesetzt: denn Verantwortung zielt auf Beständigkeit; Gefühl aber auf den ständigen Wechsel, die zur Regel gewordene Unregelmäßigkeit, die dauernde Bereitschaft zur Umkehrung der Verhältnisse. Dieses Pragma der Umkehrung bestimmt unser Zeitalter. In ihrem Buch Vita activa, das 1960 erschien, hat es die Philosophin Hannah Arendt geistesgeschichtlich beschrieben:

„Die περιαγωγή, die Umkehr, die Plato[n] von dem Philosophen verlangt, läuft im Grunde auf eine Umstülpung der homerischen Weltordnung hinaus. Nicht das Leben körperloser Seelen nach dem Tode, wie in dem homerischen Hades, sondern das Leben an einen Körper gebundener Seelen auf der Erde spielt sich in der Höhle einer Unterwelt ab, und die Seele ist nicht der Schatten des Körpers, sondern der Körper ist der Schatten der Seele; verglichen mit Himmel und Sonne ist die Erde ein Hades [, also eine Unterwelt], und das Treiben der in Unwissenheit und Sinnlosigkeit gebannten Körper der Menschen auf dieser Erde entspricht genau der schattenlosen, substanzlosen, sinnlosen Bewegtheit der homerischen ‚Seelen’, die der Tod […] in die unterirdische Höhle gebannt hat.“ 4

Man muss diesen Abschnitt sehr genau lesen: Die Rede von der „schattenlosen, substanzlosen, sinnlosen Bewegtheit“ (wobei „schattenlos“ soviel meint wie spurlos oder folgenlos) passt nämlich exakt auf die Lebenshaltung der heutigen Gesellschaft – und zwar im Öffentlichen wie im Privaten, politisch und wirtschaftlich ebenso wie emotional und erotisch. Nicht nur, dass wir das Prinzip der Relativität längst zum Dogma erhoben haben, das sonderbarerweise nicht hinterfragt wird; viel wichtiger noch ist, dass wir unsere politische, wirtschaftliche und biographische Ordnung diesem Dogma komplett unterworfen haben. Unter dem Tarnbegriff der Selbstverwirklichung pflegen wir in Wahrheit einen Lebensstil, der uns konsequent vom eigenen Selbst entfremdet. Wer immer sich den politischen Entscheidungsprozess – man denke an die Pirouetten, die derzeit in puncto Atomkraft gedreht werden –, die Börsenkurse oder unser Paarungsverhalten in Ruhe anschaut, muss den Eindruck haben, dass er es hier nicht mit rationalen, erwachsenen Menschen zu tun hat; sondern mit lauter Verrückten. Um wieder Goethe zu zitieren:

„Ach, so viele tausend Menschen kennen,

Dumpf sich treibend, kaum ihr eigen Herz,

Schweben zwecklos hin und her und rennen

Hoffnungslos in unversehnem Schmerz;

Jauchzen wieder, wenn der schnellen Freuden

Unerwart’te Morgenröte tagt […].“ 5

„Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt“ – eine phlegmatische Sinnlichkeit und eine aggressive Emotionalität durchwalten unseren angeblich aufgeklärten Zeitgeist. Das Private selbst ist Beruf geworden, und Normen aus der Emotionalsphäre werden rücksichtslos dem Berufsleben oktroyiert. Niemals wurde karrieristische Selbstentfaltung so sehr als das höchste Lebensziel, als die Erfüllung aller Träume, als Garantie der individuellen Glückseligkeit angepriesen wie im so genannten weiblichen Zeitalter. Umgekehrt aber hat der Furor des Politikmachens von unserer Privatsphäre erbarmungslos Besitz ergriffen: In einer gnadenlosen Verfälschung der Idee der Selbstverwirklichung, die eigentlich Selbsterkenntnis, also einen geistigen Vorgang, meint, deuten sich Menschen aller Altersstufen die eigene Lebensfrist in einer seltsamen Mischung aus Naivität und Rohheit zur erotisch-beruflichen Frontbewährung um: von der Schülerin, die Depressionen hat, weil sie vielleicht als Sechzehnjährige noch nicht mit einem Jungen geschlafen hat, über den dreißigjährigen Hochschulabsolventen, der, zerrissen zwischen großen Plänen und Minderwertigkeitskomplexen, als ewiger Praktikant und ständig pleitebedroht durch den Arbeitsmarktdschungel irrt, bis zum endlich und unter unsäglichen Mühen erfolgreich gewordenen Fünfzigjährigen, dessen Lebensbahn sich nun aber nur mehr zwischen lauter wild gewachsenen Lebenslügen hinzieht. Man lebt nicht mehr; man wird gelebt. Man macht „Politik“, Lebenspolitik.

„Tantae molis erat Romanam condere gentem“, „Also mühevoll war’s, das römische Volk zu begründen“6 – diesen pathetischen Leitspruch des Alten Roms, der eine blutige, hektische und im Grunde chaotische Gewaltherrschaft mythologisch legitimieren sollte, hat die westliche Gesellschaft zweitausend Jahre später als Leitspruch von Existenz überhaupt adaptiert: man ist, so scheint es, nachgerade vernarrt in die Vorstellung von einem Leben, das sich hinzieht zwischen orgasmushaften Aufschwüngen und katastrophalen Abstürzen, ob auf dem Börsenparkett oder im Schlafzimmer; zwischen dümmlicher Euphorie und billiger Verzweiflung; zwischen naiver Illusion und erwartbarer Enttäuschung. Es ist sicher kein Zufall, dass die Volkskrankheit unserer Epoche der Krebs ist; jene Krankheit, deren wirres, planloses und gefräßiges Wachstum wie ein grausiges Abbild unserer verkrampften, pseudoekstatischen Lebenshaltung wirkt; ein wahrhaftes Ebenbild unseres beschädigten Lebens.

An die Stelle der Terrorisierung durch den Staat ist die Terrorisierung durchs Private getreten. Heute bedarf es keiner monströsen Autorität mehr, die junge Männer in den Krieg schickt und junge Frauen einer falschen Regulierung ihres emotionalen und sexuellen Haushalts unterwirft; nein, die Unterwerfung vollziehen wir selber qua der sinnlosen Hetzjagd nach dem so genannten individuellen Glück, hinter dem sich tatsächlich meist die Chimäre eines ungesunden und ephemeren Genusses verbirgt. Alle paar Augenblicke den Partner, den Beruf, den Aufenthaltsort zu wechseln, gilt nicht als anstrengend, krankhaft und psychopathisch, was es eigentlich ist; sondern als chic, zeitgemäß und menschengerecht. Es herrscht geradezu ein Kult der Labilität.

Diese Labilität hat ihre Wurzel zum einen in der modernen Wirtschaftsordnung; zum anderen aber in den modernen Territorialstrukturen mit ihren Abermillionen von Einwohnern, wo der Einzelne nur mehr die Wahl hat: entweder mitzumachen in dem hysterischen Kampf um Geld, Anerkennung und „Erfolg“; oder aber unterzugehen in der Masse und abgedrängt zu werden an den Rand. Die Möglichkeit, bescheiden und trotzdem auskömmlich und „gut“, das heißt ungestört und friedvoll zu leben, fehlt in unseren aufgeblähten Flächenstaaten, die wir ausgerechnet vom fürstlichen Absolutismus der frühen Neuzeit übernommen haben. Der europäische Territorialstaat, an dem sich die USA in ihrem nation building im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert ein Beispiel nahmen, ist ein Überbleibsel des dynastischen Zentralismus, der im späten Mittelalter seinen Ausgang nahm. Damals verloren Regionen, Städte und viele kleine Bauern und Hintersassen unter dem brutalen Druck monarchischer Konsolidierungsbemühungen ihre Selbständigkeit und wurden zwangsweise in den frühmodernen Staatsverband eingegliedert. Die moderne Standes- und Klassengesellschaft, deren traumatisierende Wirkung bis heute anhält, nahm hier ihren Anfang; erst damals wurden aus den Hunderttausenden kleinen, mehr oder weniger selbständigen Bauern mehr oder weniger rechtlose Leibeigene.

Unsere bürokratische Staatsorganisation, aber auch der Oligopolismus, der die heutige kapitalistische Wirtschaft auf vielen Feldern, etwa in der Energiebranche, bestimmt, sind Ausläufer dieser Entwicklung, die ein halbes Jahrtausend alt ist. Der existenzielle Alpdruck, den Staatsverwaltung und Wirtschaft auf den gewöhnlichen Bürger jeder Einkommensklasse ausüben, erklärt sich historisch aus der Akkumulation von Territorium unter gleichzeitiger Annullation persönlicher Freiheit seit dem vierzehnten Jahrhundert. Von dieser zwanghaften territorialen Enge des Absolutismus haben uns auch die Revolution von 1918, die demokratische Neuordnung von 1945 und ’49 und schließlich die Umwälzung von 1990 noch nicht befreit. So kommt es, dass heute noch Millionen Menschen eingepfercht in ein einziges Staatswesen leben, dessen Administration mit dieser Masse an Bewohnern natürlich absolut überfordert ist.

Die Wirkung dieser historischen Bedingung wurde durch formale Neuerungen nicht einfach aufgehoben: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“7 , schrieb Karl Marx in seinem Achtzehnten Brumaire. Dieser Satz ist so bedeutsam, weil er die Konvergenz von Exoterik und Esoterik so eindrücklich aufzeigt: Die gegenständliche, äußere Entwicklung, also der politische und wirtschaftliche Prozess, hinterlassen ihren Abdruck in der Seele des Menschen, und zwar individuell und kollektiv. Auch wenn der juristische Status sich längst geändert hat, bleiben innere Dispositionen nach wie vor bestehen; sie ändern sich erst unter therapeutischem Einfluss.

Doch Bedingung von Therapie ist Einsicht. So haben die Ereignisse in Japan viele Menschen zu einer grundlegenden Einsicht über die Risiken der Nutzung von Atomenergie geführt; grundsätzliche Zweifel an unserer Wirtschaftsordnung sind gleichwohl kaum laut geworden. Dabei gehört aber das Nuklearproblem in einen Zusammenhang mit jenen Problemen, die uns ohnehin seit einem Jahrzehnt vermehrt zu schaffen machen: die Aufblähung der Finanzmärkte, die gigantische Verschuldung aller Industriestaaten – etwa Japan und die USA sind faktisch bankrott –, die schleichende Inflation, die die wirtschaftliche Basis der Mittelschichten in allen entwickelten Ländern sukzessive zerstört sowie infolgedessen das enorme Verarmungsrisiko in unserer Gesellschaft überhaupt. Die ökologische Problematik steht also nicht allein im Raum; sondern sie gehört in und verweist auf einen höheren, größeren Zusammenhang: nämlich die kapitalistische Wirtschaftsordnung und ihre wesentlichen Elemente: Überproduktion, Ausbeutung von Ressourcen, sowie die Bindung realer Faktoren – nämlich Lebensqualität, Grund und Boden, Solidität des Staatshaushalts – an eine irreale Bedingung: nämlich das Geld.

Es ist gewiss kein Zufall, dass der Wortstamm der beiden wichtigsten Vokabeln unserer Zeit, Ökonomie und Ökologie, das griechische οἴκος ist, was übersetzt „Haus“ bedeutet. Wer also dem Wortsinne nach ökonomisch beziehungsweise ökologisch denken wollte, der denkt in den Kategorien von Häuslichkeit und Behausung. Häuslichkeit beziehungsweise Behaust-sein ist das Wesen des In-derWelt-seins. Das Wesen aber der heutigen Politik und insbesondere der modernen Wirtschaft ist zutiefst weltlos, das heißt: unbehaust, unbeheimatet, ungreifbar. Diese Unbehaustheit spiegelt sich in der tieferen Ideenlosigkeit, die sich bei jeder Nachfrage nach dem höheren Ziel eines Projekts sogleich offenbart: Die Vergeblichkeit so genannter großer Entwürfe, ob im Öffentlichen oder im Privaten, ist allgegenwärtig; die Hilflosigkeit unserer Politiker in der „Bewältigung“ von Ereignissen wie Fukushima, der Mangel an ideologischer Orientierung und die hieraus unweigerlich resultierende Entschlussschwäche sind offenkundig. Doch sie sind kein individuell vorwerfbares Versagen; sondern die logische Konsequenz aus der Bewusstseinslage unseres Zeitalters. Wenn man heute überhaupt etwas vorwerfen kann, dann ist es nicht ein Falsch-Handeln; sondern überhaupt das Handeln. Die wahre Alternative zum falschen Handeln wäre nämlich nicht das richtige; sondern das Nicht-Handeln. Das Nicht-Handeln ist die wahre Ethik des οἴκος.

Nicht-Handeln, wu wei – in diesem Gedanken fand der sagenhafte chinesische Denker Laotse Ursprung und Wesen des Seins und zugleich Maxime seiner Ethik. Selten war man weiter von diesem Gedanken entfernt als heute; denn der aktionistische Wahn des Machens und Wachsens, den einst nur eine schmale Oberschicht von Fürsten, Regierenden und Besitzenden auslebte, hält heute ganze Bevölkerungen in seinem Bann. Auch die ostasiatischen Völker, einst bekannt für ihren Quietismus und ihre Introvertiertheit, tun es uns längst gleich; welch ein Symbol für diesen Wandel, dass ausgerechnet in Japan sich die Katastrophe abspielt, die zum Fanal für ein energiepolitisches, ja überhaupt ein politisches Umdenken geworden ist; dass ausgerechnet in China diktatoriale Repression und Turbokapitalismus längst in einer unheiligen Allianz miteinander leben. Die unsägliche, primitive und pseudologische Wachstumsgeilheit, das geistes- und kulturgeschichtliche Markzeichen der europäischen Geschichte der vergangenen fünfhundert Jahre, hat im zwanzigsten Jahrhundert auch von China, dem alten Reich der Mitte, der Ruhe und der Introversion, Besitz ergriffen. Und während Europa sich vielleicht langsam von seiner alten Besessenheit erholt und heilt, kommen die jungen Wachstumstriebe in der Weltmacht China erst so richtig zum Blühen. Doch auch diese, nicht ungefährliche, Entwicklung darf Europa in seinem Erkenntnisprozess nicht hemmen.

Unseren pseudologischen, künstlichen Wachstumsbegriff, der eine rationalistische, aber nicht rationale Projektion archetypischer menschlicher Allmachts- und Befriedigungsphantasien ist, hat der Philosoph Bernhard Taureck kürzlich in dieser Sendung einer fundamentalen Kritik unterzogen. Es heißt dort unter anderem:

„Ein Mensch ist etwa mit zwanzig Jahren ausgewachsen. Ein Hund etwa mit einem Jahr. Ein Baum braucht länger. Menschen, Pflanzen und Tiere wachsen nur eine gewisse Zeit, dann gilt: Sie sind ausgewachsen.“ 8

Wachstum ist in seinem Wesen etwas Beschränktes. Es trägt sein Ziel, wie Aristoteles sagt: sein τέλος, in sich. Ja, man kann den Gedanken weiterspinnen und sagen: Beschränkung selbst ist das Wesen der Ausdehnung. Es ist die Aufgabe des Menschen, inmitten der universellen Grenzen- und Bodenlosigkeit, in die er hineingestellt ist, sein innerstes Selbst, sein Wesen zu finden und festzuhalten. Der Weg dorthin führt aber nicht über die Eroberung des buchstäblichen Welt-Raums, also die ideelle, materielle und sexuelle Inbesitznahme der menschlichen und natürlichen Umwelt; sondern über die freiwillige, einsichtige Beschränkung des Individuums auf das Nötige: auf sich selbst. So erst wird der Einzelne wirklich und eigentlich frei: „Non coerceri maximo, contineri tamen a minimo divinum est“ – Nicht vom Größten beeindruckt, sondern vom Geringsten getragen werden, ist das wahrhaft Göttliche.“9

Diese Beschränkung hat auch eine politische Dimension. Tatsächlich leben wir ja in einer Periode des rasanten Machtverlustes der Staatsorgane, und paradoxerweise nehmen diesen Machtverlust gerade kritische Medien und Öffentlichkeit nicht nur als selbstverständlich, sondern auch als gerecht hin. Alle Welt empörte sich über die Biegsamkeit eines Staatsapparates, der etwa einem AKW-Betreiber seine Unzuverlässigkeiten in Sicherheitsfragen geduldig nachsah, bis es zur Katastrophe kam und jeder regulierende Eingriff zu spät war; auch in Deutschland regt sich im Gefolge des Fukushima-Unfalls gewaltiger Unmut gegenüber dem Energielobbyismus und den Risiken, die er unbesonnen eingeht; doch Stimmen, die einen stärkeren Staat fordern würden, werden kaum laut.

Dabei wäre es an der Zeit, dass die Regierungen der mächtigen Staaten gemeinsam über ihre Neugestaltung nachdächten: Auflösung der großen Flächenstaaten in regionale und lokale Territorien; Gewährleistung von Grund und Boden oder eines Grundeinkommens für jeden Einwohner; genossenschaftliche Beteiligung aller mündigen Bürger an der Energieversorgung, an der Verkehrsverwaltung sowie an allen weiteren wesentlichen öffentlichen Institutionen: das könnten Elemente einer künftigen politischen Lebensordnung sein, die sich von den Macht- und Wachstumsphantasien der Vergangenheit endgültig verabschiedet hat; die jedem Menschen den Anteil am Ganzen gibt, den er braucht; und in der nicht mehr die öffentlichen Angelegenheiten Spielwiese menschlicher Triebhaftigkeit sind, sondern diese Triebhaftigkeit aufgehoben wird in eine Kultur der Innerlichkeit und der Schönheit.

Alles in unserer Zeit ruft nach einer Besinnung auf die natürlichen und vernünftigen Grenzen persönlicher und institutioneller Expansion. Das „Reich der Naturbegriffe“ und das „Reich des Freiheitsbegriffs“ 10: also die Sphäre der natürlich-tierhaften Beschränkung und die der existenziell-menschlichen Überschreitung, stehen zueinander nicht so sehr im Gegensatz; tatsächlich liegt die wahre Transzendenz im Rückzug, in der bewussten, sich notwendig ergebenden Beschränkung des Menschen auf sich selbst, in seiner politischen, wirtschaftlichen und emotionalen Introversion. Den aporetischen Punkt, an welchem wir heute mit unserem Politikmachen und unserem Wirtschaften angelangt sind, hat Hannah Arendt schon vor einem halben Jahrhundert hellsichtig beschrieben:

„Es ist uns gelungen, die dem Lebensprozess innewohnende Mühe und Plage so weit auszuschalten, dass man den Moment voraussehen kann, an dem auch die Arbeit und die ihr erreichbare Lebenserfahrung aus dem menschlichen Erfahrungsbereich ausgeschaltet sein wird. Dies zeichnet sich deutlich in den fortgeschrittensten Ländern der Erde bereits ab, in denen das Wort Arbeit für das, was man tut oder zu tun glaubt, gleichsam zu hoch gegriffen ist. In ihrem letzten Stadium verwandelt sich die Arbeitsgesellschaft in eine Gesellschaft von Jobholders.“11

Das „Wesen“ dieser blind fluktuierenden Jobholdergesellschaft, die sich in der seriellen Monogamie in unserem Privatleben abbildet, ist ihre Unnatürlichkeit. Falsche Bedürfnisse, eingebildete Notwendigkeiten regieren unser Dasein, schaffen aber echte Not: gegenständliche, wie in Japan, die zugleich aber eine geistige Konsequenz hat, nämlich die Ablenkung des menschlichen Intellekts von der Suche nach dem Sinn seines Lebens, deren Voraussetzung ja gerade die Befreiung von jener urzeitlichen existenziellen Bedrohtheit ist, die ein unverantwortliches Handeln wie in Fukushima wiederherstellt.

Aber nur „die wenigsten Menschen bringen die Kraft auf, jene abstrakte Frage nach dem Sinn des Lebens wirklich und ernsthaft zu stellen; statt dessen lassen sie sich gehen im fieberhaften Wahn der Expansion und des Wachstums, politisch, wirtschaftlich, körperlich. Doch wohin dieser existenzielle Expansionismus führt, konnte man in Japan sehen, wo die atomare Katastrophe noch die schrecklichsten Wirkungen von Erbeben und Tsunami in den Hintergrund treten ließ. In einer solchen existenziellen Grenzsituation aber fragt man nur noch, wie unsere prähistorischen Vorfahren, ganz konkret: wie kann ich mich retten, wie kann ich überleben? In seinem zivilisatorischen Wahn fällt der Mensch gerade hinter die Zivilisation zurück und verspielt so das Privileg, das ihn vom Tier unterscheidet: nämlich nicht ums nackte Überleben kämpfen zu müssen, sondern frei nachdenken zu können.“12

Dieses Frei-nachdenken-können ist die wesentliche Auszeichnung des Menschseins. Seine Konsequenz für das praktische Leben sind aber nicht nur Zurückhaltung im Konsum und Beschränkung in der gesellschaftlichen Selbstdarstellung; sondern auch eine gewisse Untätigkeit, Langeweile und Einsamkeit. Nun ist zwar kein Mensch gerne einsam; aber dennoch ist Einsamkeit, entgegen aller Dogmatik des life style, sein innerstes Wesen: „Jeder Mensch ist doch völlig allein“13 , schreibt Marcel Proust an einer berühmten Stelle in seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Der Mensch ist – anders, als es unsere vulgärromantische Kulturindustrie mit Telenovelas und Partnerbörsen uns weismachen will – kein Herdentier, sondern Einzelgänger.

Der Einzelgänger aber strebt nicht nach der vermeintlich „großen“ Erfüllung; dafür ist er zu klug. Die großen Einzelgänger in der Tierwelt, etwa der Wolf, der Tiger, haben alle ihr fest umrissenes Revier, ihren Bezirk, ihren οἴκος, den sie benötigen, den sie aber auch nicht überschreiten. Nun ragt der Mensch zwar aus der Tierwelt heraus, steht aber mit seiner Körperlichkeit tief in ihr verwurzelt. Andererseits ragt er qua seines Geistes hinein in die Geisterwelt, das heißt also: die Welt jenseits der sichtbaren Welt. Aber auch hier gibt es keine erratische Expansion, kein wühlerisches, süchtiges Suchen mehr; sondern nur noch die Unbewegtheit und Klarheit, die aus der gelungenen Selbsterkenntnis kommt. Was ihm das Tier unbewusst vorlebt, steht dem Menschen als fernes zwar, aber wesentliches Ziel im Leben nach dem Tod vor Augen: Gott, dem Göttlichen näher zu kommen, um ihm schließlich, am Ende der Zeiten, gleich zu werden:

„Drum ist in Sternen Wahrheit, im Gestein,

In Pflanze, Tier und Baum, im Menschen nicht.

Und wer’s verstünde still zu sein wie sie,

Gelehrig fromm, den eignen Willen meisternd,

Ein aufgespanntes, demutvolles Ohr,

Ihm würde leicht ein Wort der Wahrheit kund,

Die durch die Welten geht aus Gottes Munde.“1

Nur die Furcht vor der vermeintlichen Langweiligkeit eines introvertierten und unpathetischen Lebens verleitet uns zu jenen vermeintlich großen Entwürfen, welche dann in Katastrophen enden, die uns ernüchtern, weil sie sinnlos und unnötig waren. Das war so in der politischen Geschichte, und es ist auch heute so, wo das Private, wo Ökonomie und Sexualität die Herrschaft über den öffentlichen Raum an sich gerissen haben. Auch unsere moderne Populärkultur, assistiert von Wirtschaft und Medien, folgt einer hysterischen, sich „existenzialistisch“ dünkenden Lebensethik; aber nicht im Sich-veräußern an die Dinge, im Erobern- und Besitzenwollen, sondern in der Ruhe und im Rückzug liegen der wahre Individualismus und die wahre „Erfüllung der Zeiten“. Die lächerliche Lebensphilosophie des „Ich will alles, und zwar sofort“ beweist keinen Fortschritt außer den der äußersten Verkümmerung des menschlichen Denkvermögens. Was wir dagegen brauchen, ist eine Lebensphilosophie der Ruhe.

Die Ruhe steht übrigens auch „im Zentrum des Christentums und der Christologie. Der Kirchenlehrer Augustinus etwa stellte sich das Leben im Paradies vor wie einen ‚ewigen Sabbat’, also einen ewigen Ruhetag. Heute spricht man zwar lieber von ‚Frieden’ als von ‚Ruhe’; doch die Friedensbotschaft, die etwa zu Weihnachten routiniert verkündet wird, meint weniger den äußeren, politischen Frieden […]; sondern vielmehr den inneren Frieden, also die Ruhe, die wir alltäglich durch sinnlose, unüberlegte und triebhafte Begehrlichkeiten gefährden und ruinieren. Ein nervöses Karrierepathos durchzittert unser berufliches wie privates Leben.“14 Dieses Pathos zittert fort in der physikalischen Erschütterung, deren Zeuge wir in diesem Frühjahr geworden sind; jedes Naturunglück ist auch ein Warnruf an den menschlichen Geist, und entsprechend sollten und müssen wir die Zeichen dieses Jahres 2011 deuten.

Das Zeitalter des Wachstums und der Expansion ist vorbei, öffentlich wie privat. Die westliche Menschheit, die dem Rest der Erdkugel zweitausend Jahre lang diese „Werte“ vorgelebt hat, hat nun die Aufgabe, ihr die neuen Werte der Selbstbeschränkung, der Innerlichkeit und der Ruhe vorzuleben. Denn hierin, und nirgends sonst, liegt die Zukunft des Menschengeschlechts. Zwei Erblasten sind es, die die atlantische Welt mit sich herumträgt: der römische Kult der Gewalt; und die, wie Hannah Arendt betonte, götzenhafte christliche Stilisierung des physischen Lebens zu „der Güter höchstem“15, die aber ihre Wurzel gerade in der ungeheuerlichen, brutalen und ignoranten Vergewaltigung des Menschseins durch den römischen Machtstaat hatte; von beidem, von der Idolatrie des Todes und der Idolatrie des Lebens und der Liebe, müssen wir uns befreien, vorbehaltlos und gründlich. Und: von beidem wussten das antike Judentum und Griechentum übrigens nichts; für sie zählte nur das lebendige Wort Gottes und die ewige Schönheit und Ordnung des Welt-Alls.

Die Ethik der Zukunft wird eine „Ethik der Entsagung sein. […] In einer Zeit, der die Unwägbarkeit menschlicher Existenz im Zeichen von Terrorismus, Umweltkatastrophe und weltweiter Verarmung immer klarer vor Augen steht, führt wahre Erkenntnis zurück auf das eigene Leben, die eigene Individualität und die Frage, wie sie zu behüten sei. Auch das bestangelegte Kapital wird irgendwann wertlos; wahren, absoluten Wert hat nur das Menschsein selbst.“16 Dieses Menschsein – es ist eine schwere, aber notwendige Einsicht – lässt sich nicht einholen in hektischer Aktivität, in jener aufgeheizten Lebens- und Liebesgeilheit, die das Kennzeichen unseres Privatlebens und unserer gesellschaftlichen Ordnung ist und die unsere Werbeindustrie in einer fortwährenden, sehr selbstgewissen und doch unsäglich dummen Stereotypie proklamiert; das Menschsein erschließt sich je nur dem Ruhigen, Besonnenen und Nachdenklichen. Jeder sollte sich fragen, was er wirklich in seinem Leben braucht; sei es an Besitz, an Partnerschaft oder an Prestige; und schnell wird man sehen, dass man selber sich wirklich genug ist. Die Auswirkungen einer solchen Selbstbescheidung wären heilsam nicht nur für den Einzelnen; sondern auch für die Gesellschaft und letztlich auch für die internationale Politik.

Hannah Arendt, die ein Leben in höchster, erzwungener Aktivität hinter sich hatte, stellte diese Einsicht an den Schluss ihres Buches Vita activa, das noch heute, nach fünfzig Jahren, aktueller ist als alle lebensgierige und lebensverherrlichende, aber im Grunde flache und uneinsichtige Modephilosophie und Modebelletristik unserer Zeit:

„Numquam se plus agere quam nihil cum ageret, numquam minus solum esse quam cum solus esset“ – „Niemals ist man tätiger, als wenn man dem äußeren Anschein nach nichts tut, niemals ist man weniger allein, als wenn man in der Einsamkeit mit sich allein ist.“17

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1 F. Grillparzer, Ein Bruderzwist in Habsburg, III. Aufzug, in: Sämtliche Werke. Hrsg. v. P. Frank und K. Pörnbacher, München 1960-65, Bd. 2, S. 362.

2 K. Sakkas, Sieg der Entsagung Leben und Sterben mit Schopenhauer. Deutschlandfunk, 19.09.2010: http://www.dradio.de/dlf/sendungen/essayunddiskurs/1275126/.

3 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (= Gesammelte Werke, Bd. 3), Frankfurt/Main 1986, S. 435 f.

4 H. Arendt, Vita activa. Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 284.

5 Goethe, An Frau von Stein, in: Weimarer Ausgabe, Abt. I, Bd. 4, S. 97.

6 Vergil, Aeneis I 33, dt. v. J. Götte.

7 K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: K. Marx, F. Engels, Werke (MEW), Berlin 1956 ff., Bd. 8, S. 115.

8 B. H. F. Taureck, Wachstum über alles – Die Karriere einer Metapher. SWR 2, 24.09.2009, S. 3: http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/- /id=4737462/property=download/nid=660374/pj46hw/swr2-wissen-20090524.pdf.

9 Diesen Grabspruch des Hl. Ignatius von Loyola (1491-1556) stellte F. Hölderlin seinem Hyperion voran. © für die dt. Übersetzung: Konstantin Sakkas.

10 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werke in sechs Bänden, hrsg. v. W. Weischedel, Darmstadt 1957, Bd. 5, S. 242 ff.

11 Arendt, S. 314.

12 Vgl. K. Sakkas, Was soll ich tun? Anmerkungen zur menschlichen Existenz. Deutschlandradio Kultur, 29.4.2011: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1445386/

13 M. Proust, Guermantes (= Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 3), dt. v. E. Rechel-Mertens, Frankfurt/Main 2004, S. 446.

14 Vgl. K. Sakkas, Zur Besinnung kommen Gedanken zu Hannah Arendts „Vita activa“. Deutschlandradio Kultur, 24.12.2010: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/politischesfeuilleton/1349376/.

15 Arendt, S. 306.

16 Vgl. Sakkas, Sieg der Entsagung.

17 So Scipio d. J. nach dem Zeugnis Ciceros, zit. n. Arendt, S. 317.

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Obiger Text erschien erstmals im Rahmen der Sendung Aula im SWR 2, 12. Juni 2011.

Header: Kaiser Rudolf II. und Tycho Brahe. Gemälde von Eduard Ender, 1855.

Les derniers jours des Temps modernes. La première Guerre mondiale et la véritable idée d’Europe

Alors même que l’Allemagne n’avait pas plus de culpabilité dans le déclenchement de la guerre que les autres participants, c’était pourtant depuis le Moyen-Âge à la « question allemande », que l’avenir de l’Europe devait se décider, telle est la thèse de l’historien Konstantin Sakkas. L’Allemagne prit sur elle le fardeau de la culpabilité historique dans un aveuglément naïf et en même temps violent. En se laissant aller dans cette guerre dépourvue de sens, celle-ci en arriva d’abord aux « derniers jours de l’humanité » (Karl Kraus). Et nourrie à partir des vécus de cette guerre, se présente à présent devant les peuples l’idée d’une Europe sans États, apolitique, l’Europe des régions.

Voici bientôt cent ans éclatait la première Guerre mondiale, et avec elle prit fin, non seulement une époque, mais encore une ère. Ce qui vint après, ainsi l’écrivait Christian Comte de Krockow dans son étude très remarquée La décision de 19541, est encore nouveau, inconnu et innommé. Aujourd’hui nous regardons en arrière sur ces cent ans, comme le premier siècle légitime d’une époque nouvelle, d’une nouvelle ère.

La division canonique de l’histoire du monde en Antiquité, Moyen-Âge et Temps modernes, était alors comparativement un jeune topos. Ce n’est qu’en 1702 que l’érudit de Halle, Christoph Martin Keller (« Cellarius »), l’introduisit dans la connaissance ; auparavant on avait partagé l’histoire — pour la Terre elle-même, on admettait alors qu’elle consistât en 6000 ans — selon ce qu’on appelait les quatre grands empires : l’Assyrien, le Perse, le Grec et le Romain. Le pont qu’on jetait à partir de l’Empire romain, qui sombra en 476 ap. J.-C. par la seconde prise de Rome par Odoacre et la chute du dernier empereur Romulus, on le réalisait à partir de la figure du penser dite de la « translatio imperii : la remise (spirituelle) de la notion d’empire de Rome aux Francs, dont l’État, au 8ème siècle, en tant que Grand Empire d’Europe, commença à s’établir de la Bretagne à l’Italie centrale et des Pyrénées à la Saxe orientale — avec l’apogée impressionnant du sacre impérial de Charlemagne, à la Noël de l’année 800.

L’idée de ne plus se trouver au Moyen-Âge, mais au contraire dans une autre époque,  « nouvelle » justement, surgit il est vrai, tôt déjà dans les têtes des êtres humains. Jacob Burkhardt en data justement l’apparition, dans son ouvrage canonique La culture de la Renaissance en Italie, à l’aube du 14ème siècle, et dans la science historique, les courants spirituel, juridique et économique qui  avaient fait irruption depuis l’époque des Hohenstaufen, depuis le début du 12ème siècle, depuis longtemps tel un signe annonciateur évident des Temps modernes (« Renaissance du 12ème siècle » est ici, par exemple, un slogan courant). Il est vrai que le sentiment d’être des  « Temps modernes », était encore vraiment jeune en 1914 — malgré cela ces Temps modernes prirent déjà fin, justement en cette année-là, comme outre le Comte de Krockow, des penseurs comme Martin Heidegger, Hannah Arendt et Hans Blumenberg devaient aussi le voir.

Pour comprendre cela, il vaut la peine de jeter un coup d’œil sur les constellations politiques qui avaient précédé l’éclatement de la guerre. La guerre eut lieu entre les cinq grandes puissances européennes. Depuis le 18ème siècle, celles-ci étaient l’Angleterre, la France, la Russie, l’Autriche (depuis 1867 en union réelle au sein de la Double Monarchie austro-hongroise) et l’Empire allemand, qui  avait pris naissance en 1871, quasiment à partir du royaume de Prusse ; on parlait aussi de « pentarchie européenne ». S’y étaient adjoints les Etats-Unis d’Amérique, en tant que concurrent silencieux sur le champ économique mondial, avec leur déclaration d’indépendance de 1776, et selon le cas, avec leur union politique définitive de 1865. Ils ne jouèrent pourtant un «véritable » [en français dans le texte, ndt] rôle politique qu’à partir de leur entrée en guerre, en 1917. Nous avons donc au plan de la constellation à faire d’abord, en ce début de la première Guerre mondiale, à rien d’autre qu’à une réédition de l’immémorial motif européen de la guerre fratricide. Quelques dimensions essentielles on veuille aussi lui accorder, en 1914, celles-ci étaient, pour le moins au premier plan, d’ordre économique et territorial et aussi spirituelles, d’une manière certainement indéterminée. On peut dire, que toutes les commotions depuis l’époque carolingienne, et donc depuis le temps de Charlemagne, sont à ramener au fait que ce grand empire-là — auquel on s’est efforcé et qui s’est réalisé pour un temps bref — se décomposa rien qu’en États indépendants qui s’efforcèrent, à partir environ du premier millénaire après le Christ, à se développer par la force, d’abord politiquement, puis économiquement et plus tard aussi par leurs religions et idéologies.

Le jeu de quilles européen

Cette tendance devint particulièrement sensible à partir du commencement des Temps modernes, qui fut en même temps le début de ce qu’on a appelé l’inimitié germano-française. Elle commença avec la campagne italienne du roi Charles VIII de France en 1494, et s’acheva avec le Traité d’amitié franco-allemande, qu’on appelle le Traité de l’Élysée, le 22 janvier 19632 — une date vraiment récente, si l’on pense que la majorité de la population actuelle l’a encore vécue (il y a 50 ans). L’inimitié franco-allemande commença par la lutte pour la domination de cette partie de l’ancien empire de Charlemagne qui, après la mort de son fils Louis le pieux, en 840, prit naissance au Traité de Verdun en 843, comme la partie centrale de l’empire (appelée Lotharingie, à partir de 855, ndt). Elle s’étendait alors, en gros, depuis les Pays-Bas actuels — des côtes de la Mer du Nord, au travers de la Lorraine, la Bourgogne et la Provence, jusqu’au Nord de l’Italie, Milan et la Lombardie, et de là aussi, jusqu’à Rome — et cette partie centrale de l’héritage de Charlemagne, —  et même en fait depuis sa conquête par les Goths au 5ème siècle —, n’avait plus jamais retrouvé de tranquillité politique.

C’est exactement dans et autour de cette bande de régions du Nord au Sud — que les médiéviste raillent volontiers en la qualifiant de « jeu de quilles » — qu’on dut au total se battre lors de la première Guerre mondiale. Le plan de bataille allemand, qui avait été projeté, au plus tard dés les années 1890, par le feld-maréchal Alfred comte de Schlieffen, s’orientait très exactement sur ce scénario territorial : La masse de l’armée allemande était censée comprimer l’armée française dans un puissant mouvement d’encerclement en arc, de « droite » à « gauche » et donc du Nord vers le Sud, et de « la broyer » en tenaille à la frontière suisse (D’où le slogan connu, que dut avoir prononcé Schlieffen tandis qu’il agonisait dans le délire de sa fièvre : « Renforcez-moi donc l’aile droite ! »). L’arc du front à l’Ouest s’étendait de la Belgique, dont la neutralité, garantie par le droit international, fut violée d’une manière funeste par le gouvernement de l’empire (ce qui fit entrer l’Angleterre en lice, laquelle autrement serait restée très vraisemblablement neutre ; mais elle avait garanti la Belgique, réfrénant ainsi des désirs insensés d’annexion allemande), au travers des Flandres, les Vosges, la Champagne et l’ancien duché de Bourgogne (ainsi s’était appelé autrefois l’ensemble de l’empire franc médian entre l’Ouest et l’Est) jusque vers Pontarlier et la frontière suisse. En 1915, la triple alliance se décomposa — c’était une construction boiteuse d’alliance remontant aux années 1880 entre l’Empire fédéral d’Allemagne, fidèle aux « Nibelungen » et l’Autriche d’une part, et le jeune royaume d’Italie, d’autre part — et un nouveau front s’ouvrit donc directement au travers des Alpes, cette fois entre l’Autriche et l’Italie, que les Habsbourg n’avaient pas oublié depuis longtemps, puisque leur secondo- et tertio-génitures, leurs vices-rois et gouverneurs militaires, en dominaient autrefois les deux-tiers du pays. La guerre s’étendit donc passablement exactement sur la bande de ces régions, depuis les côtes flamandes de la Mer du Nord en haut, jusqu’en Lombardie en bas et les côtes de l’Adriatique, pour la possession desquelles on avait combattu de haute lutte, non seulement le petit-fils de Charlemagne au 9ème siècle ; mais encore, au tout début des Temps modernes, d’abord ce qu’on a appelé les Guerres d’Italie (1494-1558), puis les « guerres de rapine » de Louis XIV et la Guerre de succession d’Espagne (1701-1714), jusqu’aux guerres de coalition, comme on les a appelées, entre la France révolutionnaire et les vieilles monarchies européennes coalisées (1792-1814). Considérées au plan purement territorial et au plan purement européen, c’était donc en définitive l’héritage de Charlemagne, pour lequel combattirent les cinq grandes puissances européennes de 1914 à 1919.

L’homme malade sur le Bosphore

Considéré autrement, il s’agissait à vrai dire de vraiment beaucoup plus. En 1814, au moment où Napoléon, à la bataille d’Arcis-sur-Aube, fut battu par le duc autrichien Schwarzenberg et hissa le drapeau blanc, quelques semaines plus tard à Paris, l’Europe se trouvait encore structurellement profondément enfoncée dans le Moyen-Âge. Il n’y avait pas d’électricité, ni de mobilité sur rail, ni d’aviation. Par contre, en 1914, l’Europe se trouve pleinement dans le modernisme. Dans aucun siècle précédent le 19ème, il n’ y eut autant d’inventions et découvertes ouvrant autant de perspectives. Quantitativement, celles des 20ème et 21ème sont largement supérieures, mais qualitativement, dans le laps de temps entre 1814 et 1914 elles sont bien plus nombreuses et importantes qu’entre 1914 et 1963, ou bien entre 1963 et 2013. Les technologies de l’information et les structures de la redistribution du bien-être se sont en partie radicalement modifiées ; mais au plan de la mentalité, l’Europe se trouva à partir de 1945 à « l’heure zéro », dans une telle sorte de choc de stupéfaction, un sentiment de ne-plus-être-de-droit, de dépolitisation, qu’ensuite, en 1992, alors que la Guerre froide faisait désormais partie de l’histoire, Francis Fukuyama dut mettre à l’ordre du jour son fameux slogan de « la Fin de l’histoire ».3

Winston Churchill considérait, comme on le sait, l’époque qui va de 1914 à 1945, comme une seconde Guerre européenne de trente ans, lors de laquelle tout fut tourneboulé. Cette guerre de trente ans eut deux conséquences immédiates : premièrement, elle fit entrer les USA en lice, lesquels, sous peu, tant au point de vue économique que militaire, se démasquèrent vis-à-vis de l’Europe comme nettement supérieurs. Et deuxièmement, elle alla chercher l’Orient, et avec elle l’Islam, sur la scène du théâtre politique mondial. Depuis l’époque des Croisades, l’Empire turc qui devait plus tard porter le nom de son fondateur dynastique, Ottoman, s’était clandestinement préparé comme une puissance dans un ordre secret, certes selon les apparences, dirigée contre l’Europe, mais qui veillait en vérité sans cesse au moyen d’une pression extérieure à ce que l’Europe restât ensemble. Ceci se manifesta une dernière fois par cette clause de l’acte fondateur de Vienne de la Sainte Alliance, par laquelle le Sultan à Constantinople excluait son adhésion, puisqu’en effet, il n’était pas chrétien.

La totalité du pouvoir politique au 19ème siècle tourna donc autour du maintien de la Turquie, « l’homme malade sur le Bosphore. Si les Turcs s’étaient trouvés, en 1683 encore, aux portes de Vienne, et avaient alors passé pour la terreur du monde civilisé, ils se retrouvèrent alors tout d’un coup carrément sous les petits soins affectueux de la diplomatie européenne. La grande peur, qui ôtait alors le repos à tout le monde, c’était, pour préciser, qu’au Moyen-Orient, l’ancienne région géographique clef de l’Europe, les deux grands adversaires en lutte pour le « partage du monde » en vinssent à un conflit sanglant : Angleterre et Russie.

Au début du 20ème siècle encore, c’était la grande peur de l’Europe cultivée qu’ont pût en venir à une « guerre mondiale » entre les deux puissances : l’Angleterre — la mère patrie du colonialisme et à l’époque dominatrice sur le quart de la surface de la Terre — et la Russie — d’apport récent au concert des puissances européennes, qui avait élaboré son rôle de puissance secrètement protectrice de la Prusse entre 1763 et 1871. Cette dernière ne surgissait plus seulement, alors, comme protectrice du mouvement de libération panslave dans une Europe de l’Est gérée par l’Autriche, mais au contraire, elle manigançait en même temps la « libération » de ses coreligionnaires orthodoxes dans les Balkans et dans le Caucase, ce qui ne revenait à rien d’autre qu’à une expansion dans le proche et le Moyen-Orient et la Perse, précisément aux frontières de l’Inde, laquelle était la colonie royale britannique, depuis 1876, avec le statut d’Empire en titre. Ici, comme sur les Océans — la marine militaire passait alors pour une  partie d’avenir de la force militaire — on attendait le grand abordage entre l’Ours et la Baleine, entre la Russie et l’Angleterre.

L’autre conflit, qui semblait quant à lui comparablement insignifiant à côté de cela, dominait l’événement politique depuis 1871. Quand bien même violente, l’opposition germano-française semblait de ce fait résolue, de sorte que l’Allemagne sous la «  conduite » de la Prusse et d’Otto von Bismarck, était parvenue à s’unifier et à défendre avec cela les régions sur la rive gauche du Rhin. Une seule et unique épine dans le pied : les nouvelles régions du Reich, que le vainqueur de 1871 s’était réservées — une région, qui certes depuis des siècles avait été allemande, mais qui était à présent française depuis Louis XVI ; dont la population pensait et se sentait majoritairement française et, aussi malgré le traitement le plus bienveillant que lui avaient réservé les autorités allemandes, songeait à peine renoncer à sa véritable identité nationale profonde. Ici reposait la cellule souche du revanchisme français depuis 1871, et la raison pour laquelle tout simplement l’Allemagne et la France n’étaient jamais entrées dans une alliance.

 

De l’enclume au marteau — et alors ?

Au moyen de l’unification du Reich, mais aussi par le potentiel économique et militaire ainsi libéré, — l’Allemagne était, autour de 1900, la seconde puissance mondiale derrière les Etats-Unis mais devant l’Angleterre — l’Allemagne était devenue l’aiguille de la balance ; elle était devenue de facto, comme le constata Sébastien Haffner, la plus grosse puissance de l’Europe,5 et — qu’on y pense un peu ! — ceci pour ainsi dire à partir du néant, sans avoir eu le parcours historique des siècles que les autres puissances disposaient derrière elles. En 1866, il y avait encore la vieille confédération allemande, une sorte de cæcum du Saint Empire romain, avec une constitution de république princière et, par moment, 39 États membres. Cinq ans plus tard, il y eut un empire allemand. Tout un chacun, sauf la France bien sûr, voulut être associé à cet empire allemand, pour mener à bien ces objectifs respectifs. Seule l’Allemagne elle-même — et c’est ce qu’avait étonnamment et sincèrement mis en place son fondateur Bismarck — n’avait plus aucun objectif de politique extérieure ; en tout cas, du point de vue territorial, elle était effectivement « rassasiée », voire « saturée ».

Des critiques de l’Allemagne, c’est-à-dire de la Prusse, reprochaient à Bismarck, le « barbare de génie » et on lui en fait encore le reproche aujourd’hui, d’avoir été un fondateur d’agitation et d’avoir détruit l’ancien équilibre européen. Le fait est que Bismarck lui-même connaissait au mieux l’instabilité de sa construction de puissance politique : la formule proverbiale de « cauchemar des coalitions » ne devait jamais le quitter jusqu’à la fin de sa vie.

Que l’ancien prince de Bismarck fut renversé en 1890, au moyen d’une intrigue de cour et avec la connaissance et la volonté du jeune empereur Guillaume II, cela est considérée aujourd’hui chez les profanes comme chez le public spécialisé, comme une grave erreur et comme la πςώτου ψεύδοζ, qui finalement, 24 ans plus tard, mena à l’éclatement de la guerre mondiale. Ce n’est que durant ces dix dernières années que fut prudemment corrigé le jugement de condamnation, autrefois déjà canonique, visant le dernier empereur allemand, entre autres par Christopher Clark et Eberhard Straub, après que déjà dans les années 1990, l’essayiste berlinois Nicolaus Sombart avait entrepris une avancée ingénieuse dans cette direction.

Le fait est qu’au plan de la politique fédérale, l’Allemagne se retrouva en plein dilemme en 1890. Cela ne pouvait qu’aller de travers, en effet, n’était-ce avec la Russie (comme du temps de Bismarck) ou bien avec l’Angleterre (comme cela fut sans cesse favorisée par la politique anglaise avant et après Édouard VII, qui régna de 1901 à 1910). L’Allemagne était, pour la première fois dans son histoire, pour parler dans le jargon du temps de Bismarck, « d’enclume devenue marteau » — mais elle ne sut rien entreprendre avec ce marteau. Ce n’est pas l’Angleterre, mais l’Allemagne qui choisit, avec l’arrivée au pouvoir de Guillaume II, en 1888, la splendid isolation  ; elle ne pouvait pas intervenir de manière judicieuse dans les conjectures de politique mondiale de l’Angleterre et de la Russie.

Encerclement

Ainsi en vint-on, en 1907, à l’événement diplomatique que personne n’eût tenu alors pour possible : l’Angleterre et la Russie conclurent donc une alliance l’une avec l’autre, tout en étant idéologiquement aussi éloignées l’une de l’autre qu’il est pensable (l’une, une monarchie parlementaire très industrialisée ; l’autre, un état agraire autocratique, dont la révolution n’est plus qu’une question de temps). Comme toutes deux étaient séparément alliées à la France, il y eut donc la « triple Entente ». L’encerclement de l’Allemagne était achevé, ses alliés —  Autriche-Hongrie, Bulgarie et l’Empire ottoman (l’Italie, neutre changea les fronts en 1915) — n’étaient pas autour d’elle des soutiens, mais au contraire une décharge stratégique militaire durable.

Lorsqu’au 28 juin 1914, le successeur au trône de la Monarchie k.u.k., le Grand duc François-Ferdinand, lors d’une visite de manœuvre à Sarajevo, fut assassiné par des nationalistes serbes, il ne fallut que cinq semaines pour que l’Europe fût en guerre. La Bosnie et l’Herzégovine étaient, en 1908, placée sous le protectorat autrichien par décision internationale, en tout cas avec la  désapprobation de la Russie qui, depuis les jours de Catherine la Grande, avait toujours considéré les Balkans comme sa sphère d’hégémonie. La Russie était la puissance protectrice de la Serbie, cette dernière prit les dispositions nécessaires pour aller au devant de la population nationale autrichienne indignée, mais cela n’aida en rien : parmi les 26 points de l’ultimatum autrichien, adressé au gouvernement monarchique serbe, il s’en trouvait aussi deux, qu’aucun gouvernement au monde ne pût jamais accepter, sans discréditer son État. Le refus partiel et, avec cela, l’entrée en vigueur du casus belli, avait été planifié par le parti autrichien favorable à la guerre, autour du général en chef, le Feldmarschal Conrad von Hötzendorf.

Comme il fallait s’y attendre, immédiatement là-dessus, la Russie s’immisça en disant qu’une intervention militaire autrichienne contre la Serbie ne pourrait être tolérée. La saillie de la Russie fit entrer en lice l’Empire allemand, lequel s’était allié à la vie et à la mort à l’Autriche et avait délivré au gouvernement autrichien les pleins pouvoirs illimités (le fameux chèque en blanc) pour une intervention contre la Serbie — car c’est seulement avec la puissante Allemagne, économiquement forte et hautement armée, sur ses arrières que l’Autriche, démodée et arriérée, pouvait principalement oser une passe d’armes. « En larmes », comme il est rapporté, l’ambassadeur allemand à Saint-pétersbourg, Frédéric Comte de Pourtalès, transmis la déclaration du guerre allemande, le 1er août (40 jours auparavant, la Russie — qui était alors gouvernée par la dynastie allemande Schleswig-Holstein-Gottorf — et la Prusse, étaient encore des amies proches. Étant donné qu’entre la Russie et la France était en vigueur, depuis 1894, une alliance offensive et défensive, l’Allemagne prit les devants et déclara la guerre à la France le 3 août. Car on s’était déjà placé dans ce conflit insensé et cela depuis vingt ans. Ici, l’approche de cet éclatement de la guerre devient tout à fait inconcevable. Le conflit dans les Balkans — lequel, quatre ans plus tard du reste, s’achèvera avec, comme on pouvait s’y attendre, la dislocation des deux empires du Sud de l’Europe restés multinationaux : la Double Monarchie austro-hongroise et l’Empire ottoman — s’avère une simple voie détournée, afin de laisser de nouveau renaître le conflit originel France-Allemagne. Le danger du « rouleau compresseur russe », qui fut beaucoup exorcisé (de fait l’armée russe est à peine plus moderne que celle autrichienne ; en outre, le moral au combat des recrues qui souffrent beaucoup du régime tsariste, est misérable) sera stoppé à la bataille près de Tannenberg et aux lacs Masures, par la huitième armée allemande sous les ordres du Général en chef von Hindenburg, par la suite Reichpräsident. Par contre, les sept armées allemandes, qui avaient espéré prendre Paris, dont elles avaient approché de 100 km suite à une avancée fébrile, restèrent bloquées en septembre sur la Marne (« miracle de la Marne »). Avec cela, la guerre à l’Ouest, pour les deux adversaires en était arrivée au point stratégique zéro, avant même qu’elle eût correctement commencée. Il en ira ainsi quatre années durant : parfois les Français enregistrent un gain de terrain minimum, parfois ce sont les Allemands. Mais on reste pat.

La catastrophe primordiale du 20ème siècle

Toujours est-il que ce qui est décisif c’est que, depuis le 4 août, la Grande-Bretagne se trouve aussi en guerre avec l’Allemagne. Le commandement en chef des armées allemandes, pour des raisons purement stratégiques — ainsi que le prévoyait d’ailleurs le plan Schlieffen des années 1890, qui  écrasait par la force la neutralité belge — a ainsi violé la condition de l’ultimatum de la Grande-Bretagne, sous laquelle elle n’eût pas intervenu dans la guerre à l’Ouest (ce par quoi celle-ci eût été décisive pour l’Allemagne en quelques semaines). Mais les cent mille soldats britanniques qui intervinrent déplacèrent naturellement l’équilibre des forces naturellement aux détriments de l’Allemagne.

Tout le comportement de l’Allemagne dans cette guerre indique des traits d’auto-destruction : depuis le fait de prendre — sans restriction mais pas du tout nécessairement —fait et cause pour l’Autriche et sa politique d’expansion dévastatrice dans les Balkans, en passant par la violation de neutralité, l’ouverture de la guerre sous-marine illimitée en 1917 (ce par quoi les USA entreront en lice aux côtés de l’entente, jusqu’aux conditions éhontées de la paix de Brest-Litowsk, en mars 1918, par lesquelles un empire colonial est-européen était censé se créer sous la direction allemande. Un acte de brutalité, dont on interpréta la punition légitime en retour, un an plus tard à Versailles, entre temps aussi dans la recherche. Parmi toutes les puissances participantes, le Reich  allemand avait la moindre raison d’être dans la guerre et parmi tous les objectifs de guerre, les siens étaient les moins honorés par la raison et la logique.

La question de la culpabilité dans la guerre a été posée depuis la guerre elle-même, et avec insistance, comme autrement dans aucune autre guerre dans l’histoire. La première Guerre mondiale éclata, la seconde fut déchaînée — sur cette formulation l’union règne depuis longtemps dans la recherche comme dans l’opinion publique et de récentes contributions au point de vue renforcé sorties de la littérature n’y ont rien changé. La « catastrophe archétype du 20ème siècle », comme George F. Kennan caractérisa la guerre mondiale, dans une tournure fameuse, est dans sa genèse, aujourd’hui, comme il y a cent ans, un objet de fascination.

Il est vrai que tout dans l’histoire suit une logique interne conforme à l’être et d’un autre côté aussi au-delà du temps. Il ne s’agissait pas pourtant d’une  « revendication à la puissance mondiale », comme l’historien Fritz Fischer voulut le faire accroire, dans son ouvrage éponyme très controversé de 1961 ;6 mais au contraire, il s’agissait de cette logique. Selon elle, l’époque européenne aurait fait son temps. Mille cinq cent ans après la chute de Rome, les puissances européennes auraient sondé le politique dans sa pratique territoriale dans toutes les directions ; en 1914, elles se heurtaient finalement à leurs limites et il n’était que logique que la population de l’Europe du centre avec la défaite de 1918, se débarrassât  de ses monarques — rien qu’en Allemagne ceux-ci étaient au nombre de 20 princes régnants — ; car c’est le principe d’Abraham, selon lequel le prince est le berger de son peuple et s’il le mène assurément dans l’inconnu, c’est qu’il a perdu sa légitimité historique. Que les Allemands dussent se sentir dupés par leur épopée héroïque historique ; que la perte de l’empire dût activer dans les couches profondes de l’âme du peuple, un complexe du père, cela c’est une autre question.

Europe de régions

Peut-être comprenons-nous mieux le phénomène de cette guerre, qui surpasse sa propre tradition comme insensée et étrangère, si nous l’observons à partir d’une perspective d’avenir. Cent ans ne sont pas écoulés depuis, que le visage de l’Europe et du monde s’est complètement modifié. La puissance politique classique, sous le modus de son outrance erratique et infernale par le Reich allemand et deux guerres mondiales, a disparu du répertoire de la politique européenne ; et de plus, nous sommes tous entrés dans l’époque de l’économie, après qu’elle s’était déjà annoncé à l’époque de l’empire, par sa politique sociale et certes, sa circonspection pour le bien-être de ses sujets, mais tout en s’améliorant constamment même pour les classes inférieures et cela signifiait donc aussi l’exigence de prospérité et de bien-être que nous partageons désormais en Europe. Les USA et la Chine ont repris le rôle qui avait été réservé jusqu’en 1914 aux cinq grandes puissances européennes : tous deux pensent en grands projets territoriaux globaux, et activent ce qu’on caractérisait, dans les années 1850 en Europe, une « real ou Machtpolitik ». L’Europe, au lieu de cela, revient à ses anciennes racines enfouies sous le désert de mille ans d’une évolution compliquée et entortillée ; elle redevient lentement une Europe des régions.

Le caractère régional est la racine de l’élément européen. L’État universel, territorial, qui « met en caisse » [vereinnahmende] vers l’intérieur et « fait des projets à longue portée » [ausgreifende] vers l’extérieur, fut toujours quelque chose d’étranger à l’Europe, un octroi oriental, contre lequel les Grecs se sont défendus 100 ans durant, jusqu’à ce qu’Alexandre le Grand importât, dans sa méditerranée natale, l’idée d’un empire universel, dans le cadre d’une entreprise géniale, aventurière et nonobstant démentielle. De la Grèce, qui devint tout à coup la région-mère des monarchies modernes,  — Alexandre Demandt  y fait très récemment allusion dans son ouvrage brillant sur Alexandre7 —, cette idée passa par Rome, dont l’empire se forma en ne se groupant pas tout autour d’une région, mais au contraire, tout autour d’une seule et unique et superbe ville (Qui cela étonne-t-il aujourd’hui que c’est là, en Italie et en Allemagne que le régionalisme est particulièrement perceptible ?), pour se perdre ensuite dans le grouillement des grandes invasions. Charles le Grand/Charlemagne, dont se réclament les deux nations-mères de l’Europe post-moderne, la France et l’Allemagne, en tant qu’identité fondatrice, restaure de nouveau l’empire, non pas originellement politique, mais au contraire bien plus comme une unité-souche d’origine. La charge nationale, politique, ne vint que se rajouter après ; depuis que chacun de ses successeurs se crut devoir, à partir de sa nationalité propre, instituer l’Europe en tant qu’État d’ensemble. L’idée archétype de l’Europe — une libre vie ensemble, les uns avec les autres, de « tribus » et avec cela aussi, de régions diverses — est tombée dans l’oubli. Elle fut revendiquée, arrondie, dérobée et de nouveau enlevée[f], 1000 ans durant.

En 1914, le château de cartes du nationalisme européen s’effondra finalement sur lui-même. Avec la première Guerre mondiale, à vrai dire, la chose n’était pas faite ; il y fallut encore des évolutions beaucoup plus épouvantables, tout au long de ce continuum de 1914 à 1945, jusqu’à ce que l’Europe martiale y épuisât enfin ses énergies autodestructrices. Mais en 1914, ce fut la première lueur, la première détonation évidente, que les peuples de l’Europe étaient sommés par le fait qu’ils sont  frères, et non pas concurrents et que l’époque de la guerre fratricide touchait à sa fin.

Aussi n’est-ce pas un hasard — comme d’ailleurs principalement rien n’est « fortuit » dans le grand arc du temps que nous avons coutume d’appeler « histoire », — que cette « grande guerre », comme l’appellent toujours et encore Français et Anglais, avec une clairvoyance pathétique, se déroula principalement sur des champs de bataille de cette bande des régions qui s’étendent d’Ostende aux Alpes ; entre la Belgique, le plus jeune, et la Suisse, le plus ancien État neutre en Europe du Centre, dont le second devint, après la première Guerre, le Siège de la SDN, tandis que dans le premier, après une seconde Guerre encore bien pire, siégea l’Union Européenne. L’idée européenne — l’éloignement du national, l’atténuation du politique, la cession à l’individu de l’idéal d’unité centrale et d’unité, de la totalité : sur les champs arrosés de sang de la première Guerre mondiale, qui révéla au grand jour toute la barbarie et toute l’absurdité de la guerre dans son aveuglante absence de fioritures, cet idéal entama sa métamorphose en chrysalide, au milieu des peines et des convulsions.

Le rôle double que l’Allemagne y joua ici n’est pas étonnant, mais au contraire, conséquent. Quoique formellement — c’est ce qu’a montré d’une manière impressionnante la recherche des années passées — l’Allemagne n’a ni plus ni moins de culpabilité que les autres participants dans le déclenchement de la guerre (et avait nonobstant elle-même la moindre raison pour cela) ce fut pourtant la « question allemande », celle qui remontait au moyen-âge, voire en effet déjà au temps des Romains, à laquelle dut se décider l’avenir de l’Europe. L’Allemagne prit sur elle le fardeau de la culpabilité historique avec un aveuglement funeste, puéril et en même temps brutal : se laisser aller à cette guerre la plus dépourvue de sens de toutes les guerres, à en faire d’abord ce qu’elle devint : à savoir les « derniers jours de l’humanité » (Karl Kraus). Au point qu’à la fin, se trouve seulement désormais devant ses peuples, sans autre alternative, l’idée d’une Europe sans états, apolitique, l’Europe des régions, l’Europe de la fraternité, comme seule l’expérience de cette guerre a pu l’imprégner dans les esprits.

La fausse forme dut être brisée avec violence, pour que la bonne forme intérieure, la pure matière, en vint à se déployer ; l’idée archétype mythique de la Pax Europaea, de la paix européenne.

© Konstantin Sakkkas

Le texte précédant a paru dans le numéro 10/2013 du journal Die Drei.

Traduction française: Dr. Daniel Kmiecik, Paris

Header: Parade des troupes grècques lors de la fête de victoire alliée, Paris, 14 juillet 1919.

 

Notes :

  • Christian Compte de Krockow : La décision. Une investigation sur Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger (Thèse 1954, Stuttgart 1958.
  • Le traité de Locarno, que Gustave Stresemann et Aristide Briand signèrent en 1935, ne compte pas ici, car l’atmosphère fondamentale de revanche entre les deux nations en resta intact.
  • Francis Fukuyama : La fin de l’histoire. Où nous trouvons-nous ? Munich 1992.  Il se peut qu’on rétorque que l’époque de la Guerre froide était une moment d’extrême charge politique et fut bel et bien politique avec cela ; nonobstant, l’atmosphère fondamentale en Europe occidentale, en particulier depuis l’apparition de la culture pop moderne, dans les années 50 et 60, de décennie en décennie plus impolitique.
  • Une anecdote illustre très joliment cela de l’époque impériale. Guillaume II se laissa coiffer par un barbier alsacien, à l’occasion d’une manœuvre. L’empereur fut très satisfait du travail de cet homme et lui dit qu’il pouvait exprimer un vœu. Le coiffeur rétorqua, dans une attitude militaire et comme sous la menace d’un pistolet : « Majesté, rendez-nous l’Alsace-Lorraine ! »
  • Sébastien Haffner : Remarques au sujet d’Hitler, Francfort sur le Main 1978.
  • Fritz Fischer : Revendication à la puissance mondiale. L’objectif politique de guerre de l’Allemagne impériale 1917/1918, Düsseldorf 1961, 2009.
  • Alexander Demandt : Alexandre le Grand, Munich 2013.

 

Die letzten Tage der Neuzeit. Der Erste Weltkrieg und die eigentliche Idee von Europa

Vor bald hundert Jahren brach der Erste Weltkrieg aus, und mit ihm endete nicht nur eine Epoche, sondern ein Zeitalter. Was danach kam, so schrieb Christian Graf von Krockow in seiner vielbeachteten Studie „Die Entscheidung“ von 1954, ist noch neu, unbekannt und unbenannt. Wir Heutigen blicken auf diese hundert Jahre zurück als auf das erste vollbürtige Jahrhundert einer neuen Zeit, eines neuen Zeitalters.

Die kanonische Dreiteilung der Weltgeschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit war dabei ein vergleichsweise junger Topos. Erst im Jahr 1702 führte ihn der Hallenser Gelehrte Christoph Martin Keller („Cellarius“) in die Wissenschaft ein; zuvor hatte man die Geschichte – von der Erde selbst nahm man damals an, sie bestünde seit sechstausend Jahren – eingeteilt nach den so genannten vier großen Reichen: dem assyrischen, dem persischen, dem griechischen und dem römischen. Den Brückenschlag vom römischen Reich, das 476 n. Chr. mit der zweiten Einnahme Roms durch Odoaker und den Sturz des letzten Kaisers Romulus unterging, vollzog man mittels der Denkfigur der „translatio imperii“: der (geistigen) Übergabe der (Kaiser-)Reichsidee von Rom an die Franken, deren Staat sich im 8. Jahrhundert als europäisches Großreich, von der Bretagne bis nach Mittelitalien, von den Pyrenäen bis nach Ostsachsen zu etablieren begann; mit der Kaiserkrönung Karls des Großen am Weihnachtstage des Jahres 800 als eindrücklichem Höhepunkt.

Der Gedanke, sich nicht mehr im Mittelalter, sondern in einer andren, eben der „neuen“ Zeit zu befinden, tauchte freilich schon früh in den Köpfen der Menschen auf; Jacob Burckhadt datierte in seinem kanonischen Werk „Die Kultur der Renaissance in Italien“ ebenderen Beginn aufs frühe 14. Jahrhundert, und in der Geschichtswissenschaft gelten die geistes-, rechts- und wirtschaftsgeschichtlichen Strömungen, die über Europa seit der Stauferzeit, seit dem 12., Jahrhundert hereingebrochen waren, seit Langem als eindeutige Vorboten der Neuzeit („Renaissance des 12. Jahrhunderts“ ist hier zum Beispiel ein gängiges Schlagwort). Das Gefühl freilich, Neuzeit zu sein, war auch im Jahre noch 1914 ein recht junges – trotzdem ging in ebendiesem Jahr diese Neuzeit, wie es neben Graf Krockow Denker auch wie Martin Heidegger, Hannah Arendt und Hans Blumenberg sehen sollten, schon wieder zu Ende.

Um dies zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die geistig-politischen Konstellationen zu werfen, die dem Ausbruch des Krieges vorausgegangen waren. Der Krieg fand statt zwischen den fünf europäischen Großmächten; diese waren seit dem 18. Jahrhundert England, Frankreich, Russland, Österreich (seit 1867 in Realunion: Österreich-Ungarn) und das Deutsche Reich, das 1871 quasi aus dem Königreich Preußen hervorgegangen war. Man sprach hiervon auch als von der „europäischen Pentarchie“. Hinzugekommen als stiller Konkurrent auf dem Feld der Weltwirtschaft waren mit der Unabhängigkeitserklärung 1776 bzw. mit seiner definitiven inneren politischen Einigung 1865 die Vereinigten Staaten von Amerika; eine veritable weltpolitische Rolle spielen sollten sie allerdings erst mit ihrem Eintritt in den Krieg, 1917.

Wir haben es also beim Ersten Weltkrieg konstellativ im Ausgang vorerst mit nichts anderem zu tun als mit einer Neuauflage des uralten europäischen Motivs des Bruderkrieges. Seine Wesensdimensionen konnten religiös, territorial, wirtschaftlich oder allgemein geistig sein; 1914 waren sie vordergründig wirtschaftlich-territorial, aber auf gewisse, unbestimmte Weise auch geistig. Man kann sagen, dass alle europäischen Erschütterungen seit der karolinigschen Zeit, also seit der Zeit Karls des Großen, darauf zurückzuführen sind, dass das von jenem angestrebte und für kurze Zeit auch realisierte Großreich in lauter kleine Einzelstaaten zerfiel, die seit etwa der ersten Jahrtausendwende nach Christus mit Macht nach ihrer politischen, wirtschaftlichen und später auch religiösen und ideologischen Selbstentfaltung strebten.

Besonders deutlich wurde diese Tendenz seit dem Beginn der Neuzeit, der nämlich zugleich der Beginn der so genannten deutsch-französischen Erbfeindschaft ist. Sie begann mit dem Italienfeldzug des Königs Karl VIII. von Frankreich 1494 und endete mit dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, dem so genannten Élysée-Vertrag, am 22. Januar 1963, dieses letztere ein recht junges Datum, wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der Bevölkerung heute es noch erlebt hat (50 Jahre). Sie ging aus vom Kampf um die Vorherrschaft in jenem Teil des alten Karlischen Reiches, der in der Reichsteilung, nach dem Tod seines Sohnes, Ludwig des Frommen († 840), im Vertrag von Verdun 843 als Mittelreich hervorgegangen war. Er erstreckte sich im Groben von der heute niederländischen Nordseeküste über Lothringen, Burgund und die Provence bis nach Norditalien, Mailand und die Lombardei, und von dort aus bis nach Rom, das politisch seit der Einnahme durch die Goten im Fünften Jahrhundert nicht mehr zur Ruhe gekommen war.

Es ist genau dieser Länderschlauch von Norden nach Süden, von Mediävisten spöttisch auch gern als „Kegelbahn“ bezeichnet, in und um den im Ersten Weltkrieg in der Hauptsache gekämpft werden sollte. Der deutsche Feldzugsplan, vom späteren Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen bereits in den 1890er Jahren entworfen, sollte sich genau an diesem territorialen Szenario orientieren: die Masse der deutschen Armeen sollte das französische Heer in einer gewaltigen Umfassung von „rechts“ nach „links“, also von Norden nach Süden drücken und an der Schweizerischen Grenze „zerquetschen“ (daher das bekannte Schlagwort, das der todkranke Schlieffen im Fieberwahn gebraucht haben soll: „macht mir den rechten Flügel stark!“). Der Frontbogen im Westen reichte von Belgien, dessen völkerrechtlich garantierte Neutralität die deutsche Reichsleitung unseligerweise brach (und damit England auf den Plan lief, das ansonsten sehr wahrscheinlich neutral geblieben wäre; aber Belgien, und damit eine Zähmung unsinniger deutscher Annexionswünsche hatte es nun einmal garantiert!), durch Flandern, Vogesen, die Champagne und das alte Herzogtum Burgund (so hatte früher das gesamte Mittelreich zwischen West- und Ostfranken geheißen) bis nach Pontarlier an die Schweizer Grenze.

1915 zerfiel der Dreibund, ein wackliges Bündniskonstrukt aus den 1880er Jahren zwischen den in „Nibelungentreue“ verbundenen Reichen Deutschland und Österreich einerseits und dem jungen Königreich Italien andererseits, und es wurde, und zwar direkt in den Alpen, eine neue Front eröffnet, diesmal zwischen Österreich und Italien, das den Habsburgern noch lange nicht vergessen hatte, dass ihre Sekundo- und Tertiogenituren, ihre Vizekönige und Militärgouverneure einst drei Viertel des Landes beherrscht hatten. Der Krieg erstreckte sich also ziemlich genau in dem Länderschlauch von der flandrischen Nordseeküste bis hinunter in die Lombardei und an die Adriaküste, um dessen Besitz sich nicht nur die Enkel Karls des Großen im Neunten Jahrhundert gerissen hatten; sondern um den noch in der gesamten frühen Neuzeit, von den so genannten Italienkriegen (1494-1558) über die „Raubkriege“ Ludwigs XIV. und den Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) bis zu den so genannten Koalitionskriegen zwischen dem revolutionären Frankreich und den alten europäischen Monarchien (1792-1814) gerungen wurde. Rein territorial und rein europäisch betrachtet, war es das Erbe Karls des Großen, um das die fünf europäischen Großmächte 1914 bis 1919 stritten.

Anders betrachtet ging es freilich um viel, viel mehr. 1814, als Napoleon in der Schlacht bei der Stadt Arcis-sur-Aube durch den österreichischen Fürsten Schwarzenberg geschlagen wurde und ein paar Wochen Paris die weiße Fahne hisste, befand Europa strukturell sich noch tief im Mittelalter. Es gab keine Elektrizität, keine Mobilität auf der Schiene, keine Aviatik. 1914 dagegen steht Europa tief in der Moderne. In keinem Jahrhundert wurden so viele wegweisende Erfindungen und Entdeckungen gemacht wie im 19. Quantitativ sind ihm das 20. und 21. sicher überlegen, aber qualitativ ist der Abstand zwischen 1814 und 1914 viel größer als der zwischen 1914 und 1963 es war, oder der zwischen 1963 und 2013. Die Informationstechnologien und die Verteilungsstrukturen des Wohlstandes haben sich zum Teil radikal verändert; aber mentalitär steht Europa seit der „Stunde Null“, seit 1945 in einer Art positiver Schockstarre, einem Gefühl des Nicht-mehr-beteiligt-seins, der Entpolitisierung, das dann 1992, als auch der Kalte Krieg Geschichte war, Francis Fukuyama mit dem Schlagwort vom „Ende der Geschichte“ auf den Punkt bringen sollte.

Winston Churchill sah bekanntlich die Zeit von 1914 bis 1945 als einen zweiten „europäischen Dreißigjährigen Krieg“ an, in dem alles durcheinandergewirbelt wurde. Zwei unmittelbare Konsequenzen hatte dieser Dreißigjährige Krieg: erstens: er rief die USA auf den Plan, die sich binnen Kurzem als den europäischen Vorstellungen von Wirtschaftlichkeit und militärischer Schlagkraft heillos überlegen entpuppten. Zweitens: er holte den Orient und mit ihm den Islam auf die Bühne des weltpolitischen Theaters.

Seit dem Kreuzzugszeitalter hatte sich das Türkische Reich, das sich später nach seinem dynastischen Gründer osmanisch nennen sollte, klandestin als heimliche Ordnungsmacht herauspräpariert, die, zwar dem Anschein nach gegen Europa gerichtet, in Wahrheit durch äußeren Druck immer wieder dafür sorgt, dass Europa zusammenbleibt. Letztmalig manifestierte sich dies in jener Klausel der Wiener Gründungsakte der Heiligen Allianz, die den Sultan in Konstantinopel vom Beitritt ausschloss, da er eben kein Christ sei.

Das ganze 19. Jahrhundert dann drehte sich machtpolitisch um die Erhaltung der Türkei, des „kranken Mannes am Bosporus“. Hatten die Türken noch 1683 „vor Wien“ gestanden und als der Schrecken der zivilisierten Welt gegolten, so wurden sie nun von der europäischen Diplomatie auf einmal geradezu liebevoll gepflegt. Die große Angst, die alle umtrieb, war nämlich: dass im Nahen Osten, der alten geographischen Schlüsselregion Europas, die beiden großen Gegenspieler im Kampf um die „Aufteilung der Welt“ einmal blutig zusammenstoßen würden: England und Russland.

Noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts war die große Angst des gebildeten Europäers, dass es zu einem „Weltkrieg“ zwischen diesen beiden Mächten kommen könnte. England, das Mutterland des Kolonialismus, damals Herrscherin über ein Viertel der Erdoberfläche, und Russland, der spätberufene Neuzugang ins europäische Mächtekonzert, der sich seine Rolle als heimlich Schutzmacht Preußens zwischen 1763 und 1871 erarbeitet hatte und nun nicht nur als Schutzpatron der panslawistischen Freiheitsbewegung im österreichisch regierten Osteuropa auftrat, sondern zugleich die „Befreiung“ der orthodoxen Glaubensbrüder auf dem Balkan und im Kaukasus im Schilde führte, was auf nichts anderes hinauslief als auf eine Expansion in den Nahen und Mittleren Osten, nach Syrien und Persien, an die Grenzen Indiens, das britische Kronkolonie war, seit 1876 mit dem Status eines Titularkaisertums. Hier, sowie auf den Weltmeeren – die Kriegsmarine galt als Teilstreitkraft der Zukunft – erwartete man den großen Zusammenstoß von Bär und Walfisch, von Russland und England.

Vergleichsweise unbedeutend nahm sich daneben der andere Konflikt aus, der das europäische politische Geschehen seit 1871 dominierte. Der deutsch-französische Gegensatz schien dadurch, wenn auch gewaltsam, gelöst, dass es Deutschland unter „Führung“ Preußens und Otto von Bismarcks gelungen war, sich politisch zu einigen und dabei die linksrheinischen Gebiete zu verteidigen. Einziger Stachel im Fleische: die neuen „Reichslande“ Elsass-Lothringen, die die Sieger 1871 sich gleichsam als Kriegsbeute ausbedungen hatten – Land, das zwar vor Jahrhunderten einmal deutsch gewesen, seit Ludwig XIV. aber nun einmal französisch war, dessen Bevölkerung mehrheitlich französisch dachte und fühlte und, auch der wohlwollendsten Behandlung durch die deutschen Behörden trotzend, im Traum nicht daran dachte, seine eigentliche, innere Nationalidentität aufzugeben. Hier lag die Keimzelle des französischen Revanchismus seit 1871, und der Grund, warum in den vierzig Jahren bis zum Ausbruch des Weltkrieges Deutschland und Frankreich schlechterdings nie ein Bündnis miteinander eingegangen sind.

Durch die Reichseinigung und das durch sie freigesetzte wirtschaftliche und militärische Potenzial aber – Deutschland war um 1900 hinter den USA und vor England die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt – war Deutschland zum Zünglein an der Waage geworden; es war de facto, wie Sebastian Haffner festhielt, die stärkste Macht des Kontinents geworden, und – man bedenke! – dies aus dem Nichts! 1866 gab es noch den alten Deutschen Bund, verfassungsrechtlich eine Art Blinddarm des Heiligen Römischen Reiches, mit einer fürstenrepublikanischen Verfassung und zeitweise 39 Mitgliedsstaaten; fünf Jahre später gab es ein Deutsches Reich. Jeder, mit Ausnahme Frankreichs natürlich, wollte mit diesem Deutschen Reich verbündet sein, um seine jeweiligen Ziele durchzusetzen. Nur Deutschland selber, das hatte sein Gründer Bismarck erstaunlich aufrichtig eingeräumt, hatte kein wirkliches außenpolitisches Ziel mehr; es war gesättigt, „saturiert“.

Kritiker Deutschlands, d.h. Preußens, warfen und werfen Bismarck, dem „Barbaren von Genie“, denn auch bis heute vor, er sei ein Unruhestifter gewesen, der das alte europäische Gleichgewicht zerstört habe. Fakt ist, dass Bismarck selber um die Labilität seines machtpolitischen Konstrukts am besten wusste: der sprichwörtliche „Alptraum der Koalitionen“ (cauchemar des coalitions) sollte ihn bis an sein Lebensende nicht mehr verlassen.

Dass der alte Fürst Bismarck 1890 durch eine Hofintrige und mit Wissen und Wollen des jungen, juvenilen Kaisers Wilhelm II. gestürzt wurde, wird bis heute bei Laien und Fachpublikum als schwerer Fehler angesehen und als πρῶτον ψεῦδος, als erster Fehler, der schließlich 24 Jahre später zum Ausbruch des Weltkrieges geführt habe. Erst in den letzten zehn Jahren wurde das ehedem fast schon kanonische Verdammungsurteil über den letzten Deutschen Kaiser behutsam korrigiert, unter anderem von Christopher Clark und Eberhard Straub, nachdem bereits in den Neunziger Jahren der Berliner Essayist Nicolaus Sombart einen ingeniösen Vorstoß in diese Richtung unternommen hatte.

Tatsache ist, dass sich Deutschland 1890 bündnispolitisch in einer unentscheidbaren Situation befand. Es konnte es nur falsch machen, wäre es nun mit Russland (wie zu Bismarcks Zeiten) oder mit England gegangen (wie es von der englischen Politik vor und nach Edward VII., der von 1901 bis 1910 regierte, immer wieder favorisiert wurde). Deutschland war zum ersten Mal in seiner Geschichte, um im Jargon der Bismarckzeit zu reden, vom „Amboss“ zum „Hammer“ geworden – aber es wusste mit diesem Hammer nichts anzufangen. Deutschland, nicht England, wählte mit dem Regierungsantritt Wilhelms II. 1888 die splendid isolation – in die weltpolitischen Konjekturen Englands und Russlands sinnvoll eingreifen konnte es nicht.

So kam es 1907 zu dem diplomatischen Ereignis, das niemand für möglich gehalten hätte: England und Russland, die auch ideologisch denkbar weit voneinander entfernt waren (England, eine parlamentarische Monarchie und hochindustrialisiert, Russland, ein autokratischer Agrarstaat, bei dem die große Revolution nur eine Frage der Zeit war), schlossen ein Bündnis miteinander, da beide jeweils schon mit Frankreich separat verbündet waren, gab es nun offiziell die „Tripleentente“. Der Ring der „Einkreisung“ um Deutschland war geschlossen.

Als am 28. Juni 1914 der Thronfolger der k. u. k. Monarchie, Erzherzog Franz Ferdinand, bei einem Manöverbesuch in Sarajewo von serbischen Nationalisten ermordet wurde, dauerte es noch fünf Wochen, bis sich ganz Europa im Krieg befand. Bosnien und die Herzegowina waren 1908 unter internationaler Duldung von Österreich besetzt worden, unter Missbilligung Russlands, das den Balkan seit den Tagen Katharinas der Großen als seine Hegemonialsphäre betrachtet hatte. Russlands Schutzmacht war Serbien, Serbien machte alle Anstalten, es der national empörten österreichischen Bevölkerung recht zu machen, aber es half nichts: unter den 26 Punkten des österreichischen Ultimatums an die königlich-serbische Regierung in Belgrad befanden sich jene berüchtigten zwei, die keine Regierung der Welt hätte annehmen können, ohne die Souveränität ihres Staates zu blamieren. Die Teilablehnung und damit der casus belli war von der österreichischen Kriegspartei eingeplant.

Unmittelbar darauf schaltete sich erwartungsgemäß Russland ein, das ein österreichisches Vorgehen gegen Serbien nicht dulden mochte; Russlands Vorstoß rief das Deutsche Reich auf den Plan, das sich mit Österreich auf Leben und Tod verbündet und der Regierung in Wien eine unbeschränkte Vollmacht (der berühmte „Blankoscheck“) für ihr Vorgehen gegen Serbien ausgestellt hatte (denn nur mit dem mächtigen, wirtschaftlich potenten und militärisch hochgerüsteten Deutschland im Rücken konnte das altmodische, zurückgebliebene Österreich einen Waffengang überhaupt wagen). „Unter Tränen“, wie es heißt, überreichte der deutsche Botschafter in St. Petersburg, Friedrich Graf v. Pourtalès, am 1. August die deutsche Kriegserklärung (noch vierzig Jahre zuvor waren Russland, das eine deutsche Dynastie, die Schleswig-Holstein-Gottorf, regiert, und Preußen eng Freunde gewesen). Da aber zwischen Russland und Frankreich seit 1894 ein Offensiv- und Defensivbündnis besteht, erklärt Deutschland vorauseilend am 3. August auch Frankreich den Krieg. Denn auf diesen, eigentlich unsinnigen, Konflikt hat man sich eingestellt, und das schon seit zwanzig Jahren.

Hier vollends wird der Hergang dieses Kriegsausbruches vollends unbegreiflich. Der Konflikt auf dem Balkan (der vier Jahre später im Übrigen erwartungsgemäß mit dem Auseinanderbrechen der beiden verbliebenen Vielvölkerreiche in Südosteuropa enden wird: Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich) erweist sich als bloßer Seitenschlich, um den uralten Konflikt Frankreich-Deutschland wieder aufleben zu lassen. Die vielbeschworene Gefahr der „russischen Dampfwalze“ (tatsächlich ist die russische Armee kaum moderner als die österreichische, zudem ist die Kampfmoral der unter dem zaristischen System leidenden Rekruten miserabel) wird durch die Schlachten bei Tannenberg und an den Masurischen Seen noch im Herbst durch die deutsche 8. Armee unter ihrem Generaloberst von Hindenburg, dem späteren Reichspräsidenten, aufgehalten. Dagegen beißen sich die sieben deutschen Armeen, die in einem hektischen Vorstoß Paris einzunehmen gehofft hatten und der französischen Hauptstadt auch schon auf hundert Kilometer nahegekommen waren, im September an der Marne fest („Wunder an der Marne“). Damit ist der Krieg im Westen für beide Seiten an den strategischen Nullpunkt gestoßen, bevor er richtig angefangen hat. Vier Jahre lang wird das jetzt so gehen: mal verbuchen die Franzosen, mal die Deutschen minimale Gebietsgewinne. Aber es bleibt ein Patt.

Entscheidend dafür ist allerdings, dass sich seit dem 4. August auch Großbritannien im Krieg mit Deutschland befindet. Die deutsche Oberste Heeresleitung hatte aus puren aufmarschtaktischen Gründen das neutrale Belgien überrennen lassen – und damit Englands ultimative Bedingung verletzt, unter der es in den Krieg im Westen nicht eingegriffen hätte (wodurch dieser vielleicht wirklich nach wenigen Wochen für Deutschland entschieden worden wäre). Und die vielen hunderttausend britischen Soldaten, die nun auf französischer Seite zum Einsatz kommen, verschieben das Kräftegleichgewicht natürlich zuungunsten Deutschlands.

Deutschlands ganzes Verhalten in diesem Krieg weist selbstzerstörerische Züge auf: vom unbedingten, aber gar nicht nötigen Eintreten für Österreich und seine verheerende Expansionspolitik auf dem Balkan über die fatale Verletzung der Neutralität, die Eröffnung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges im Jahr 1917, wodurch die USA auf Seiten der Entente in den Krieg gerufen werden, bis hin zu den unverschämten Friedensbedingungen von Brest-Litowsk im März 1918, wodurch faktisch ein osteuropäisches Kolonialreich unter deutscher Führung geschaffen werden soll – ein Gewaltakt, als dessen umgehende, gerechte Strafe man den Diktatfrieden von Versailles ein Jahr darauf mittlerweile auch in der Forschung auffasst. Unter allen beteiligten Mächten hatte das Deutsche Reich am wenigsten Grund zum Kriege, und unter allen Kriegszielen waren seine am wenigsten gedeckt, sei es durch Logik, sei es durch Emotion.

Die Frage nach der Kriegsschuld ist seit dem Krieg selber oft gestellt worden, und mit einer Insistenz wie sonst bei keinem Krieg in der Geschichte. Der Erste Weltkrieg brach aus, der zweite wurde entfesselt – über diese Formel herrscht in Forschung und Publikum seit Langem Einigkeit, und auch jüngere, meinungsstarke Beiträge aus der Literatur haben daran nichts geändert. Die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, als die George F. Kennan den Weltkrieg in einer berühmten Wendung bezeichnete, ist in ihrer Genese heute so sehr ein Faszinosum wie vor einhundert Jahren.

Freilich folgt in der Geschichte alles einer inneren, und wiederum auch überzeitlichen, seinsmäßigen Logik. Und nach dieser Logik hatte das europäische Zeitalter politisch ausgedient. Fünfzehnhundert Jahre lang, seit dem Untergang Roms, hatten die europäischen Mächte das Politische in seiner territorialen Praxis ausgelotet in alle Richtungen; 1914 stießen sie endgültig an ihre Grenzen, und es war nur folgerichtig, dass sich die Bevölkerung Mitteleuropas mit der Niederlage 1918 zugleich ihrer Monarchen – allein in Deutschland waren dies zwanzig regierende Herren – entledigte; denn das abrahamitische Prinzip, wonach der Fürst Hirte seiner Völker ist und sie sicher durchs Ungewisse führt, hatte seine historische Legitimität verloren. Dass sich die Deutschen um ihr historisches Heldenepos betrogen fühlen sollten; dass der Verlust des Kaisers einen tief in der Volksseele verwurzelten Vaterkomplex aktivieren sollte, stand dabei auf einem anderen Blatt.

Vielleicht begreifen wir das Phänomen dieses Krieges, der aus seiner eigenen Tradition so sinnlos und fremd hervorragt, besser, wenn wir ihn aus der zukünftigen Perspektive heraus betrachten. Keine hundert Jahre sind seither vergangen, und das Antlitz Europas und der Welt hat sich vollständig geändert. Die klassische Machtpolitik ist, im Modus ihrer erratischen, infernalischen Überspitzung durch das Deutsche Reich in zwei Weltkriegen, aus dem Repertoire der europäischen Politik verschwunden; wir sind vollends ins Zeitalter des Wirtschaftlichen eingetreten, und das heißt auch: der konsequenten Wohlfahrts- und Wohlstandsförderung. Die USA und China haben die Rolle übernommen, die bis 1914 den fünf Großmächten vorbehalten gewesen; Europa kehrt stattdessen langsam zu seinen alten, unter dem Wust einer tausendjährigen Ver- und Entwicklung verschütteten Wurzeln zurück; es wird langsam wieder ein Europa der Regionen.

Regionalität ist die Wurzel des Europäischen. Der universelle, territorial nach innen vereinnahmende und nach außen ausgreifende Machtstaat war stets etwas Fremdes, ein orientalischer Oktroy, gegen den sich die Griechen einhundert Jahre lang gewehrt haben, bis der Große Alexander die Idee des Universalreiches im Rahmen eines genialen, abenteuerlichen, und doch wiederum wahnwitzigen Unternehmens in seine mediterrane Heimat importierte. Von Griechenland, das so auf einmal zum Mutterland der modernen Monarchien wurde – Alexander Demandt wies in seinem glänzenden Alexander-Buch, das vor vier Jahren erschien, zuletzt darauf hin –, ging diese Idee über auf Rom, dessen Imperium sich ja nicht um ein Land, sondern um eine einzelne, übermütige Stadt herumscharte (wen wundert es da, dass bis heute der Regionalismus gerade in Italien und Griechenland so besonders spürbar ist?), um sich dann im Gewimmel der Völkerwanderung zu verlieren. Karl der Große-Charlemagne, auf den sich die beiden Mutternationen des postmodernen Europa, Frankreich und Deutschland, als Ideenstifter berufen, stellte das Reich wieder her, aber nicht ursprünglich als politische, sondern vielmehr als Stammeseinheit. Die nationelle, politische Aufladung kam erst durch den Kaisertitel hinzu; seitdem glaubte sich jeder seiner Nachfahren dazu berufen, aus seiner eigenen Nationalität heraus Europa als Gesamtstaat einrichten zu müssen. Der europäische Urgedanke: ein freies Miteinander unterschiedlicher Stämme und damit Regionen zu sein, geriet in Vergessenheit. Es wurde beansprucht, arrondiert, geraubt und wieder zurückgeraubt, eintausend lange Jahre lang.

1914 brach das Kartenhaus des europäischen Nationalismus endlich in sich zusammen. Mit dem ersten Krieg allein war es freilich nicht getan; es bedurfte der noch viel schrecklicheren Entwicklungen über jenes Kontinuum von 1914 bis 1945 hinweg, bis sich Europas martialische, selbstzerstörerische Energien endgültig erschöpft hatten. Aber 1914 war das erste Aufleuchten, der erste laute Knall, der die Völker Europas daran gemahnte, dass sie Brüder sind, nicht Konkurrenten, und dass das Zeitalter der Bruderkriege seinem Ende entgegen geht.

So ist es kein Zufall – wie ohnehin überhaupt nichts in dem großen Zeitbogen, den wir Geschichte zu nennen gewohnt sind, „zufällig“ ist –, dass sich der „Große Krieg“, wie ihn Franzosen und Engländer mit pathetischer Hellsicht immer noch nennen, vorzüglich abspielte auf den Schlachtäckern auf jener Länderbahn zwischen Ostende und den Alpen; zwischen Belgien, dem jüngsten ,und der Schweiz, dem ältesten neutralen Staat in Mitteleuropa, deren einer nach dem ersten Krieg Sitz des Völkerbundes wurde, während der andere nach dem anderen, noch schlimmeren Krieg Sitz der Europäischen Union wurde. Der europäische Gedanke, das heißt: die Abkehr vom Nationalen, die Entschärfung des Politischen, die Übertragung der Ideale von Einheitlichkeit und Einheit vom Ganzen auf das Individuum: auf den Blutfeldern des Ersten Weltkriegs, der alle Grausamkeit und Absurdität des Kriegerischen in greller Schnörkellosigkeit ans Licht brachte, schälte er sich unter Mühen und Konvulsionen aus seiner historischen Verschalung.

Nicht verwunderlich, sondern nur folgerichtig ist die Doppelrolle, die hierbei Deutschland spielte. Wenngleich formell – das haben die Forschungen der vergangenen Jahre eindrücklich gezeigt – nicht mehr und nicht weniger schuld am Kriegsausbruch als die andern Beteiligten (hatte es doch selber am allerwenigsten Grund dazu), so war es doch, wie seit dem Mittelalter, wie schon in der Römerzeit, die „deutsche Frage“, woran sich die Zukunft Europas entscheiden sollte. Deutschland nahm, in unseliger, kindischer und zugleich gewalttätiger Verblendung, die Last der historischen Schuld auf sich: sich auf diesen sinnlosesten aller Kriege eingelassen, ihn erst zu dem gemacht zu haben, was er wurde: nämlich zu den „letzten Tagen der Menschheit“ (Karl Kraus), auf dass am Ende die Idee vom staat-losen, apolitischen Europa: dem Europa der Regionen, dem Europa der Brüderlichkeit, in der unwiderleglichen Alternativlosigkeit vor seinen Völkern stehe, wie sie nur das Erlebnis dieses Krieges in die Geister hat prägen können. Die falsche Form musste mit Gewalt zerbrochen werden, auf dass das gute Innere, die reine Materie zur Entfaltung kam: die uralte, mythische Idee von der Pax Europaea, vom europäischen Frieden.

© Konstantin Sakkas, 2013

Der Text erschien in leicht geänderter Fassung in der Ausgabe Januar 2014 in der Zeitschrift Die Drei.

Titelbild: Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich und seine Frau Sophie am Tag ihrer Ermordung, Sarajevo, 28. Juni 1914.

Der Antisemitismus als Antiorientalismus

Der deutsche Antisemitismus war eine direkte Folge der polnischen Teilungen, die jene Juden, die vier Jahrhunderte zuvor vor den Pogromen des späten Mittelalters nach Osten geflohen waren, wieder nach Preußen und Österreich und damit gleichsam den „Osten“ nach dem „Westen“ führte. Bis dahin kannte man „den Juden“ zwischen Köln und der Lausitz in der Öffentlichkeit vorwiegend als Hoffaktor und Geldverleiher mit dem entsprechenden unterschichtigen Anhang. Dass, worauf Hannah Arendt in ihrer Ätiologie des modernen Antisemitismus bekanntlich das Hauptgewicht legte, es vor 1789 bzw. 1806 eine Öffentlichkeit ieS und damit auch die Bedingung der Möglichkeit von Antisemitismus in Europa nicht gab, kommt hinzu.
Tatsächlich aber war es das urplötzliche, massenhafte Auftauchen der Orientalität im „Westen“, jenem seit Kolumbus‘ Tagen in einem Dornröschenschlaf liegenden Westen, das unbekannte und ungeahnte Gefühle der Fremdheit, der Ablehnung und des Hasses in den Völkerseelen auslöste. Die Juden: das waren die schlechthin Anderen, das waren Europäer, die nicht zu Europa zu gehören schienen, die man nicht in Europa haben wollte, seitdem der europäische Orient, das Land zwischen der kroatischen Militärgrenze und Zypern, das alte Kaiserreich der Griechen, an die Türken, der eigentliche Balkan gleichsam an den falschen, den eurasischen gefallen war.
Nun waren die Orientalen, die man im 14. Jahrhundert so glücklich losgeworden war, dank dem gâteau des rois, den der filigrane Kalvinist, die weltkluge Katholikin und die russische Theodora mit der genialisch-ungenierten Rationalität des Rokoko untereinander aufgeteilt hatten, wieder mitten in Europa, dessen einziger ideologischer Strohhalm während der dark ages zwischen 1453 und 1763 hüben wie drüben eine düstere, negativistische Christlichkeit gewesen war. Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen aber wurden, gebrochen und zerfallen mit sich selbst, der Geschichte, Welt und Gott, an der Ungebrochenheit und Traditionalität, die in Millionen polnisch-litauischen Juden, nunmehrigen Untertanen der Majestäten zu Wien und Berlin, sich verkörperte, irre. Sie, nicht die Westler, waren die eigentlich Verwurzelten. Sie brauchten keinen Luther, keinen Bacon, keinen Kant. Für sie hatte das Altertum nie aufgehört, ihre Tradition reichte zurück hinter die beiden großen Artusgestalten des späten Mittelalters, Konstantin den Elften in Mistra und Friedrich den Zweiten auf Casteldelmonte, hinein ins erste Jahrtausend. Der Osten – erst der griechische, dann der slawische – hatte diese Wurzeln konserviert. Dafür sollten sie nach 1772, spätestens nach 1815 bitter Zins zahlen.
Nach 1945 dann wurde Westeuropa nicht etwa judenfreundlich. Es gab schlicht kaum mehr Juden zwischen Bretagne und Burgenland. Die aber überlebt hatten, waren nun in Israel.
Und unversehens wurde so der junge jüdische Staat mit seiner aus einer vermeintlichen Diaspora heimgekehrten jüdischen Bevölkerung, die in Wahrheit die ältesten Bürger Europas sind, sich selbst zurückführend auf Vorfahren aus den Zeiten Konstantins Kleopatras: wurde also jener Staat fernab des geografischen Westens zwar, aber dennoch direkter Nachbarstaat des EU-Staates Zypern, zur neuen Projektionsfläche des westlich-neuzeitlichen Hasses auf den europäischen Orient, auf die Orientalität Europas.
Solange Europa diese seine Orientalität, jene geistliche und nicht bloß geistige Herzkammer, die ihm in einer paradoxalen Gegenbewegung das römische Christentum, das pseudopetrinische Konzept der Westernness geraubt, nicht wieder in sich hereinholt, sie begreift: so lange wird dieses Europa nicht zur Ruhe kommen.

Die große Umwälzung. Friedrich der Große und die Epochenscheide 1763

Ein Vierteljahrtausend liegt zwischen dem Ende des Siebenjährigen Krieges im Jahr 1763 und heute. In diesen 250 Jahren hat sich die Welt weiter entwickelt als jemals zuvor

In unserer jubiläenfrohen Zeit hat ein Datum erstaunlich wenig Beachtung gefunden: der Friede von Hubertusburg, mit dem vor zweihundertfünfzig Jahren, im Jahr 1763, der Siebenjährige Krieg zu ende ging. Damals endete nicht nur der Selbstbehauptungskampf Preußens und seines großen Königs; damals endete auch nicht nur die Auseinandersetzung zwischen England und Frankreich um die Vorherrschaft in den Kolonien und auf den Weltmeeren: nein, damals ging eine Epoche zu ende, damals begann ein neuer Zeitabschnitt, in dessen Schatten wir heute immer noch stehen. In diesem Vierteljahrtausend zwischen 1763 und 2013 hat sich die Welt radikaler verändert als in allen Jahrhunderten zuvor. In diesem Vierteljahrtausend werden die Grundlagen des modernen Staatensystems gelegt, die Grundlagen der modernen Wirtschaft, die Grundlagen unseres Denkens, unserer Moral, unserer Religion. Das Jahr 1763 läutet das Ende der Neuzeit ein; 1763 ist der vorgezogene Beginn der Moderne; unter allen Jubiläen, die im vergangenen Jahr begangen wurden, ist dies das eigentlich wichtige und entscheidende.
Es beginnt relativ harmlos und romantisch: am 30. März 1763 kehrt Friedrich II., König von Preußen, nach sieben Jahren Krieg endlich in seine Hauptstadt Berlin zurück. Als er an der Stadtmauer eintrifft und der Magistrat ihn bittet, in den für ihn bereitgestellten Prunkwagen umzusteigen, um die Huldigungen der jubelnden Bevölkerung entgegenzunehmen, weigert er sich. Friedrich möchte an diesem Tag allein sein. Sein Biograph Franz Kugler hat die denkwürdige Szene überliefert:

„Es wird erzählt, daß sich Friedrich, bald nach seiner Ankunft, nach Charlottenburg begeben und Musiker und Sänger ebenfalls dahinbestellt habe, mit dem Befehl, das Tedeum von Graun in der Schloßkapelle aufzuführen. Auf solche Anordnung habe man dem Erscheinen des gesamten Hofes entgegengesehen. Aber der König sei ohne Begleitung in die Kapelle eingetreten, habe sich niedergesetzt und das Zeichen zum Anfange gegeben. Als die Singstimmen mit den Worten des Lobgesanges eintraten, habe er das Haupt in die Hand gestützt und geweint.“

Am Beginn der Moderne stand die Melancholie. Am Beginn des Fortschritts stand die Resignation. Friedrich, der wie so viele seinesgleichen ein gespaltenes, aber intimes Verhältnis zu Gott und zum anderen Leben hatte, hätte glücklich und zufrieden sein können mit dem, was er in den sieben Jahren Krieg durch eigene Leistung ebenso wie durch Glück erreicht hatte; er war es nicht. Er war in diesem Augenblick, nicht anders als ein heranwachsender Junge, zu erschlagen von der Isolation, die de Preis seines Ruhmes und seiner Macht gewesen war. Er war spätestens seit diesem Augenblick ein unglücklicher Mensch.
Doch die Geschichte nahm auf das private Unglück eines in sich Zerrissenen keine Rücksicht. Tatsächlich hatte Friedrich mit seinem Sieg eine Entwicklung angestoßen, in deren Strom wir noch heute stehen. Russland, das im letzten Augenblick die Seiten gewechselt und Preußen dadurch das Überleben gesichert hatte, trat ein in den Zirkel der europäischen Großmächte; Deutschland wurde, wenn auch in preußischer Gestalt, vom Spielball zum Spielmacher der europäischen Politik und ist an diesem Ziel unter der Regierung Angela Merkels, wenn auch über Umwege, endlich angekommen; die britischen Kolonien in Amerika wurden durch den Einsatz, den sie für ihr Mutterland im Kampf gegen Frankreich gebracht hatten, so selbstbewusst, dass sie zehn Jahre später die Unabhängigkeit einforderten und auch erreichten; und in Frankreich waren die wirtschaftlichen und politischen Wirkungen der doppelten Niederlage derart verheerend, dass die Revolution nur noch eine Frage der Zeit war. All das waren die unmittelbaren Konsequenzen des Siebenjährigen Krieges.
Uns Heutigen fällt es nicht leicht, uns zu vergegenwärtigen, dass die Wurzeln unserer Epoche in einer Zeit liegen sollen, die von unserer nicht nur formell, sondern vor allem lebensweltlich fast so weit entfernt scheint wie das Mittelalter oder gar das Altertum. Und wenn man auf das Alltagsleben sieht, so befand sich die westliche Welt 1763 ja auch noch tief im Mittelalter. Doch es war eben auch das indirekte Geburtsjahr der Industrialisierung. England war nun die Weltmacht Nummer eins, und nur sechs Jahre später, genau zweihundert Jahre vor der Mondlandung, wurde die Dampfmaschine erfunden, der Grundstock der modernen Wirtschaft und des modernen Wohlstands.
Tatsächlich liegen die Wurzeln unserer heutigen Welt in diesem Jahr. Friedrich, der ein Leben lang den Widerspruch zwischen Introversion und Extroversion, zwischen Weltverneinung und Weltbejahung, zwischen Fortschritt und Beharren nicht auflöste, sondern in der Zerrissenheit verharrte, wurde mit seinem politischen Handeln und seiner geistigen Figur als aufgeklärter, freiheitsliebender Fürst zum Motor der modernen Entwicklung. Als er, der mit den Worten Jacob Burckhardts rittlings auf der Scheide zwischen zwei Zeiten saß, 1786 in Schloss Sanssouci starb, dauerte es nur noch drei Jahre, bis in Frankreich die Revolution ausbrach, in der das Volk in corpore zum ersten Mal erfolgreich seinen Willen artikulierte: nämlich teilhaben zu wollen am Wohlstand, der überhaupt erst die Basis ist für ein erfülltes Leben im Diesseits. It’s the economy, stupid: die Parole der Clinton-Ära in den 1990er Jahren könnte genauso gut als Leitspruch über den fünfzehn Jahren zwischen 1774, dem Beginn des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, und 1789, dem Jahr des Ausbruchs der Französischen Revolution, stehen.

Das Jahr 1763 nimmt in der Topographie der Jahreszahlen eine merkwürdige Schlüsselposition ein. Fünfzig Jahre trennen es von 1813, dem Jahr der Befreiung von Napoleon, dem Jahr der Völkerschlacht, hundert Jahre von 1863 – da war Otto von Bismarck gerade ein Jahr preußischer Ministerpräsident –, hundertfünfzig Jahre von 1913, dem letzten Jahr der Neuzeit, zweihundert Jahre schließlich von 1963, dem Jahr, in dem Kennedy ermordet wurde – ein Mord, der die Götter gnädig stimmen sollte, auf dass der Kalte Krieg kalt bliebe und nicht ausartete in die Apokalypse, die damals alle Welt Jahr für Jahr ängstlich erwartete. 1763: das Jahr, in dem in dem kleinen kursächsischen Jagdschloss Hubertusburg zwischen den beiden ausgepowerten Kontrahenten Preußen und Österreich, zwischen Kaiserin und König der lang ersehnte Friede geschlossen wurde, entpuppt sich in der Rückschau aus zweieinhalb Jahrhunderten Entfernung als die Benchmark, der Angelpunkt, von dem aus die Weltgeschichte einen anderen, neuen Gang nehmen sollte.
Der siebenjährige Krieg ragt aus der endlosen Serie kriegerischer Auseinandersetzungen, die die europäische Geschichte bis 1945 bedeutet, insofern heraus, als sich hier provinzieller Kabinettskrieg und weltpolitische Auseinandersetzung miteinander vereinigten. Denn der dritte Krieg um Schlesien war zuerst einmal nichts anderes als der Versuch Österreichs unter seiner Herrscherin Maria Theresia, die von Friedrich geraubte Provinz wieder zu erobern und zugleich den drohenden Konkurrenten aus dem Norden auf den Rang einer drittklassigen Macht zurückzustufen. Durch den „Umsturz der Koalitionen“ 1756, als sich Frankreich mit seinem alten Erbfeind Österreich, England aber mit dem jungen Preußen verbündete, wurde der Regionalkonflikt zum Weltkonflikt. Frankreich befand sich dabei von Anfang an in der schwächeren Position, denn die Tatsache, dass es eine Kontinentalmacht und militärisch und wirtschaftlich auf dem Kontinent engagiert war, verminderte seinen internationalen Aktionsspielraum erheblich. England aber war seit den Tagen seiner jungfräulichen Königin Elisabeth, seit den Tagen Francis Drakes, dieses Raubritters der Weltmeere, die ungeschlagenen Handelsmacht Nummer eins.
Brandenburg-Preußen wiederum befand sich bei Beginn des Siebenjährigen Krieges in der Hochphase seiner inneren und außenpolitischen Konsolidierung. Was es in den letzten hundert Jahren geworden war, verdankte es der schieren Willenskraft der vier Herrscher, die es bis dahin regiert hatten. Nun war Friedrich an der Reihe, der zweite seines Namens nach seinem Großvater Friedrich dem Ersten, der 1701 durch diplomatisches Geschick die Königskrone an Preußen gebracht hatte. Friedrich II. war von dem Ehrgeiz besessen, sich einen Namen in der Weltgeschichte zu machen, und er war erfüllt von einer unbändigen Willenskraft, die ihr Widerlager in einem seltsam modernen, freiheitlichen Individualismus hatte. In zwei kurzen, schnellen Kriegen hatte er Schlesien, eine reiche Provinz, an sich gerissen und als seinen Besitz gegen Maria Theresia verteidigt. Den dritten Krieg, der sich seit dem Ende des zweiten längst angebahnt hatte und 1756 ausbrach, hatte er nicht gewollt, so wie er überhaupt außenpolitisch seltsam ambitionslos, ja: apathisch geworden war. Er musste gleichsam hineingetrieben werden durch die Umstände: Friedrich mochte noch so oft beteuern, dass er saturiert sei; dass es ihn nicht nach noch mehr Eroberungen gelüste; dass er in friedlicher Koexistenz mit den anderen europäischen Mächten zu leben gedenke: man glaubte ihm nicht. Man sah in ihm eine Bedrohung, einen Revolutionär, der ganz Europa in den Strudel einer Entwicklung zu reißen drohte, die unumkehrbar sein und die das Ende aller hergebrachten geistigen und politischen Systeme bedeuten würde.
Es gehört zu den großen Paradoxien der Weltgeschichte, dass die entscheidende Entwicklungsphase, die auf unsere Gegenwart hinführt, angestoßen wurde von zwei Bündnispartnern, die gegensätzlicher nicht sein konnten. Hier England, das längst keine absolute Monarchie mehr war, sondern ein Staat, der von reichen Handelsleuten und Großgrundbesitzern regiert wurde; dort Preußen, ein bei aller Aufgeklärtheit und Toleranz zutiefst monarchischer, ja: despotischer Staat mit einem König an der Spitze, der per Kabinettsorder herrschte und der viel mehr ins Altertum, vielleicht noch ins Mittelalter passte als in die langweilige Gewöhnlichkeit des Achtzehnten Jahrhunderts. Ein echter Heerkönig noch, der nie aus dem Sattel kam und dennoch 121 Flötensonaten komponierte; ein Literat auf dem Thron, ein Freimaurer und Geisterseher, der seine Spiritualität hinter gereimten Spottversen versteckte und der durch einen grausamen Vater zur absoluten Selbstverleugnung erzogen worden war.
Dieser Friedrich stand sein Leben lang in einem merkwürdig zwiegespaltenen Verhältnis zur Geschichte, das heißt: zur Geschichtlichkeit des Menschen überhaupt. Mit dem einen Teil seiner Seele wäre er am liebsten in einer fiktiven Aetas aurea geblieben, einem vor- und außerhistorischen Bezirk, wie ihn die bukolische Lyrik der alten und neuen Klassiker besang, fern aller Zwänge, fern aller Bedingtheiten und Verpflichtungen; der andere Teil aber glühte vor Tatendurst, vor Eifer nach Ruhm und Eroberung, nach Selbstbewährung im kriegerischen Extrem. Aristoteles und Alexander gingen in diesem feuerköpfigen, irgendwie alters- und geschlechtslosen Fürsten aus einer ursprünglich gänzlich unbedeutenden süddeutschen Adelsfamilie eine außergewöhnliche Liaison ein. Wenn in irgendeiner, dann schlugen in seiner Brust zwei Seelen.
Dieser Friedrich also verbündete sich in der Konvention von Westminster 1756 mit England, dem reichsten und wohl auch mächtigsten Staat der Erde, um seinen schlesischen Besitz zu verteidigen. Binnen weniger Monate standen die Koalitionsverhältnisse fest: hier Preußen und England, dort Österreich, Frankreich und Russland, flankiert von den beiden kleineren Mächten Sachsen und Schweden. Aus der preußisch-englischen Koalition gingen die Kräfte hervor, die nicht nur Europa und die Welt ordnen sollten, sondern in deren Wechselspiel sich die Weltgeschichte bis 1945 vollziehen sollte. Es waren englische und preußische Truppen, die 1757 vereint in Norddeutschland kämpften; die 1815 bei Waterloo Napoleon bezwangen; die sich in der Zeit der Flottenrüstung um 1900 aggressiv belauerten; die schließlich in den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs aufeinandertrafen.
Der Sieg im Siebenjährigen Krieg – das kann man jenseits aller Legendenbildung nüchtern feststellen – ebnete den Weg Preußens zur Führungs- und Einigungsmacht Deutschlands. Friedrich, das wissen wir, hielt nichts von dem Gedanken eines unitarischen deutschen Staates, und das wäre auch in Zeiten des Heiligen Römischen Reiches mit seinen dreihundert souveränen Territorien undenkbar gewesen; aber Preußen konnte sich, so oder so, seiner Aufgabe nicht entziehen, und sah die Welt nur einhundert Jahre später Otto von Bismarck als frischgebackenen preußischen Ministerpräsidenten, der die Einigung Deutschlands unter dem König von Preußen mit Macht und List vorantrieb. Das Deutschland, das 1871 im Deutsch-Französischen Krieg geschaffen wurde, war ein Preußen-Deutschland, und Friedrich hatte dazu, sicher nicht beabsichtigt, den Grundstein gelegt.

So entstand aus einer Beinahe-Niederlage – am Ende entschied der Wechsel Russlands ins preußische Lager den Krieg – auf lange Sicht das Deutschland, das künftig von Europas Mitte aus die Geschickte des Kontinents erst beeinflussen, dann dominieren sollte. Auf der anderen Seite aber leitete der Sieg Englands über Frankreich seinen langsamen Abstieg ein. Denn er Sieg in Amerika gab den britischen Kolonien erst das Selbstbewusstsein, sich gegen das Mutterland aufzulehnen und, als Preis für ihr Standhalten gegen die Franzosen, das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwaltung einzufordern. 1763, nicht 1776 ist das eigentliche Geburtsjahr der amerikanischen Unabhängigkeit. Die Vormachtstellung der USA als wirtschaftliche und dann auch politische Führungsmacht der Welt ging hervor aus dem kolonialen Nebenkriegsschauplatz eines klassischen kontinentaleuropäischen Kabinettskriegs. Hier das kleine Preußen, das ohne seinen Fürsten Friedrich niemand von den Großen politisch ernst genommen hätte; dort die amerikanische Ostküste, für Europäer eine halbe Wildnis, aber mit dem Sendungsbewusstsein von Seefahrern und Siedlern, die den britisch-französischen Zwist zum Anlass nahmen, sich auszuklinken aus der Abhängigkeit von den überkommenen europäischen Konstellationen und einen dritten, ihren eignen Weg zu gehen.
Preußen und Amerika – dieses merkwürdige, so gegensätzliche Zweiergespann steht 1763 am Anfang einer globalen Entwicklung, die nun ein Vierteljahrtausend alt ist. Durch Preußens Energie ging Europa endlich aus der mittelalterlichen Beschaulichkeit über in den angespannten Aktivismus der Moderne. Man kann sich das sehr gut veranschaulichen an den drei externen Wirkungen, die Preußens Sieg hatte.
Erstens: Österreich, der erste Vielvölkerstaat Europas, verliert seine Vormachtstellung in Mitteleuropa. Österreich, diese erste Staatsnation der Geschichte, diese Bewahrerin byzantinischer Gelassenheit, ein Staat, der westliche, slawische und orientalische Kultur zusammenführte, die legitime Nachfolgerin des Oströmischen Reiches, deren Herrscher nicht durch Zufall Träger des römischen Kaisertitels geworden waren und es seit dem 15. Jahrhundert, seit dem Fall Konstantinopels, in ununterbrochener Reihe waren. Österreich, genauer: die Habsburgischen Lande – denn es war ein dynastischer Territorialverbund ohne zentrale konstitutionelle Form –, war in seiner unorganisierten Vielfalt – geistig, wirtschaftlich, sozial und auch politisch – ein einmaliges Konstrukt, das in seiner schillernden Proteushaftigkeit, seiner merkwürdigen Melange aus altertümlicher Provinzialität und dynamischer Fortschrittlichkeit den Charakter des alten Europas, sein antikes und mittelalterliches Erbe ideal abbildete. Der Geist, der von Österreich ausging: das gesicherte, behagliche Beharren beim Alten: dieser Geist wurde durch Friedrich mit ungewollter Brutalität zerstört. An seine Stelle trat der Geist des vorwärtsstürmenden, alles infragestellenden und umwerfenden Protestantismus.
Zweitens: Russland wird auf den Plan gerufen. Der Aufstieg Russlands nicht nur zum anerkannten Mitglied des europäischen Mächtekonzerts, sondern zum Tonangeber in der europäischen Politik datiert von 1763. Solange Russland Preußen vernichten wollte, blieb es erfolglos; aber sofort nach dem Bündniswechsel 1762 wird klar, dass mit dem slawischen Riesenreich im Osten künftig gerechnet werden muss. Friedrich, der sein Leben lang den Westen, die französische Kultur, das burgundische savoir-vivre liebte (man darf nicht vergessen, dass er Hannöversche und niederländische Vorfahren hatte), verdanke sein politisches Überleben einer Macht, die er von Herzen verachtete, die ihm wesensmäßig fremd war; ohne die Preußen aber nichts war. Und so wurde Russland zur Schutzmacht Preußens und Deutschlands: 1763, 1806 und 1813, und wieder in den Bismarckschen Einigungskriegen, als der Zar Alexander im Osten Preußen den Rücken freihielt. Und selbst in den beiden Weltkriegen war es Russland, das einmal durch seine Niederlage 1917, dann durch seinen Sieg 1945 dafür sorgte, dass Deutschland erhalten blieb. Russlands Macht, die heute deutlicher dasteht denn je, ist ein Ergebnis von 1763, ein Ergebnis des friderizianischen Kampfes um Selbstverwirklichung, der ausuferte in eine politische Impulsgebung, die die Welt erschüttern und für immer verändern sollte.
Drittens schließlich: das Erwachen des französischen Volksgeistes durch die Revolution. Friedrich, selber ein Landesherr alter Schule, ein Chevalier auf dem Thron à la française, war nichts fremder als der Geist der Revolution. Nicht aus Mangel an sozialem Gewissen – davon hatte er sehr viel, mehr als die meisten seiner Standesgenossen; sondern aus Furcht vor Veränderung, aus Horror vor der Verwirrung der Gefühle und der Systeme, aus Liebe zur Ruhe, zur paradiesischen Ordnung, zur Harmonia caelestis. Friedrich liebte das und fühlte mit dem Volk; aber er verabscheute, aus ödipaler Befindlichkeit ebenso wie aus quietistischem Gewissen, die Unruhe, die Auflösung. Doch genau dieser Friedrich zerstörte, nolens volens, mit seiner feurigen, merkwürdig überweltlichen und ursprünglichen Aktivität die romantische Ruhe in Europa, und er zerstörte das innere Gleichgewicht der französischen Nation. Als die französischen Truppen geschlagen von Rossbach heimkehrten – es war 1757 –, begann es in Frankreich zu bröckeln. Der Krieg hatte das Land, das zwar reich, aber seit Ludwig dem Vierzehnten auch ständig verschuldet war, noch einmal bis ins Extrem strapaziert; diesmal sollte sich der Bogen nicht weiter spannen lassen. Der Samen der Revolution und ihres Erfolges wurde gelegt, als das Volk, der Dritte Stand, einen Verbündeten fand im französischen Adel, dem nach dem verheerenden Scheitern der königlichen Machtpolitik im Siebenjährigen Krieg die letzten Illusionen über den Absolutismus geraubt wurden. Adel und Teile des Hochadels, allen voran das Haus Orléans, gehörten zu den heißesten Bewunderern Friedrichs, des schneidigen, heroischen „Markgrafen von Brandenburg“; und sie gehörten dreißig Jahre später zu den wichtigsten Verbündeten der französischen Unterschicht im Kampf um Freiheit und Gleichheit. Lion Feuchtwanger hat in seinem Rousseau-Roman „Narrenweisheit“ die Verflechtung zwischen aufgeklärter französischer Aristokratie und revolutionärem Volk mit feiner Einfühlungsgabe nachgezeichnet.

So hat Friedrich von Preußen, der Jüngling-Vater auf dem Thron, dieses unmännliche Musterbild von einem Mann, dieser väterliche Muttersohn, dieses Ebenbild von einem Monarch, ohne es zu wollen eine dreifache Revolution angestoßen: eine politische, eine soziale und eine wirtschaftliche Revolution. Politisch durch die Erstarkung Deutschlands und das Hereinholen Russlands in die Pentarchie. Sozial durch die Zündung des revolutionären Gedankens in Frankreich. Wirtschaftlich aber durch das Bündnis mit England, aus dem mittelbar die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten erwuchs, mit denen er übrigens als erster europäischer Monarch 1785 ein Bündnis schloss. Der russisch-amerikanische Gegensatz, der das 20. Jahrhundert bestimmte, nahm von diesem Datum aus seinen Ausgang, und ebenso die Demokratisierung der Welt, die 1789 losgetreten wurde, nachdem das französische Königtum mit der Niederlage im Siebenjährigen Krieg seine Bankrotterklärung abgegeben hatte.
Alle Entwicklungen, die unsere Gegenwart unmittelbar geprägt haben, haben sich in diesem Vierteljahrtausend zwischen 1763 und 1813 vollzogen: die territoriale Konsolidierung Mitteleuropas mit einem einigen, dominanten Deutschland; die industrielle Revolution; die Philosophie der Aufklärung; die Parlamentarisierung und Demokratisierung, die nach und nach alle europäischen Staaten erfasst hat. Zugleich aber bedeutete 1763 – und Friedrich wird das geahnt haben – auch den Abschied von der Ruhe und Beschaulichkeit Alt-Europas; den Verlust der Geborgenheit im Mutterschoß des Glaubens, des blinden, religiösen Weltvertrauens, das seit der Christianisierung Europas in der ausgehenden Antike über die Stürme des Mittelalters mehr oder weniger ungebrochen gegolten hatte. 1763 ist das Datum, an dem Alt-Europa anfängt, keine Heimat mehr zu sein, an dem die Europäer anfangen, ihre Heimat zu verlieren.
Die territoriale Entgrenzung, die damit einsetzt, dass Europas atlantische und asiatische Flanken geöffnet werden, bewirkt die Entgrenzung der Emotionen und des Geistes. Das ist immer so, ob im persönlichen Leben oder im Leben der Menschheit. In jeder Biographie Immanuel Kants ist zu lesen, dass das aufgeklärte Königsberger Geistesklima, das sich so abhob von dem Zustand im restlichen Preußen, mit der territorialen Offenheit der Hafenstadt Königsberg zusammengehangen habe. Nun, in genau dieser Lage befindet sich Europa 1763 mit der Öffnung seiner Flanken nach West und nach Ost. Russland galt unter Peter dem Großen, der auch noch aus einer indigenen russischen Familie stammte, noch als barbarisches Land; die Gebildeten, wie Friedrich selber, sprachen in Anspielung auf das Exil des Dichters Ovid in der römischen Kaiserzeit von den „Geten und Sarmaten“. Unter Peter von Schleswig-Holstein-Gottorf, dem dritten Herrscher seines Namens, avancierte Russland zum akzeptierten europäischen Player. Jeder Konflikt seither, bis in unsere Tage, konnte nicht ohne das Zutun Russlands entschieden werden, und Europa fand in diesen zweihundertfünfzig Jahren zu jenr alten eurasischen Einheit Schritt für Schritt wieder, die einst im Altertum bestanden hatte und dann durch die Teilung Roms und den christlichen-orientalischen Gegensatz verloren gegangen war.
So wie im Osten Eurasien wieder zusammenfand, so geschah es im Westen, glaubt man der Ontologie der Territorien, mit Atlantis. Durch den Siebenjährigen Krieg rückte Amerika, dieses merkwürdige, fremde und ungeheuerliche Ungetüm im Westen, mit ungeheurer Macht ins Bewusstsein der Europäer, dieser trägen Landbevölkerung mit ihrem Kirchturm- und Serenissimus-Horizont. Der alte Bruch zwischen Europa und Amerika beginnt zu heilen, um den Preis freilich, dass in Europa selber das Bewusstsein der Geschlossenheit und Geborgenheit aufbricht, um schließlich unwiederbringlich zu zerbrechen. Die „Weltpolitik“ hält Einzug in Europa, und damit „Welt“ als politische Kategorie überhaupt. Die Moderne, die die Geschichtswissenschaft traditionell mit dem Jahr 1789 beginnen lässt, wirft ihre Schatten voraus, und man spürt, dass es mit der Behaglichkeit und Beschaulichkeit des alteuropäischen Daseins bald aus sein wird.
Sozialgeschichtlich mag 1789 den Anbruch der Moderne markieren; politisch ist es 1763, und nicht zu Unrecht haben Historiker immer wieder den Siebenjährigen Krieg als ersten eigentlichen Weltkrieg in der Geschichte bezeichnet. Und es ist bezeichnend, dass in diesem Augenblick die klassischen europäischen Mächte, England, Frankreich und das Haus Habsburg, anfangen, ihre hergebrachte Vormachtstellung einzubüßen. Man hat den Siebenjährigen Krieg gern als Beginn der englischen Dominanz in der Weltpolitik, als eigentliche Geburtsstunde des Empire angesehen; in Wahrheit war es der Beginn seines Untergangs. Die Energien, die im Krieg in Amerika freigesetzt wurden, lehrten die Kolonien überhaupt erst, nach Unabhängigkeit zu streben, ein eigenes Staatengebilde aufzustellen, das vom europäischen Modell grundverschieden sein sollte, und doch dessen Urmotiv: das Streben nach Macht und Ausdehnung, eins zu eins übernehmen und perpetuieren sollte. –

Freilich: das andere Urmotiv Europas wurde damals zu Grabe getragen: das war die Ruhe, der himmlische Friede, die Ordnung der Gestirne, die die europäische Monarchie seit Kaiser Konstantin über Karl den Großen bis hin zu Karl V. und Philipp II. auf Erden abzubilden gehofft hatte. Es war eine quietistische Ordnung gewesen, eine Ordnung der Ruhe, des Rückzugs, der Innerlichkeit und Introversion. Eine Ordnung, die Franz Grillparzer exemplarisch in die Worte fasste, die er in seinem „Bruderzwist“ Kaiser Rudolf II. in den Mund legte:

„Ich glaub an Gott und nicht an jene Sterne,
Doch jene Sterne auch sie sind von Gott.
Die ersten Werke seiner Hand, in denen
Er seiner Schöpfung Abriß niederlegte,
Da sie und er nur in der wüsten Welt.
Und hätt‘ es später nicht dem Herrn gefallen,
Den Menschen hinzusetzen, das Geschöpf,
Es wären keine Zeugen seines Waltens,
Als jene hellen Boten in der Nacht.
Der Mensch fiel ab von ihm, sie aber nicht,
Wie eine Lämmerherde ihrem Hirten,
So folgen sie gelehrig seinem Ruf
So heut als morgen wie am ersten Tag.
Drum ist in Sternen Wahrheit, im Gestein,
In Pflanze, Tier und Baum, im Menschen nicht.
Und wer’s verstünde still zu sein wie sie,
Gelehrig fromm, den eignen Willen meisternd,
Ein aufgespanntes, demutvolles Ohr,
Ihm würde leicht ein Wort der Wahrheit kund,
Die durch die Welten geht aus Gottes Munde.“

Die Frühe Neuzeit, also der Zeitabschnitt zwischen der Entdeckung Amerikas 1492 und dem Ausbruch der Französischen Revolution 1789, war gekennzeichnet von dem Bemühen, die Geschlossenheit und Ordnung des Mittelalters um jeden Preis zu bewahren. An dieser Aufgabe war Europa mit dem Siebenjährigen Krieg definitiv gescheitert. Von nun an hielten die Triebe ungehindert Einzug in den europäischen Geist, gegen die man sich bis zuletzt verzweifelt gewehrt hatte; die das Mittelalter noch als Sünde diskriminiert und bekämpft hatte: Gier, Sucht und ein hemmungsloser, ungebremster Materialismus. Von nun an fand Europa seine Erfüllung darin, sich das Erdreich bis zum Äußersten untertan zu machen und es auszubeuten, zu Wasser, zu Lande, und bald auch in der Luft. Die ruhigen Zeiten waren vorbei; Europa geriet in den Wirbelsturm der modernen Politik, mit ihm selbst als dem Zentrum dieses Sturms.
Das Merkwürdigste an dieser ganzen Geschichte ist, dass sie final angestoßen wurde von einem Mann, der dem mittelalterlichen Traum von Ruhe, Ordnung und Beschaulichkeit näher stand, als man heute allgemein sehen will. Friedrich von Preußen, der Philosoph auf dem Thron, war innerlich zerrissen wie nur irgendeiner, der jemals ein Land geführt hat: mit dem einen Teil seiner Seele stand er in der alten Zeit, scheute zurück vor der Kraft, die in ihm selber brodelte; mit dem anderen Teil dagegen trieb es ihn vorwärts, zur Überwindung der Grenzen, zur großen Umwälzung, die er in seinem Denken antizipierte. Er war der große Zerrissene, der in Europa regiert hat. Mit der einen Seite ein Bewahrer; mit der anderen ein Revolutionär. Es war weniger sein direktes Wirken – es war die indirekte Wirkung seines menschlichen Beispiels, die die Welt veränderte.
Was mit der Annexion einer kleinen mitteleuropäischen Provinz im heutigen Polen begann, wuchs sich aus zum internationalen Krieg, an dessen Ausgang die Internationalisierung der Politik selbst stand – mit dem kleinen Preußen als ihrem Epizentrum. Es war Deutschland, von dem in Zukunft die Impulse ausgehen sollten, die die Welt veränderten. Aus dem tiefen Bewusstsein über die Ewigkeit, die Ordnung und die Ruhe heraus erwuchs eine Welt, deren höchste Werte Zeitlichkeit, Unordnung und Unruhe sein sollten. Das Zeitalter des Imperialismus begann, im übertragenen wie im Wortsinne. Die Auseinandersetzung zwischen England und Frankreich um die Aufteilung der Welt war dabei nur die äußere Form; tatsächlich zeichnete sich schon damals der Antagonismus zwischen Amerika und Russland ab. Der amerikanische und der russische Geist erwachten aus ihrer Vertiefung und wählten sich Europa zum Schauplatz ihrer Auseinandersetzung. Friedrich aber, der brandenburgische Ritter ohne Fehl und Tadel aus dem bescheidenen Geschlecht schwäbischer Burggrafen, war der Unruhestifter, der das alles angezettelt hatte. Er, der dies alles nicht wirklich gewollt hatte, entbirgt sich in der Rückschau nach zweihundertfünfzig Jahren als der eigentliche, große Impulsgeber, als der Mann, der wider seinen eigenen Willen Europa und die Welt in die Moderne führte.
Das letzte Vierteljahrtausend brachte eine Bewegung, eine Energie zum Vorschein, die die Welt bis dahin nur in den Naturreichen gekannt hatte. 1755, ein Jahr vor Ausbruch des Siebenjährigen Krieges, ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, das die Gemüter in aller Welt bewegte, das Voltaire zur Niederschrift seines Candide veranlasste und das aller Welt noch ein mal vorführte, wie mächtig die Natur sei. Nur ein Jahr später entbrannte der Krieg, und mit ihm begann ein Zeitalter, in dem nicht mehr die Natur, sondern der Mensch selber des Menschen größter und gefährlichster Feind sein sollte – so gefährlich, dass er auf die Natur selbst Einfluss nimmt und sie in eine Richtung treibt, die die ganze Welt verderben kann. Zugleich aber ist es dieser Einfluss, der dem Menschen den endgültigen Ausweis ausstellt über seine Gottesebenbildlichkeit. Es mag paradox und wie ein Sakrileg klingen: aber der verführerische Ruf zur Freiheit, dem Friedrich sich in jugendlichem Ungestüm gefügt hatte, eröffnete dem Menschen nicht nur den Pfad in Untergang und Selbstvernichtung; sondern ebenso sehr die Einsicht in seine Grandiosität. Diese Grandiosität muss nicht nur sündhaft, sie kann auch legitim sein: dann, wenn der Mensch in ihrem Überschwang niemals vergisst, dass es Gott ist, von dem er seine Kräfte empfangen hat und dem er den verantwortungsvollen Einsatz dieser Kräfte schuldig ist. Der letzte Gang, den Friedrich in diesem Urkrieg der Moderne antrat, ist das ewige Beispiel hierfür: Am Ende tritt und steht der Mensch vor Gott, allein. Auf diese einmalige Situation ist all sein Handeln von Anbeginn an ausgelegt; dessen sollte er eingedenk sein, in allem, was er tut.

Dieser Text erschien in der Januarausgabe 2014 der Zeitschrift „Die Drei.“

Titelbild: Das Tedeum von Graun. Gemälde von Arthur Kampf, um 1900

Sieg der Entsagung. Leben und Sterben mit Schopenhauer

Als Dietmar Gottschall und Silke Siegel 1962 ihren berühmten „Rundbrief“ an die intellektuelle Elite der Bundesrepublik verschickten, worin sie ganz unironisch die Frage nach dem Sinn des Lebens stellten, riet ihnen der Schriftsteller Rudolf Walter Leonhardt statt einer eigenen Antwort, die Werke der großen Philosophen zu lesen, und setzte hinzu:

„Fangen Sie mit Schopenhauer an: Er ist am verständlichsten – auch am menschlichsten, und das gerade durch seine logischen und erkenntnistheoretischen Unzulänglichkeiten, welche Ihnen jeder Berufsphilosoph mit viel Scharfsinn nachweisen wird.“

Dass Arthur Schopenhauer, der vor 150 Jahren in Frankfurt am Main starb, einer strengen Kritik seiner philosophischen Methodik nur schwer standhält, gehört zu den Enttäuschungen, die jeder seiner Verehrer erleidet, wenn er ein Stück weit aus seinem Bannkreis tritt. Ebenso aber gilt, dass kein deutschsprachiger Philosoph bis heute so eine breite und allgemeine Wirkung erzielt hat wie Schopenhauer.

Für die akademische Philosophie sieht das natürlich anders aus: Gegenüber den großen Systemdenkern der Neuzeit wie Leibniz, Kant, Hegel und Heidegger kann Schopenhauer bestenfalls als Essayist bestehen; von den alles zermalmenden Existenzialisten wie Kierkegaard, Nietzsche und Sartre unterscheidet ihn wiederum der Rest von Systematik und Ganzheitlichkeit, auch der versöhnliche Grundtenor, der seinem Werk trotz allem Pessimismus eignet. Aber was die Lesbarkeit seines Stils wie die Verstehbarkeit seiner Aussagen angeht, sind seine Reichweite und sein auktorialer Charme unübertroffen.

Schopenhauer liest man nicht nur der Erkenntnis, sondern auch des Trostes wegen. Und tröstlich – dies das Paradoxe dieses sogenannten Pessimisten – ist der Tenor seines ganzen Werkes: Von seinem jugendfrisch-stürmischen Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ bis zu den altersklugen „Aphorismen zur Lebensweisheit“ – das Wort Arthur Hübschers, der im Grab seines Idols Schopenhauer beigesetzt werden wollte, gilt bis heute:

„Schopenhauer lehrt uns die Welt kennen und durchschauen. Er richtet das Bild des Menschen auf, das wir dieser Welt entgegenhalten können, und hat ihm alle Züge des Erreichbaren aufgeprägt. Er ruft zur Entfaltung höherer Daseinsformen auf, die nach den höchsten Vorbildern gelebt werden. Man kann mit seiner Philosophie leben – und mit ihr sterben.“

Eben deshalb, weil seine Philosophie in all ihrer Radikalität nie unmenschlich, nie verzweifelt wirkt, sprach man schon im 19. Jahrhundert von einem „vergnüglichen Schopenhauerschen Pessimismus“ und spielte damit auf den Salon der Gräfin Schleinitz an, den die Memoiren der späten Kaiserzeit als Oase des Kunstsinns und der Humanität im gründerzeitlichen Berlin feierten. Und nicht nur Frau von Schleinitz führte damals, wie es ihre Freundin Anna von Helmholtz ausdrückte, ein Leben „mit Goethe und Schopenhauer als steten Gefährten, mit rotem Damast als Hintergrund“.

Denn noch viel mehr als den vergrübelten Kleinbürgern in ihren schäbigen Dachkammern verdankte der Misanthrop Schopenhauer seinen Ruhm den Damen und Herren der großen Gesellschaft in ihren prächtigen Salons. Schopenhauer wurde der unmodische Modephilosoph der deutschen Gesellschaft, und dies über die Zeiten und Reiche hinweg: Datierte sein früher Ruhm aus der bleiern spätbiedermeierlichen Zeit der zweiten Restauration, nach dem Scheitern der Revolution von 1848, so wuchs er im Bismarckreich nach 1871 zur Ikone des gebildeten Bürgertums, des mondänen wie des kleinen, und konnte seine Stellung nach dem Schock von 1918 im Zeichen einer allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Verunsicherung noch ausbauen.

Prägend für den Charakter Schopenhauers, der am 22. Februar 1788 im damals preußischen Danzig zur Welt kam, waren zweifellos die negativen Erfahrungen im Elternhaus. Der Vater, obwohl begüterter Kaufmann, ist schwermütig und stirbt 1805, wahrscheinlich durch Selbstmord. Da ist der Sohn gerade 16. Die Mutter Johanna zieht mit Schwester Adele nach Weimar, wo sie alsbald eine wichtige Rolle als Salonière im Umkreis Goethes spielen soll; mit dem Sohn verbindet sie gegenseitige Abneigung, die 1814 schließlich zum definitiven Bruch führt. Arthur entwickelt sich früh zum Einzelgänger, in ihm verbinden sich genialisches Selbstbewusstsein und grimmige Weltabwendung. Typisch die erste große Liebe: Ausgerechnet Karoline Jagemann, spätere Frau von Heygendorff, Weimarer Theaterstar und obendrein Geliebte des Großherzogs Karl August, muss es sein – da ist die Schwärmerei eines romantischen 19-Jährigen von vorneherein ein heilloses Unterfangen.

Einen unbefangenen, freien Zugang zur Außenwelt gewinnt Arthur nur im Intellektuellen, auch die ausgedehnten Reisen durch Europa, auf die die Eltern den Jugendlichen schicken, tragen dazu bei. Früh erwirbt er sich solide Sprachkenntnisse, und zeitlebens pocht er auf den Wert der klassischen Sprachen für eine gründliche Bildung. Nach einigen Wanderjahren lässt er sich in den 1820er-Jahren definitiv in Frankfurt am Main nieder und führt dort bis zu seinem Tod das Leben eines materiell abgesicherten Privatgelehrten. Als er 1860 72-jährig stirbt, ist er über die Grenzen Deutschlands hinaus ein geachteter, verehrter, ja berühmter Philosoph.

Diesen Ruhm hätte sich der junge Schopenhauer wohl kaum träumen lassen. Ganze zehn Freiexemplare erhält er 1819 von seinem Verleger Friedrich A. Brockhaus als Honorar für den Druck seines Hauptwerkes „Die Welt als Wille und Vorstellung“ – eine symbolische Geste, mehr nicht. Sie wird den Kaufmannssohn, den das väterliche Erbe zeitlebens vor wirtschaftlichen Abstürzen bewahrte, materiell nicht sonderlich getroffen haben; wohl aber seelisch, war doch die Erstveröffentlichung seines opus magnum alles andere als ein Erfolg. Noch Jahrzehnte sollte Schopenhauer im Schatten des damals größten Denkers Europas stehen: Georg Wilhelm Friedrich Hegel – eine Konkurrenz freilich, die der fast eine Generation jüngere Schopenhauer gezielt gesucht und geradezu fanatisch beschworen hat.

„Scharlatan“, „Galimathias“, „Pöbelphilosophie“, „Afterphilosophie“ – dies nur eine Auswahl der Verbalinjurien, mit denen Schopenhauer um sich schmeißt, sooft er auf Hegel und dessen philosophisches System kommt. Dessen Weg- und Denkgefährten Fichte und Schelling kommen kaum besser weg, bestenfalls als „Talentmänner“ lässt er sie gelten, nicht als eigenständige Denker. Seine Aggression gegen den weltvertrauenden moralischen Idealismus dieser drei motiviert sich aus seinem gnadenlosen, verzehrenden Bewusstsein für das Leiden in der Welt – und für den wesentlichen Anteil, den der menschliche Wille an diesem Leiden hat. In einer grundlegenden Studie schreibt Georg Simmel:

„Die Philosophie Schopenhauers ist der absolute, philosophische Ausdruck für den inneren Zustand des modernen Menschen. Es ist das Zentrum seiner Lehre, dass das eigentliche, metaphysische Wesen der Welt und unser selbst seinen ganz umfassenden und allein entscheidenden Ausdruck in unserm Willen besitzt. Der Wille ist die Substanz unseres subjektiven Lebens, wie und weil das Absolute des Seins überhaupt ein rastloses Drängen, ein stetes Übersichhinausgehen ist, das aber, gerade weil es der erschöpfende Grund aller Dinge ist, zu ewiger Unbefriedigung verurteilt ist.“

Der Wille ist also das eine große Thema in Schopenhauers Philosophie. Das andere ist die Vorstellung, das heißt: das menschliche Erkenntnisvermögen. Getreu seinem Vorbild Immanuel Kant gilt für Schopenhauer, dass die Welt an sich nicht real, sondern nur als Projektion des menschlichen Intellekts da ist: „Die Welt ist meine Vorstellung“ – mit diesem berühmten Satz hebt sein Hauptwerk an. Doch Vorstellung ist nicht gleich Vorstellung: Es kommt darauf an, so Schopenhauer, ob sie dem Willen unterworfen ist oder nicht. Ist sie es nicht, gilt der Grundsatz: „Solange wir uns rein anschauend verhalten, ist alles klar, fest und gewiss.“ Schopenhauers ganze Philosophie ließe sich als Versuch begreifen, diese ursprüngliche Klarheit und Gewissheit der willen- und interesselosen Anschauung wieder einzuholen. Der Weg dazu heißt: Verneinung des Willens zum Leben.

Spätestens hier zeigt sich, wie unpassend das Etikett „Nihilismus“ ist, das man Schopenhauer schon zu Lebzeiten verpasst hat. Denn auch er fragt danach, wie der Mensch glücklich werden kann; seine Antwort lautet: nicht durch Verausgabung des Willens, sondern durch seine Konzentration auf das absolut Notwendige. Seine Philosophie, die auf Entsagung und Selbstgenügsamkeit hinausläuft, greift Elemente der Stoa, des Buddhismus, des Christentums auf. Sie ist – allem Gerede vom Menschenhasser Schopenhauer zum Trotz – nicht gewalttätig, sondern zielt auf Selbstbescheidung. Und deshalb gibt bei ihr die Vernunft nie das Regiment über die Leidenschaften auf. In den Worten Arthur Hübschers:

„Allerdings: Schopenhauer ist kein Gefühlsphilosoph, wie, zu seiner Zeit, Herder oder Jacobi, kein Existentialist wie die Nachfahren Kierkegaards. Er lebt aus dem Herzen, er deckt das Ursprünglichste und Tiefste im Menschen auf, aber er hütet sich, das kritische, ordnende Vermögen zu verwerfen. Er richtet seinen Blick auf allgemeine, zeitlose Wahrheiten und Werte. Die Wesenheit, die essentia, steht ihm vor der Existenz.“

Was das historisch bedeutet, sollte sich ein Jahrhundert später zeigen: Über das eigene In-der-Welt-sein zutiefst verunsichert, weltlos und standlos geworden, lieferten Intellektuelle wie Carl Schmitt, Martin Heidegger oder Ernst Jünger zuerst ihren Intellekt ihren wirren Gefühlen aus, um sich anschließend diesem verwirrten, entfremdeten Intellekt selbst zu unterwerfen. Konvulsivisch phantasierten sie vom „Hochverrat des Geistes gegen den Geist“, waren unfähig und unwillig, im Denkenkönnen selbst die Garantie dafür zu entdecken, dass ihr Leben nicht sinnlos ist; dass es einen ontologischen, seinsmäßigen Horizont hat, in den sie selbst als Menschen eingebettet sind: und so wurden sie bereitwillige Apologeten, ja geistige Mittäter Hitlers und seiner Zerstörungsbewegung. Auf Schopenhauer aber, den so genannten Nihilisten, konnten diese Negativisten sich nie berufen; denn für ihn galt mit Hannah Arendts Worten die Einsicht

„dass der Mensch als ‚Herr seiner Gedanken‘ nicht nur mehr ist als alles, was er denkt [ … ]; sondern auch dass der Mensch von vorneherein als ein Wesen bestimmt ist, das mehr als ist als sein Selbst und mehr will als sich selbst.“

Diese großartige Einsicht macht Schopenhauer so attraktiv; und sie rückt ihn in die Nähe Hegels, der, wenngleich von der entgegengesetzten Seite, denselben Punkt im Auge hatte wie Schopenhauer: das zufriedene, friedliche Bei-sich-selbst-Sein des Menschen. Und diese Einsicht war es, die ihn so fundamental von jenem Denker trennt, mit dem er gerne in einem Atemzug genannt wird und der ihn in Deutschland populär machte: Friedrich Nietzsche.

Schopenhauers und Nietzsches Lebensläufe haben Einiges gemein: der berufliche Misserfolg, das Zukurzkommen gegenüber wirkungsmächtigeren Zeitgenossen – Hegel hier, Richard Wagner da –, die lange ausbleibende Anerkennung durch die Öffentlichkeit. Dennoch gibt es einen wesentlichen Unterschied, der in ihrer jeweiligen Philosophie ebenso angelegt ist, wie er sich in ihrer Wirkungsgeschichte abspiegelt: Nietzsche war ein zutiefst unerfüllter Mensch, der seine Unfähigkeit, „blonde Bestie“ zu sein, als substanzielles charakterliches Defizit auslegte und darüber wahnsinnig wurde. Schopenhauer aber, bei aller Unleidlichkeit, strahlt doch mit jeder Zeile Ganzheitlichkeit, Sphärenharmonie, ja: Versöhnung aus. Irreführend ist da der Hinweis auf seinen vermeintlichen „Voluntarismus“: Schopenhauers Willensphilosophie ist rein analytisch, metaphysisch, beschreibend; wenn er den Willen, im unausgesprochenen Rückgriff auf den Apostel Paulus und Augustinus, als Leitprinzip des Daseins ausmacht, so leitet er daraus nicht zugleich eine Handlungsmaxime ab.

Dagegen bei Nietzsche, der sich von Schopenhauer nach dem Enthusiasmus der frühen Jahre bald enttäuscht lossagte, ist der Wille Handlungsmaxime, und zwar umso radikaler, je weniger sich Nietzsche und seine Zeitgenossen ihres Willens, ihrer eigenen Lebensfähigkeit noch sicher sind. Anfangs freilich meinte Nietzsche es durchaus Ernst mit seiner Schopenhauer-Begeisterung; in der „Dritten unzeitgemäßen Betrachtung von 1874: Schopenhauer als Erzieher“, preist der Basler Altphilologie-Professor das Werk Schopenhauers als großartiges Beispiel denkerischer Wahrhaftigkeit, im Gegensatz zum verflachenden, Welt und Geschichte unkritisch verabsolutierenden Positivismus seiner fortschrittsbegeisterten Mitwelt.

Doch mit solcher Bescheidenheit, der es um intellektuelle Redlichkeit, nicht um chiliastische Selbstverwirklichung ging, war es bald vorbei – spätestens nach dem Bruch Nietzsches mit Richard Wagner und seinem Kreis. Nietzsche hatte zwar Recht mit seinem Vorwurf, der Eklektiker Wagner benutze den Schopenhauerschen Pessimismus nur als Mäntelchen für einen krassen, schrankenlosen Egoismus, der, fern von aller Entsagung, von Ruhm, Geld und Sex nie genug haben konnte; aber ebenso falsch wie diese Scheinheiligkeit war die Reaktion Nietzsches, der sich selbst immer mehr wie ein Versager vorkam: nämlich vom Missbrauch eines Ideals –Schopenhauers Verneinung des Willens – auf die Falschheit des Ideals selbst zu schließen. Diese Fehlableitung kostete ihn die Gesundheit, geistig und körperlich, und auch einen guten Teil seiner historischen Reputation.

Zwischen Schopenhauer und Nietzsche, daran hat Georg Simmel zu Recht erinnert, lag Charles Darwin. Die von diesem eingeführte unselige Tendenz, Trivialitäten des natürlichen Daseins zu existenziellen Maximen zu überhöhen, hat niemand so ins Extrem gesteigert wie Nietzsche mit seinem ekstatischen Anruf an die Zeitgenossen, zum weltumstürzenden Übermenschen zu werden. Schopenhauers Willensethik will aber das genaue Gegenteil hiervon. Bernhard Taureck:

„Auflösung der Philosophie besagt bei Schopenhauer Nachweis der Illusion der bisherigen Philosophie und Übergang in das Freiwerden vom Willen. Beides geschieht so: Im Ich, im Selbstbewusstsein eines jeden Menschen, wird sich die Welt als etwas bewusst, was sich in Raum und Zeit nicht zeigt: Die Tatsache, dass die Welt blinder Wille ist. Es gibt Möglichkeiten, von diesem Willen freizukommen [ … ]. Dies sind für Schopenhauer vor allem die Erfahrungen der Buddhisten mit jener Metapher ‚Nirwana‘, das ‚Verwehen‘ bedeutet.“

„Wer verzweifelt stirbt“, so schrieb einst Adorno, „dessen ganzes Leben war umsonst“ – auf Nietzsche, den Enttäuschten, Gebrochenen und schließlich geistig Umnachteten, mag man das mit Recht anwenden; auf Schopenhauer dagegen kaum. Auch täuscht man sich, will man das Versöhnliche seines Denkens erst in seinen späten Schriften wahrnehmen; nein: schon in den jugendlich-zornigen Anfängen seines Werkes ist diese Tendenz angelegt. Ja, es stimmt, der Autor der „Welt als Wille und Vorstellung“ verstand sich, so überspannt wie selbstbewusst, als der Anti-Hegel.

Doch, um mit Hegel selbst zu reden, Schopenhauers Negation Hegels war eine konkrete, keine abstrakte; sie war rebellisch, aber nicht revolutionär, und im Rebellieren bereits fand sich die Seinsverleugnung Schopenhauers aufgehoben und behütet in der Seinsvergötterung seines Antipoden Hegel. Denn ob Verleugnung oder Vergötterung: Für beide, Hegel und Schopenhauer, steht das Sein als Horizont des menschlichen Denkens und damit der menschlichen Existenz im Grunde fest und unumstößlich.

Schopenhauer ist der Hegel für den Hausgebrauch, ist gleichsam die praktische Vernunft des Weltgeistes; die „Welt als Wille und Vorstellung“ mit ihrem wundervollen essayistischen Schneid scheint für jene geschrieben, denen die „Phänomenologie des Geistes“ mit ihrem esoterischen Schwulst zu kompliziert ist. Unter dem Schleier von Pessimismus und Grantigkeit zeigt sich: Schopenhauers Nihilismus ist in Wahrheit ein Pseudo-Nihilismus, der sich die Maske von Hegels Seinsphilosophie aufgesetzt hat; zum echten fehlt ihm der negativistische Gehalt, die Haltung unbedingter Auflehnung. Er will nicht die Welt besser machen, sondern findet sich damit ab, wie sie ist; er empfiehlt weder Selbstmord noch Mord, sondern Rückzug und Verzicht. Dem dröhnenden, aber ohnmächtigen Triumph des Willens setzt er den stillen, gefassten Sieg der Entsagung entgegen.

Hieran liegt es, warum zwar Nietzsche, niemals aber Schopenhauer vor den Karren Hitlers und seines weltfeindlichen Destruktivismus gespannt wurde. Der im Grunde gemütliche alte Mann, der schon als Knabe nicht wirklich jung war, hatte mit der „Welt als Wille“ die Metaphysik gefunden, die seiner von Vater- und Mutterkomplexen aufgestörten Seele den ersehnten und nötigen Halt bieten konnte; sein Intellekt dabei, dies der Unterschied zum späteren Existenzialismus, blieb zeitlebens klar, wovon gerade die nie getrübte Konstanz und Bravour seines Stils eindrücklich zeugen. Rüdiger Safranski:

„Schopenhauer hat vom Leib, vom Willen, vom Leben gesprochen ohne Messianismus. Unser Leib wird uns nicht erlösen, unser Wille auch nicht. Er hat die Ohnmacht der Vernunft gegenüber dem Willen drastisch gezeigt. Aber er war ‚der rationalste Philosoph des Irrationalen‘ [ … ]. Er wusste: Man muss dem Schwächeren beistehen, der Vernunft. Für die Torheit, den Willen, diesen Riesen, zu sich selbst befreien zu wollen, hatte er nur Verachtung übrig.“

Diese souveräne, grandseigneurale Verachtung, die das Gegenteil ist von blindem Hass und ohnmächtiger Verzweiflung, hat Schopenhauers Nimbus über Zeiten hinweggerettet, die sich in morbidem, weltsüchtigem und dabei jugendlichem Überschwang jeder Altersweisheit überlegen wähnten. Paradoxerweise war Schopenhauer weniger unter seinen frühen Zeitgenossen, den Idealisten und Jüngern Kants, ein Außenseiter, als unter denen, die nach ihm kamen und noch in den beiden Weltkriegen ihren Fatalismus und Negativismus gern mit der Fassade seines so genannten „Pessimismus“ drapierten. Arthur Hübscher:

„Schon in der gängigen ‚Philosophie des Untergangs‘ stand Schopenhauer merkwürdig abseits. [ … ] Die Aufgabe der Propheten schien erfüllt. Sie hatten die Überlieferungen von Jahrhunderten wachgehalten, und ihr Wissen um die Zukunft war immer aus dem Wissen um das Überzeitliche gekommen. Die Angst der Zeit aber, eine drängende, einmalige, unwiederholbare Angst, die nichts mehr war als sorgende Gegenwärtigkeit [ … ], ohne Rückhalt im Vergangenen, – hätte sie bei ihnen noch Trost und Warnung holen können?“

Wohl kaum. Aber nicht, weil Schopenhauer nicht auch die Qualitäten eines philosophischen Trösters in sich hätte; die hat er gewiss, und in besonderem Maße; sondern weil die existenzialistische Generation sich schlicht nicht mehr trösten lassen wollte. Der epochemachende und epochenzerstörende Impetus des politischen Existenzialismus war zum großen Teil Trotz, verschleppte Infantilität, verspätete Adoleszenz, die sich nicht damit abfinden mochte, dass ihre Generation, nach zwei Revolutionen, inmitten von Freiheit und Wohlstand, von der ewigen, höllisch komplizierten Aufgabe des Nachdenkens nicht mehr durch einen leichten, flotten Schlachtentod oder Liebestod erlöst wird. Den geistesgeschichtlichen Gegensatz zwischen der Generation Hegels und Schopenhauers und jener Kierkegaards und Nietzsches brachte der große Karl Löwith in einer schönen Parabel zum Ausdruck:

„Die Alten leben nicht wie die Jünglinge in einer unbefriedigten Spannung zu einer ihnen unangemessenen Welt und im ‚Widerwillen gegen die Wirklichkeit‘; sie existieren auch nicht in der männlichen ‚Anschließung‘ an die wirkliche Welt, sondern wie Greise sind sie, ohne jedes besondere Interesse für dies oder jenes, dem Allgemeinen und der Vergangenheit zugewandt, der sie die Erkenntnis des Allgemeinen verdanken. Dagegen ist der Jüngling eine am Einzelnen haftende und zukunftssüchtige, die Welt verändern wollende Existenz, die uneins mit dem Bestehenden Programme entwirft und Forderungen erhebt, in dem Wahn, eine aus den Fugen geratene Welt allererst einrichten zu sollen. [ … ] Den Schritt zur Anerkennung dessen, was ist, vollzieht die Jugend nur notgedrungen, als schmerzlichen Übergang ins Philisterleben. Aber sie täuscht sich, wenn sie dieses Verhältnis nur als ein solches der äußern Not versteht und nicht als vernünftige Notwendigkeit, worin die von allen besonderen Interessen der Gegenwart freie Weisheit des Alters lebt.“

Doch die „Alten“ – man mag dies bedauern oder nicht – behalten am Ende Recht. Und ist es ein Zufall, dass ausgerechnet die Exponenten der beiden großen revolutionären philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts, Heidegger und Max Horkheimer, am Ende ihres Lebens zu Schopenhauer zurückfinden? Offen bekannt hat dies freilich nur Horkheimer. Doch auch die Texte des späten Heidegger, seine Rede vom „Seyn“ – mit Ypsilon –, dem man sich überlassen müsse, atmen den Geist Schopenhauerscher Besinnung, in der das Gewühle des Willens, körperliches und geistiges Begehren, zur Ruhe kommt. Schopenhauers Denken zeigte sich in der Tat, wie es Adorno mit Spitze gegen Heidegger forderte, „solidarisch mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes“.

Noch etwas anderes unterscheidet Schopenhauer von seinen Nachfolgern: Seine Untauglichkeit zum Guru. Freilich zeigt er sich in seinem Werk oft eingebildet, meistens gekränkt und immer von sich selbst überzeugt. Doch wenn er jemals an der Ruhmsucht litt, so hat ihn die Nichtbeachtung durch die Mitwelt in seinen frühen Jahren davon geheilt. Für die Idolatrien Richard Wagners, der in den 1850er-Jahren voller Begeisterung den Kontakt zu ihm suchte, hatte er gar nichts übrig. Rüdiger Safranski:

„Schopenhauer war kein Buddha, und zu seinem Glück zwang er sich auch nicht dazu, es werden zu wollen. Klug ist er jener Tragödie ausgewichen, die darin besteht, dass einer versucht, den eigenen Inspirationen, den eigenen Einsichten hinterherzuleben. Schopenhauer hat sich nicht mit sich selbst verwechselt. Denn es geht nicht gut aus, wenn man versucht, sich selbst beim inspirierten Wort zu nehmen, versucht, es zu ‚verwirklichen‘, ‚umzusetzen‘, ‚anzueignen‘. Man sollte das Selbst geschehen lassen. Selbstgeschehenlassen und nicht Selbstaneignung ist das Geheimnis des Schöpferischen.“

Von hier ist es allerdings nicht mehr weit zur „Gelassenheit“ des späten Heidegger oder zum taoistischen „Seinlassen“, das Jaspers in seinen Metaphysikern vor dem historischen Horizont eines hysterisch-destruktiven Aktivismus heraufbeschwört. Doch wie soll, oder besser: wie kann er aussehen, dieser „gelassene“, das Sein zulassende und sich darauf verlassende Mensch? Schopenhauer selber gibt eine Beschreibung:

„Ein solcher Charakter wird demnach die Menschen rein objektiv betrachten, nicht aber nach den Beziehungen, welche sie zu seinem Willen haben könnten: er wird zum Beispiel ihre Fehler, sogar ihren Hass und ihre Ungerechtigkeit gegen ihn selbst, bemerken, ohne dadurch seinerseits zum Hass erregt zu werden; er wird ihr Glück ansehen, ohne Neid zu empfinden; er wird ihre guten Eigenschaften erkennen, ohne jedoch nähere Verbindung mit ihnen zu wünschen; er wird die Schönheit der Weiber wahrnehmen, ohne ihrer zu begehren. Sein persönliches Glück oder Unglück wird ihn nicht stark affizieren.“

So fanden antike Weltweisheit und christliche Entsagungsethik, buddhistische Selbstauflösung und taoistisches Nichthandeln, scholastische Seins-Logik und idealistische Versöhnung mit der Welt zur späten Synthese. In Schopenhauers Denkgebäude kann sich jeder zurückziehen: Dem jugendlichen Sinnsucher bietet es ebenso viel Erhellung, wie dem alternden Sinnskeptiker Freude am Gedankenspiel; es verheißt Selbstvergewisserung ebenso wie Seinsgewissheit– kein schlechtes Erbe in einer Zeit, die nicht mehr nur, wie einst 1848, alles infrage stellt, sondern die spätestens 1945 aufgehört hat, überhaupt Fragen zu stellen. Und Schopenhauers Philosophie ist die letzte große Philosophie, die klare Antworten gibt, deren Klarheit nicht nur ein Tarnname für Verzweiflung oder Brutalität ist. „Verneinung des Willens zum Leben“ ist nicht das gleiche wie „Verneinung des Lebens“ – dieser feine Unterschied macht den ganzen Schopenhauer und gibt ihm seine Würde. Rüdiger Safranski:

„Die Schopenhauersche Philosophie ist doppelbödig. Sie lässt sich auf die Pragmatik des Lebens und der individuellen Selbstbehauptung ein und erklärt zugleich, dass es ‚eigentlich‘ nichts sei mit dem Individuum, dass es ‚eigentlich‘ nichts sei mit dem Leben überhaupt, dass ‚eigentlich‘ alles eins sei. Diese Doppelbödigkeit war es, die [ … ] auf die Künstler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis heute gewirkt hat. Sie spricht einen ästhetischen Sinn an, eine ästhetische Haltung zum Leben. Sie gibt dem Lebensernst die Grundierung des Nichtigen. Jeder muss zwar ‚im großen Marionettenspiel des Lebens doch mitagieren [ … ]; jedoch vergönnt ihm die Philosophie einen Blick auf das Ganze des Theaters. Für Augenblicke hört man auf, Akteur zu sein, und wird zum Zuschauer [ … ]: unbeteiligtes Sehen, ohne in den blind machenden Ernst verwickelt zu sein.“

Dieser Text wurde erstmals am 19. September 2010 anlässlich des 150. Todestages Arthur Schopenhauers im Deutschlandfunk ausgestrahlt.

Bild: Ludwig Sigismund Ruhl: Arthur Schopenhauer, 1815

Hannah Arendt und das Böse

Die Kontroverse um Arendts „Banalität des Bösen“ ist heute so aktuell wie vor fünfzig Jahren, als das Buch erschien und im Handumdrehen einen Weltskandal auslöste. Bis heute ist Hannah Arendt in der jüdischen Community eine persona non grata; wer jüdische Freunde auf sie anspricht, bekommt oft zu hören, man kenne sie nur aus dem Zusammenhang ihres Eichmann-Buches, und deshalb müsse man sie ablehnen, denn dort schreibe sie ja den jüdischen Opfern eine Mitschuld an ihrem Schicksal im Holocaust zu. Andererseits macht man sich auch in der deutschen NS- Forschung mit dem Hinweis auf sie nicht unbedingt beliebt: Ebenfalls in ihrem Eichmann-Buch charakterisiert sie nämlich – übrigens zu Recht – den konservativen, adlig-bürgerlichen Widerstand gegen Hitler, und also insbesondere die Verschwörer vom 20. Juli 1944, als indolent, moralisch fragwürdig und zu entschlossenem Handeln unfähig. Dafür durfte sie sich von Golo Mann in einer vielgelesener Rezension in der ZEIT den Satz anhören, „ihre Charakteristik des deutschen Widerstandes [enthalte] die empörendsten Verleumdungen, die je über diese Bewegung verbreitet wurden.“ Arendt sitzt, bis heute, zwischen den Stühlen – eine geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Situation, die ihr selber freilich schon immer klar gewesen war und in die sie auch nicht ganz unfreiwillig geraten ist. In einer Selbstcharakterisierung, schon in der Zeit ihres Ruhmes in der Nachkriegszeit, schrieb sie: „Ich stehe nirgendwo. Ich schwimme wirklich nicht im Strom des gegenwärtigen oder irgendeines anderen politischen Denkens.“
„Eichmann in Jerusalem“ ist in vielfacher Weise ein Schlüsselwerk Arendts, weil sich hier in idealer thematischer und stilistischer Verdichtung alle wesentlichen Elemente ihres Denkens wiederfinden. Und zwar durch alle philosophischen und historischen Teildisziplinen hindurch. Sozial- und geistesgeschichtlich ist es eine für eine breite Leserschaft adaptierte Kurzfassung ihrer beiden opera magna „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ und „Vita activa“ aus den fünfziger Jahren; in seiner Ethik ist es eine Vorwegnahme der Vorlesung „Über das Böse“, die sie bald nach der Eichmann-Kontroverse hielt und die erst vor wenigen Jahren in einer kritischen Edition auf Deutsch herausgegeben wurde.
Werkgeschichtlich gesehen zeigt es die Autorin Hannah Arendt auf der Höhe ihres literarischen Könnens und ihrer intellektuellen Brillanz, und ebenso im Zenit ihrer publizistischen Bedeutung. Ihr Aufstieg zu Anerkennung und Prominenz hatte nach bitteren, isolierten Jahren in der Emigration mit der englischen Urfassung des Totalitarismusbuches, „The Origins of Totalitarianism“ 1951 begonnen. Mit „Vita activa“, das 1955 unter dem Originaltitel „The human condition“ erschienen war, hatte sich die schon damals als feuilletonistisch und halbseiden verschriene Denkerin einen Namen als ernstzunehmende Philosophin machen können.
Als sie der New Yorker 1960 als Beobachterin zum Eichmann-Prozess nach Jerusalem schickt, ist das nur folgerichtig, denn Arendt ist in den Jahren um 1960 herum, als in der westlichen Welt eine freiere Luft wehte, die sich aber noch nicht zu hysterischer Ekstase verdickt hatte, die gar nicht so heimliche Meisterdenkerin des liberal-konservativen Bürgertums im atlantischen Raum. Keine Kommunistin, natürlich, aber ebenso wenig eine mccarthyanische Eisenfresserin, sondern eine Intellektuelle im allerbesten Sinne: vertrauend auf einen unbestechlichen common sense und ein leidvoll geschultes, gesundes Bauchgefühl; ausgestattet mit dem besten intellektuellen Rüstzeug, das ihr Kindheit und Jugend im Späthumanismus des untergehenden Kaiserreiches und der akademisch höchst produktiven Weimarer Republik mitgeben konnten. Unideologisch bis ins Mark, aber zugleich noch geprägt von einem tiefen, fast romantisch-altfränkisch anmutenden jüdisch-christlichen Wissen um die höhere Welt und das Göttliche und darum, dass der Mensch als Wesen in ihnen seinen Ursprung hat. Diese wenigen Jahre zwischen der intellektuell eisigen unmittelbaren Nachkriegszeit mit ihrem containment auch im Geistigen und den vom Beat der Jugendbewegung aufgeputschten Sechzigern, in denen der pure Wille zur Erkenntnis hinter den heißen Wunsch nach Selbstverwirklichung rasch zurücktrat, hatten in der westlichen Welt einen wahren intellektuellen Star: Das war Hannah Arendt.
In diesem geistes-, zeit- und wirkungsgeschichtlichen Umfeld also können wir das Erscheinen des Eichmann-Buches verorten. Der Spielfilm der Regisseurin Margarethe von Trotta mit Barbara Sukowa in der Hauptrolle erscheint pünktlich zum fünfzigsten Jubiläum: Zugleich ist er auch eine Art Rückblende auf die Arendt- Rezeption der vergangenen zwanzig Jahre; denn seit der Achtundsechziger- Bewegung war diese Arendt-Rezeption – weltweit, aber insbesondere in Deutschland – praktisch tot. Man las Marx und Adorno, Sartre und Maos Rotes Buch, man kämpfte gegen den Vietnamkrieg und für die Emanzipation; Arendt, qua ihrer eigenen Biographie eine große Pazifistin und Feministin, galt dieser Generation als reaktionäre alte Schachtel: unmodern schon, bevor sie richtig hervorgetreten war. So schrieb ein Autor der „tageszeitung“, von dem man freilich kein tieferes Verständnis Hannah Arendts erwarten darf, vor einigen Jahren:
„Altmodischer als die Philosophin Hannah Arendt konnte man in jener Zeit kaum er- scheinen, als Herbert Marcuse zum kalifornischen Erweckungsprediger für die be- wegte akademische Jugend weltweit mutierte und Jean-Paul Sartre in Paris das Me- gafon als Argumentationshilfe entdeckte.“
Das änderte sich mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Einzug in die biedermeierlichen Neunziger Jahre. Langsam entwickelte sich eine zaghafte Hannah-Arendt-Renaissance, die Jahr für Jahr stärkere und mit der Jahrtausendwende und dem Doppeljubiläum 2005/2006 – 30. Todestag sowie 100. Geburtstag – zeitweise enthusiastische, ja: gigantische Formen annahm. Hannah Arendt war auf einmal akademisch salonfähig, und das nicht nur für Politikwissenschaftler, sondern auch in den beiden gestrengen Mutterdisziplinen einer integrierten Geisteswissenschaft: der Geschichtswissenschaft und der Philosophie. Wie am Fließband wurde im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts zu Hannah Arendt veröffentlicht. Und wer auf sich hielt, berief sich auf sie und zitierte sie wie unsere Eltern noch Adorno und Horkheimer zitierten.
In den letzten Jahren freilich ist der Hype um Hannah Arendt wieder abgeflaut. Jenseits des kalendarischen Event-Hoppings war nur noch wenig vom Enthusiasmus zu spüren, mit dem sich die mitteljunge akademische Bürgerlichkeit vor zehn, zwölf Jahren in das Abenteuer Hannah Arendt gestürzt hatte. Das deutlichste Zeichen dafür, dass es Arendt trotz ehrlicher Anstrengungen und engagierter Unterstützer auch unter ausgewiesenen Wissenschaftlern nicht in die Hall of Fame der großen Philosophen geschafft hat, ist ein großangelegtes Editionsprojekt ihrer nachgelassenen Schriften. Es wurde angestoßen von ihrer Biographin Antonia Grunenberg, die als Professorin das Hannah-Arendt-Zentrum an der Universität Oldenburg leitete und zu den Wegbereitern der zeitgenössischen Arendt-Rezeption in Deutschland zählt, und es scheiterte, weil sich keine Gelder dafür fanden. So stiefmütterlich behandelt die deutsche scientific community in der Blütezeit von Gleichstellung und Feminismus immer noch das Erbe der einzigen Frau, die es geschafft hat, mit den großen Philosophen des 20. Jahrhunderts, ja: der Moderne überhaupt gleichzuziehen.
Margarethe von Trottas Film, der neben der souverän und authentisch agierenden Hauptdarstellerin eine ganze Reihe bekannter deutscher Filmgesichter von Ulrich Noethen bis Julia Jentsch versammelt, zeigt das Dilemma der Arendt in gewisser Weise in seiner Antizipation. Da setzt sich eine Denkerin, anstatt ihren eigenen beginnenden Mythos zu pflegen, bewusst zwischen alle Stühle und läutet damit, im Jahrzehnt von Rock’n Roll und Studentenrevolte, als sich zumal in Deutschland alles um die Aufarbeitung der eigenen „jüngsten Vergangenheit“ drehte, ihren eigenen publizistischen Untergang ein. Doch diese Schonungslosigkeit auch und gerade im Umgang mit sich selbst und der eigenen Behaglichkeit war das Markenzeichen der Hannah Arendt, das sie mit ihrem „Bericht von der Banalität des Bösen“ ein letztes Mal brillant und unerschrocken unter Beweis stellen sollte. Wenden wir uns also diesem Buch zu, in dem sie einerseits geradlinig und unbeirrbar die Wahrheit über das Dritte Reich und den Holocaust aussprach – und dennoch zugleich sich als eine große Naive entpuppte.
Es sind im Wesentlichen zwei Punkte, an denen sich die Kritiker bis heute erhitzen. Der erste liegt im Untertitel selbst beschlossen, den das Buch bekam, das aus der in fünf Folgen im New Yorker angedruckten Gerichtsreportage entstanden war: „the banality of evil, die Banalität des Bösen“. Wie? Das Böse eine Banalität? Damals wie heute wirkt diese Gleichung auf viele wie ein Sakrileg: wie kann der Inbegriff der moralisch Negativen „banal“ sein? Arendts Buch schuf Erklärungsbedarf, bereits mit seinem bloßen Titel.
Nun, was sie darunter verstanden wissen wollte, hat Arendt selber in ihrem legendären Rundfunkgespräch mit Joachim Fest 1964 dargestellt, und der kluge Leser hätte das auch aus ihren bereits erschienen Werken, wie aus dem „Eichmann“ selber, schließen können:
„Wenn ich sage: ‚Das ist doch kein typischer Mörder‘, dann meine ich doch nicht, dass er was Besseres ist. Sondern was ich meine, ist, dass er etwas unendlich Schlimmeres ist, obwohl er gar keine eigentlich – was wir nennen – ‚verbrecheri- schen Instinkte‘ [hat]. Er ist in die Sache reingerutscht.“
Und kurz darauf:
„[Eichmanns] Dummheit hat etwas wirklich Empörendes [ … ] Eichmann war ganz intelligent, aber diese Dummheit hatte er. Das war die Dummheit, die so empörend war. Und das habe ich eigentlich gemeint mit der Banalität. Da ist keine Tiefe – das ist nicht dämonisch!“
Damit hat Arendt zweifellos recht. Und was für Eichmann gilt, gilt auch für den ganz überwiegenden Teil der NS-Verbrecher: sie waren, nach außen wenigstens, keine Charismatiker, keine Dämonen, keine „Todesengel“, sondern unterster Durchschnitt. Aber – was sagt diese vollkommen richtige sozialanthropologische Zuschreibung aus über die Qualität ihrer Bosheit und die Qualität des Bösen an sich?
Hier beginnen die Schwierigkeiten mit Arendts Schlagwort von der Banalität des Bösen. Nicht auf der analytischen oder intellektuellen Ebene, denn da ist bei ihr alles klar und richtig. Da fügt sich der Banalitäts-Topos elegant ein in ihr großes Denkgebäude, dessen Gerüst sie im Totalitarismusbuch aufgezeichnet hatte, aus dem man übrigens zu Unrecht eine „Theorie“ im strengen schulmäßigen Sinne hatte herauspräparieren wollen: Das Problem sind nicht Ideologien, sondern Mentalitäten. Die wahren moralischen Katastrophen werden nicht hervorgerufen durch falsche und schlechte Haltungen, sondern durch Nicht-Haltungen, durch Charakterlosigkeit. Deren Bedingung sind wiederum innere Welt- und Selbstlosigkeit, also die Abwesenheit einer eigenen ideellen, emotionalen und auratischen Identität, sie mag auch noch so defizitär und moralisch problematisch sein. Wirklich schlimm sind nicht die mit Vorsatz begangenen Verbrechen, denn diese ließen sich immerhin noch irgendwie kausal und damit auch rational und moralisch nachvollziehen; schlimm sind jene Taten, die gleichsam „einfach so“ passiert sind, in die die Täter „irgendwie hineingerutscht“ sind.
In dieses Schema schien der ehemalige SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in der Tat perfekt zu passen, und gleich ihm eine Vielzahl, ja: die Mehrzahl aller NS- Täter. Und dennoch wusste Arendt es im Grunde besser, als sie, zehn Jahre zuvor, in „Elemente und Ursprünge“ geschrieben hatte:
„Bis jetzt scheint der totalitäre Glaube, dass alles möglich ist, nur bewiesen zu haben, dass alles zerstörbar ist, auch das Wesen des Menschen. Aber in [diesem] Bestre- ben […] hat die totale Herrschaft […] entdeckt, dass es ein radikal Böses wirklich gibt.“
Und an anderer Stelle:
„Es gibt das radikal Böse, aber nicht das radikal Gute. Das radikal Böse entsteht im- mer, wenn ein radikal Gutes gewollt wird.“
Man darf nun freilich nicht unterstellen, Arendt habe ihre Meinung in den zehn Jahren zwischen der Veröffentlichung des ersten Buches und der des Eichmann-Buches schlichtweg um 180 Grad geändert. Vielmehr bot ihr die Konfrontation mit Eichmann psychologisch die Chance, das Problem des Bösen, dem die Autorin des Totalitarismusbuches noch hilflos-überwältigt gegenübergestanden hatte, so weit zu entzaubern, dass es seine furchtbare Dämonik ein Stück weit verlor und sich dem Zugriff einer rationalen Bewertung nicht mehr ganz so entzog. Doch eine solche Bewertung hatte, und zwar mit ganz den gleichen analytischen und hermeneutischen Kategorien, auch schon im Totalitarismusbuch stattgefunden. Auch hier zieht Arendt explizit eine Trennungslinie zwischen den Gewalttätern aus Prinzip – es handle sich bei diesem Prinzip um Ideologie oder Trieb – und den „ganz gewöhnlichen Männern“, die per Zufall und ohne richtige Neigung, gleichsam ohne Wissen und Wollen und also auch ohne eigentliche moralische Zurechenbarkeit im Sinne der klassischen Moral zu Folterknechten und Mördern wurden.
Hannah Arendt wusste also sehr wohl um das Böse und seine Radikalität, als sie vom Eichmann-Prozess berichtete. Und sie wusste, als heimliche jüdische Mystikerin, die sie hinter der kalten rationalistischen und agnostischen Maskerade immer blieb, ebenso um die universelle, welt- und heilsgeschichtliche Dimension des Bösen. Das spricht e contrario daraus, in was für altmodischen und eigentlich unsachlichen, poetischen Bildern sie immer wieder den Holocaust begrifflich einzufangen suchte:
„Die Macht des Menschen ist größer, als sie sich einzugestehen wagten, und man kann höllische Phantasien realisieren, ohne dass der Himmel einstürzt und die Erde sich auftut.“
Kurz darauf heißt es:
„Es liegt im Sinne unserer gesamten philosophischen Tradition, dass wir uns von dem radikal Bösen keinen Begriff machen können, und dies gilt auch noch von der christlichen Theologie, die selbst Satan noch einen himmlischen Ursprung zugestand, wie von Kant.“
Die Kategorie der Banalität, also die Einordnung des Bösen in das aus der Arendtschen Sozialpsychologie bekannte Schema Weltlosigkeit-Selbstlosigkeit- Charakterlosigkeit, lässt sich als Modus der Ausflucht verstehen vor einem Phänomen, das Hannah Arendt, einer denkbar scharfen Denkerin und denkbar mutigen Frau, unzugänglich und unbegreiflich bleiben sollte. Sie, diese kalte, klare Denkerin, war – es klingt abschätzig, aber es ist nicht so gemeint – ihr Leben lang zu gutgläubig und naiv, um dem Geheimnis des Bösen auf die Spur zu kommen. Bis zuletzt stand sie seinem Phänomen hilflos gegenüber; das Eichmann-Buch wurde zum emblematischen Ausdruck dieser Hilflosigkeit. Schon in „Vita activa“ hatte sie geschrieben:
„Auf jeden Fall können wir das ‚radikal Böse’ […] daran erkennen, dass wir es weder bestrafen noch vergeben können, was nichts anderes heißt, als dass es den Bereich menschlicher Angelegenheiten übersteigt und sich den Machtmöglichkeiten des Menschen entzieht. […] Das Böse zerstört den zwischenmenschlichen Machtbereich, wo immer es in Erscheinung tritt. Böse Taten sind buchstäblich Un-taten; sie machen alles weitere Tun unmöglich.“
Hier spricht ganz klar die jüdische Denkerin Hannah Arendt. Das Christentum setzte sich vom Anfang seines Bestehens an intensiv mit dem Bösen auseinander, etwa der Apostel Paulus in seinen Briefen, oder der Heilige Augustinus, dessen Werke Arendts Denken nachhaltig beeinflussen sollten. Arendt aber, die im mosaischen Ur- vertrauen in die Welt, ihre Ordnung und Gutheit aufgewachsen war; die auch in ihrer Jugendliebe Heidegger gleichsam einer gottvaterähnlichen Elternimago verfallen war, wurde durch die brutale Erfahrung des real existierenden Bösen überrumpelt – und radikal verunsichert.
Arendt fand diese Verunsicherung gespiegelt in der allgemeinen, gesellschaftlichen Verunsicherung, die das Markzeichen der Moderne und insbesondere der Weltkriegsepoche war und die mit ursächlich war für die moralische Instabilität, die zu den Menschheitsverbrechen unter der NS-Diktatur führen sollte. Der Verlust aller moralischen Maßstäbe im Dritten Reich hing unmittelbar zusammen mit der Gottesvergessenheit der späten Moderne und der, hierin inbegriffenen, Ignoranz gegenüber dem Bösen, seinem wahren Charakter und dem Preis, den man dafür, sei es im Dies- oder im Jenseits, zu zahlen hat. In ihrem legendären „Toronto- Kolloquium“ in den Sechzigern sagte sie:
„Ich bin ganz sicher, dass diese ganze totalitäre Katastrophe nicht eingetreten wäre, wenn die Leute noch an Gott oder vielmehr an die Hölle geglaubt hätten, das heißt, wenn es noch letzte Prinzipien gegeben hätte. Es gab aber keine. Und Sie wissen so gut wie ich, dass es keine letzten Prinzipien gab, an die man mit Aussicht auf Erfolg hätte appellieren können. Man könnte niemanden anrufen.“
Der Verlust des spirituellen Horizonts ist bei Arendt dem Verlust der irdischen Verhaltensmaßstäbe historisch und logisch vorgängig. Manche der Täter mochten das selber empfunden haben. In Rolf Hochhuths Drama „Der Stellvertreter“ von 1962 sagt der „Doktor“, die Verkörperung des bösen Prinzips und eine literarische Verschlüsselung des berüchtigten SS-Arztes Mengele, zur Hauptfigur, dem guten Pater Riccardo, der sich verzweifelt bemüht, einen Sinn hinter dem verbrecherischen Tun des SS-Führers zu finden, der an der „Rampe“ in Auschwitz die ankommenden jüdischen Opfer zur Vergasung selektiert:
„Ich schicke seit Juli 42, seit fünfzehn Monaten, Werktag wie Sabbat, Menschen zu Gott. Glauben Sie, er zeigte sich erkenntlich?
Er lenkt nicht einmal einen Blitz auf mich.“
Für Hannah Arendt war das Böse eine unbestreitbare Entität, eine Wesenheit, eine historische und anthropologische Realität. Das tatsächliche Dem-Bösen- Ausgesetztsein hingegen, und zwar in der Radikalität und Vehemenz des totalitären Zeitalters, überforderte sie. Und zwar nicht in seiner Analyse, die ihr von Anfang an brillant gelang, wohl aber in den hermeneutischen Schlüssen, die daraus zu ziehen waren. Dass die Menschen wirklich immer noch schlimmer, bösartiger, unmenschlicher und gemeiner sein können, als man denken mag, war eine Erfahrung, die die Überlebende des Holocaust ebenso überforderte wie all jene, die ihm zum Opfer fielen – und die sich auch deshalb, wie es immer heißt, „wie die Schafe zur Schlachtbank“ und fast immer ohne Widerstand zu leisten in den Tod führen ließen.
Damit wären wir bei dem zweiten großen Sakrileg der Autorin der „Banalität des Bösen“: Der Vorwurf, die letzten, intimsten Vernichtungsschritte hätten die Nazis von den Opfern selber durchführen lassen. Etwa von den jüdischen Sonderkommandos, die in den Vernichtungslagern die Leichen ihrer Leidensgenossen aus den Gaskammern bringen und in den Krematorien verbrennen mussten. Arendt nimmt in ihrer Schrift insbesondere die Tätigkeit der so genannten Judenräte ins Visier, die sich in den im Osten gebildeten Ghettos auf Befehl der SS bilden mussten. Sie hatten, neben anderen Aufgaben, insbesondere den zynischen Auftrag, den Abtransport der Juden in die Lager reibungslos zu organisieren – wohl wissend, dass sie selber auch nur solange verschont würden, bis sie ihre hässliche Pflicht erfüllt haben, um dann ebenfalls in den Tod geschickt zu werden. Genauso waren die Häftlinge der Sonderkommandos natürlich dem Tode geweiht; dennoch gelang es nicht wenigen von ihnen, die Aufstand oder Flucht wagten, den Krieg zu überleben.
Vor allem die heftige Kritik der jüdischen Community an diesem Vorwurf und Arendts standhafte Reaktion darauf, die sie aber auch in die Isolation trieb, sind Gegenstand des Films. Arendts ethische Beurteilung der Opfer lässt sich nicht getrennt denken von ihrer Beurteilung der Täter und des Bösen überhaupt. Man kann so weit gehen und sagen, dass ihr hartes und sicher ungerechtes Verdikt über Judenräte und Sonderkommandos, mit dem sie im Grunde die jüdischen Opfer in ihrer Gesamtheit treffen wollte (und auch traf), eine direkte Rückkoppelung ihrer Empörung ist über die ungeheuerliche Alltäglichkeit und Banalität, in der sich für sie das Böse historisch in der Shoa verwirklichte. Vorwerfbar, so viel ist klar, konnte für sie nur die Nichtreaktion auf ein Böses sein, was im Grunde so bürokratisch-simpel, so unpathetisch, unheroisch, so farblos und unauratisch sich realisierte wie das, was im Nationalsozialismus stattfand.
Entsprechend muss man Arendts bittere und gewiss ungerechte Verurteilung der Rolle der Judenräte verstehen, deren praktische Bedeutung sie zudem enorm überschätzt. Sie ist nur die Kehrseite ihres problematischen, unsicheren Verständnisses des Bösen, welches wiederum auf dem Horizont ihrer eigenen Leidensgeschichte nur höchst nachvollziehbar ist. Arendt, die Jüngerin Kants und Hegels, intellektuell aufgezogen im Geiste des deutschen Idealismus, der Freiheit des Willens und der Allmacht des Individuums, konnte und wollte – wer will es ihr verdenken? – nicht sehen, dass sich diese Freiheit eben auch absolut negativ, destruktiv und vernichtend äußern kann. Individualität gibt es eben nicht nur im Guten, sondern auch im Schlechten: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut – dieses Postulat der Weimarer Klassik, dieser kategorische Imperativ des deutschen Idealismus kann sich eben auch in sein negatives, negativistisches Gegenteil verkehren: unedel sei der Mensch, rücksichtslos und böse. Im „Dritten Reich“ – und nicht nur dort – wurde diese Parole zur allgemeinen Maxime, und Eichmann war einer ihrer Hauptvollstrecker. Die NS-Täter wussten sehr wohl, was sie taten, ob sie selber sich darüber nun Rechenschaft ablegten oder nicht. Das aber war für Arendt, das ewige, naive Mädchen, das bis zuletzt an die Inkorrumpierbarkeit des Individuums glaubte, schlicht undenkbar: dass ein Mensch sich nicht nur zum unreflektierten Handlanger des Bösen machen lassen, sondern dass er selber wirklich böse sein kann – das war ihr unbegreiflich.
Tatsächlich ist das Böse ebenso wenig banal, wie seine Opfer schwach sind. Das Böse ist gemein, hinterhältig und verschlagen. Und dass es sich den Anschein der Banalität geben kann, ist nur ein weiterer, vielleicht der höchste Ausdruck seiner Verschlagenheit. Auch Eichmann und die übrigen NS-Täter seiner Art – also die vermeintlich biederen, unideologischen, nicht besonders brutalen oder sadistischen Bürokraten des Todes – waren nicht einfach charakterlos, wie Arendt, in Anwendung ihres sozialpsychologischen Paradigmas von der Weltlosigkeit, vermeinte. Nein, sie hatten sich, wie jeder Mensch, durchaus einen Charakter erworben, einen durch und durch bösen, grausamen und mitleidlosen Charakter. Daran ändert auch nichts, dass das Böse ontologisch gewiss nichts Weiteres ist als eine deformierte Ausscheidung des Guten, quasi eine Missgeburt, so wie Satan in der Bibel der Beauftragte, in gewisser Weise sogar der Handlanger Gottes ist.
Der Böse hat, wie der Gute, jederzeit die Wahl, sich um Einsicht zu bemühen und umzukehren; auch über seiner Wiege stand der Satz aus der Genesis, der das Motto und das Motiv des Menschseins ist: eritis sicut Deus, scientes bonum et malum – Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Es steht jedem Menschen frei, von diesem Grundwissen seines In-der-Welt-seins Gebrauch zu machen oder nicht. Nicht nur entschuldigt Unwissenheit bekanntlich nicht; es gibt sie auf dieser Ebene gar nicht wirklich. Eichmann zum Beispiel wusste ziemlich gut, was er tat; dazu gehörte freilich auch, dass er seinen wahren Charakter gut zu maskieren wusste: beileibe nicht nur vor anderen, darunter auch der jüdisch-amerikanischen Gerichtsreporterin aus New York, sondern gewiss und am meisten vor sich selbst. Diese Taktik des Sich-vor-sich-selbst-Verschleierns gehört zum Grundbestand des radikal Bösen.
Man kann gleichwohl nicht sagen, Hannah Arendt habe mit „Eichmann in Jerusalem“ gänzlich daneben gelegen. Im Gegenteil: dass sie das Böse als solches hier plakativ zum Gegenstand einer sozialanthropologischen, historisch und philosophisch äußerst genauen und korrekten und dabei stilistisch meisterlichen Erörterung machte, ist für sich schon ein Verdienst, das ihr bis heute bleibt und das durch den Trotta-Film zurecht gewürdigt wird. Noch wesentlicher aber ist, dass Arendt mit dem Eichmann-Buch die Grundlegung dessen begann, was man ihre Ethik nennen kann und was sie in diesem Jahrzehnt in zwei weiteren Publikationen weiter ausführen und theoretisch festigen sollte. Diese Ethik ist womöglich Arendts größte philosophische Erbschaft, jedenfalls aber eine ganz besondere und eigentümliche, weil sie aus ihrem historischen Kontext heraus in die zeitlichen und wesenhaften Ursprünge der menschlichen Ethik überhaupt reicht. Auf diese Ethik wollen wir zum Schluss den Blick richten.
Vielleicht kannte Hannah Arendt das Schicksal der Clara Immerwahr. Die jüdische Chemikerin, eine der ersten Frauen mit Doktortitel im Kaiserreich, nahm sich in einem Akt tiefer Verzweiflung und echten, stillen Heldenmuts im Sommer 1915 in Berlin-Dahlem das Leben. Diese Tat war ein stummer Protest gegen ihren Mann Fritz Haber, den weltberühmten Erfinder des Haber-Bosch-Verfahrens, der maßgeblich an der Entwicklung des Giftgasprogramms der Obersten Heeresleitung beteiligt war. Clara Immerwahr hatte damit unmittelbar natürlich nichts zu tun. Aber sie fühlte sich verstrickt, dadurch, dass sie die Frau dieses Mannes war; dadurch, dass er von ihr Loyalität verlangte, als Gattin und als patriotische Deutsche, die ihre jüdischen Wurzeln möglichst verleugnete. Also erschoss sie sich, ohne zuvor mit jemandem darüber gesprochen zu haben. Sie erschoss sich aus stummem Protest gegen eine noch bösartigere und grausamere Kriegführung, und in stummem Mitleiden mit den Hunderttausenden Soldaten an den Fronten, die bei Giftgasangriffen qualvoll verenden sollten. Ich muss immer an diese, in Deutschland bis heute kaum bekannte, Frau denken, wenn ich die Worte Hannah Arendts lese, die sie in ihrem Gespräch mit Fest sagte und in denen sich das Wesen ihrer Moral kristallisiert:
„Es gab eine Alternative, hüben und drüben, und die hieß: nicht mitmachen, selber urteilen: ‚Bitte schön …, das mach‘ ich nicht mit. Ich [ … ] versuche zu entkommen, ich versuche, wie ich um die andere Ecke komme.‘ Nicht wahr? ‚Aber ich mache nicht mit. Und falls ich gezwungen sein sollte mitzumachen, dann werde ich mir das Leben nehmen.‘ Diese Möglichkeit gab es. Dazu gehörte, dass man nicht Wir sagt, sondern dass man Ich sagt, dass man selbst urteilt.“
Bereits im Eichmann-Buch schrieb Arendt etwas, was in die gleiche Richtung weist:
„In Wahrheit gab es nur einen Weg, im Dritten Reich zu leben, ohne sich als Nazi zu betätigen, nämlich, überhaupt nicht in Erscheinung zu treten: sich aus dem öffentlichen Leben nach Möglichkeit ganz und gar fernzuhalten war die einzige Möglichkeit, in die Verbrechen nicht verstrickt zu werden, und dies Nicht-Teilnehmen war das einzige Kriterium, an dem wir heute Schuld und Schuldlosigkeit des Einzelnen messen können.“
Und in ihrer Vorlesung „Über das Böse“ schließlich, also ebenfalls im zeitlichen Umfeld der beiden anderen Äußerungen, charakterisierte Arendt das Wesen der abendländischen Moral, indem sie auf das Schicksal des Sokrates verwies und sagte: es sei besser, Böses zu erleiden, als Böses zu tun.
In diesen beiden Topoi: dem Opfergang der Clara Immerwahr und der Ethik der Hannah Arendt, verdichtet sich das Wesen der Moral, die die Menschheit aus dem zerstörerischen 20. Jahrhundert lernen könnte. Zugleich scheint in ihnen aber auch ein Grundelement der menschlichen Existenz auf, das in einem jahrhundertelangen Prozess der Säkularisierung und Rationalisierung erst marginalisiert, dann verschüt- tet und schließlich vergessen worden war, mit dem totalitären Zeitalter als dem Höhepunkt dieses Prozesses der inneren Verwüstung und des Vergessens. Dieses Grundelement ist die Transzendenz unserer Existenz.

Obiger Text wurde am 17.3.2013 im SWR2 in der Sendung „Aula“ ausgestrahlt.

Titelbild: Hannah Arendt im Alter

Revolution des Bewusstseins

Zum 100. Geburtstag von Hannah Arendt: Eine Philosophie für unsere Zeit

Es gehört zu unserem Zeitalter, nicht bei sich selber zu Hause zu sein. Noch nie in der Geschichte war der Mensch so wenig mit sich eins wie heute; noch nie war das Leben so sehr Frage und so wenig Antwort wie jetzt. Die Orientierungslosigkeit, das Nicht-wissen-wohin ist das Prädikat, mit dem spätere Historiker unsere Epoche auszeichnen werden; es hat seine augenscheinliche Begründung schon darin, dass uns in Deutschland und Europa heute die eine große philosophische Identifikationsfigur fehlt, mit der noch unsere Eltern und Großeltern aufwuchsen. Die Zeiten, da eine ganze Generation einem Adorno, einem Jean-Paul Sartre oder einem Michel Foucault huldigte, sind lange vorbei. So ist Hannah Arendts 100. Geburtstag gewiss kein schlechter Anlass, die Gegenwärtigkeit einer Denkerin ins Bild zu rufen, die als einzige Frau unter die großen Philosophen des 20. Jahrhunderts eingegangen ist. Sie war eine Ausnahmeerscheinung im Denken des vergangenen Jahrhunderts; so sehr Ausnahme, dass keiner der Ehrentitel, die man ihr verleihen könnte, wirklich voll auf sie passt, weil jeder zu kurz griffe. Niemand nennt sie Emanzipatorin, obwohl sie die Emanzipation durch ihr bloßes Leben ebenso energisch vertrat wie Betty Friedan oder Simone de Beauvoir; kein Philosophielexikon zählt sie zum Existenzialismus, obwohl sie in der Fundamentalanalyse des Daseins ebensolche Höhen erklommen hat wie ihre Lehrer Heidegger und Jaspers; die Soziologie feiert ihre Horkheimers und Bourdieus, den Namen Arendt kennt sie nicht, und die Geschichtswissenschaft von heute labt sich an der quasi-statistischen Historiografie etwa Hans-Ulrich-Wehlers und will nichts wissen von der gewagt-gewaltigen Überschau über das historische Dasein des Menschen, welcher Hannah Arendt in ihren Werken eine unvergessliche Form verliehen hat. Die Heimatlose, die sie im Leben war, ist sie auch im Tode geblieben; es ist Zeit, dass wir ihr die Ehre erweisen, die ihr gebührt – um der Wahrheit willen, die sie uns in ihrem Denken und Leben als Erbe hinterlassen hat. Jedermann weiß, dass Hannah Arendt Jüdin war; und wüsste man es nicht, so sprechen ihr Schicksal und die Erkenntnisse, die sie aus ihm gewann, eine zu deutliche Sprache, als dass nicht klar würde, wie sehr diese Frau in der Tradition eines Denkens stand, für das, durch alle Leiden, Zweifel und Irrungen hindurch, die Schönheit und Heiligkeit des menschlichen Lebens doch immer den höchsten Rang inne hielt. Das Jüdischsein der Hannah Arendt hat, wie alles Menschenschicksal überhaupt, seinen einmaligen Ausdruck in jener berühmten Szene, die das Buch Genesis erzählt: Da begegnet Jakob mitten in der Nacht einem Fremden; die beiden ringen miteinander, bis der Morgen graut, und da erst offenbart der andere seine wahre Identität. Es war Gott selber, der Jakob angegriffen hatte, um ihn zu prüfen. Und Jakob bittet den Fremden, der ihn zuvor noch töten wollte und in dem er nun seinen Schöpfer erkennt, ihn zu segnen. Und nicht als Jakob mehr geht er dann fort, sondern mit dem Namen Israel, dem »Gottes-Streiter«: Denn er hat die Probe bestanden, die große Prüfung, der jeder Mensch in seinem Leben einmal unterworfen wird. Wir Heutige wissen oder ahnen doch mindestens, was diese Erzählung eigentlich meint: den Kampf des Menschen und der Menschheit mit sich selbst. Denn der Mensch ist der eigentliche Gott, das Heilige, das nicht getötet werden darf, sondern das es hier, auf dieser Welt, zu entwickeln gilt – hin zu der Vollkommenheit, auf die es in seinem Wesen angelegt ist. Hannah Arendt, diese große, wunderbare Idealistin des 20. Jahrhunderts, hat an dieser Vollkommenheit nie gezweifelt, auch nicht an der Chance, sie in der Welt zu verwirklichen. Sie war zugleich Zeitzeugin, Opfer und Chronistin der schrecklichsten Vergewaltigung, die dem Menschsein in der Geschichte Europas angetan wurde. 1933, das Jahr der Machtergreifung, bedeutete auch ihre persönliche Zivilisationskatastrophe: Von der Gestapo verhört und nur durch Zufall frei gelassen, floh sie nach Frankreich; der deutsche Einmarsch 1940 machte dieses Exil zur Todesfalle, und Hannah Arendt musste, nach einer grausigen Zwischenstation im Durchgangslager von Gurs, weiter fliehen, diesmal nach Amerika, wo sie an der Seite eines neuen Mannes auch ein neues Leben begann. Und auch dies mit großen Hindernissen: Als freie Autorin musste sie sich über Wasser halten, und erst ihre fantastische Studie über die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, die in den fünfziger Jahren erschien, bescherte ihr Ruhm und ein sorgenfreies Dasein. Der Sprung in die Achtbarkeit einer akademischen Wissenschaftlerin gelang ihr gleichwohl auch damals nicht – ebenso wenig übrigens wie heute. Freilich, die NS-Forschung rezipierte eifrig und anerkennend ihre Werke, und es war nicht das geringste Verdienst des jüngst verstorbenen Joachim Fest, dem Denken der Hannah Arendt im Spiegel seiner eigenen Schriften zur gerechten Anerkennung verholfen zu haben; und doch: Gerade als Philosophin ist ausgerechnet diese Frau, die die Philosophie des letzten Jahrhunderts, das Leiden in der Welt, die ideologischen Verirrungen der Zeit und den Weltschwund der Moderne, so authentisch wie kein anderer erlebt und gedeutet hat, bis heute nicht eigentlich gewürdigt worden. Aber Hannah Arendt ist – trotz der ironischen Negation, mit der sie Günter Gaus in einem Interview einst überraschte – als Philosophin wie für unsere Zeit geschaffen. Scharf wie kein existenzphilosophischer oder marxistischer Denker erkannte sie die geistige Situation der Zeit, wenn sie feststellte, dass alle angestammte soziale und geistige Lebenswelt seit dem 19. Jahrhundert, vollends aber seit Auschwitz aus Europa geschwunden war; mit dieser Welt aber zugleich das Gefühl, beheimatet zu sein, und mit diesem Gefühl – ein Zusammenhang, der erst der Generation der heute Zwanzig- bis Dreißigjährigen langsam klar wird – der Sinn für Verantwortung. Hannah Arendt zeigte, dass ein so unmögliches Verbrechen wie das Hitlers nicht aus einem imaginären »Bösen« herrührt, sondern aus dem Unvermögen des Menschen, mit der Welt – einer sinnlos und weltlos gewordenen Welt – noch etwas Vernünftiges, also Gutes anfangen zu können. Blaise Pascal charakterisierte einst die Tätigkeit der modernen Wissenschaft als »Divertissement«, als Vergnügung und Ablenkung; eine Zuschreibung, die ihre höchste Realität erlangte in den Lagern der Nazis, wo mit allem Ernst und aller modernen, ausgetüftelten Strukturiertheit an etwas so gnadenlos Unernstem, Strukturlosem gearbeitet wurde wie der Abschaffung von Menschen nur ihres Menschseins wegen. Denn, was heute in Dokumentationen und Seminaren immer noch falsch erklärt wird: In die KZ und Vernichtungslager kamen gerade nicht die Regimegegner, sondern ganz und gar Unschuldige, Unbefleckte, die man ausrottete ganz einfach deshalb, weil sie bloß da waren (echte Regimegegner wurden gewiss ebenso ermordet, aber durch Genickschuss oder den Galgen und nicht durch Gas, und nach einem Gerichtsverfahren samt Anklage und Verteidigung, natürlich unter einem pervertierten Rechtssystem; einem System aber immerhin – während der eigentliche Terror in den Lagern, in Russland ganz und gar ohne System war, unbegründet und unbegründbar). Gegen das Da-Sein, gegen das Sein in der Welt, der sinnlosen und daher nichtswürdigen Welt der Moderne richtete sich das Wüten Adolf Hitlers; gegen das Dasein schrieben die großen Romanciers seit Stendhal ihre Prosa der Hoffnungslosigkeit, schrieb der Philosoph Heidegger sein Werk »Sein und Zeit«. Heidegger übrigens, ihren Lehrer und Liebhaber, brachte Hannah Arendt in ihren Werken zusammen mit Adorno, seinem schärfsten (und scharfsinnigsten) Kritiker – eine Leistung, die bis heute nirgendwo protokolliert ist. Was Hannah Arendt da schuf, war wissenschaftsgeschichtlich die Versöhnung von Ontologie und Soziologie; geistesgeschichtlich war es der Versuch, eine wesensmäßige, quasi religiöse Deutung des Menschseins mit seiner sozialgeschichtlichen Beschreibung in Einklang zu bringen. Nirgendwo ist ihr das besser, großartiger gelungen als in »Vita activa«, ihrem eigentlichen Hauptwerk. »Vita activa« enthält die brillanteste Beschreibung unseres Zeitalters, und es ist bezeichnend allein für den Stand unseres Vermögens zu Spekulation und transzendentaler Forschung, dass das Buch selbst unter Fachleuten immer noch lediglich als politologische Studie firmiert. Dabei geht es darin ja – wie der Titel sagt – ums Tätigsein, die ausgezeichnete Daseinsweise des Menschen, die ihn vom Tier, von der Pflanze und vom leblosen Stein unterscheidet und die ihn zum wahrhaft göttlichen, wenn auch vielleicht nicht von Gott geschaffenen Geschöpf macht; damit aber geht es auch um die Welt, die durch unser Tun erst ihren Sinn oder Unsinn erhält. Im Tätigsein liegen zugleich das größte Risiko und die größte Chance des Menschseins. Wenn Hannah Arendt von der »Weltlosigkeit« der Moderne spricht, so meint sie die absolut negative Freiheit des Nicht-Tätig-Seins, den höllischen Abgrund der Betätigungslosigkeit, den die – übrigens folgerichtige und gar nicht verwerfliche – Technisierung und Simplifizierung des Lebensalltags heraufgeführt hat; jenen Abgrund, den heute so viele erfahren, ob sie an einem ungeliebten Arbeitsplatz beschäftigt sind oder ungeschäftig zu Hause sitzen. Ob nun beschäftigt oder unbeschäftigt – in beiden Fällen ist der Mensch, wenn er das, was er tut, nicht mit Liebe und Feuer tut, betätigungslos, und die schlimmste Konsequenz, die er hieraus ziehen kann, ist der Mord aus verzweifelter Langeweile: der Mord an der Welt und an sich selbst, wie ihn die Hitlerzeit in grauenhafter Vollendung beispielhaft vorgelebt hat. Gerade aus der Weltlosigkeit aber, wenn sie nur erst erkannt und begriffen wird, kann die Welt ganz neu erwachsen. Das will uns Hannah Arendt sagen: dass wir an einem historischen Wendepunkt stehen; an der Wende vom Nicht-Tätigsein zum eigentlichen, vollgültigen Wirken an und in der Welt. Auch die Voraussetzung dazu nennt sie: eine wahre Revolution, nicht allein der sozialen, wie sie Marx, nicht allein der politischen Ordnung, wie sie die konservative Revolution prophezeit hat – beides sind Konzepte der Leere und Destruktion, weil sie das Wesentliche nicht beachten, was den Menschen, jeden von uns, zum Gott macht: sein Bewusstsein. Hannah Arendt verkündet, wenn auch nirgends wörtlich, eine Bewusstseinsrevolution. Nicht irgendein von außen, von den Umständen an uns herangetragenes Ideal, sondern das, was jeder von uns selbst, aufrichtig und ohne Verstellung, vom Leben will, ist das eigentliche, das höchste Ziel eines jeden Lebens. Nach diesem Ziel, so lehrt uns Hannah Arendt, gilt es jeden von uns zu fragen. Die Voraussetzung dieses Fragens lehrt die Philosophin, wenn sie dem Buch über das Tätigsein die unsterblichen Worte des älteren Cato als Epilog schenkt: »Niemals ist man tätiger, als wenn man dem äußeren Anschein nach nichts tut, niemals ist man weniger allein, als wenn man in der Einsamkeit mit sich allein ist.« Das mag einfach klingen, konservativ, abgetan; wer aber wirklich versucht, ernsthaft sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, sein eigenes Wollen unverstellt zu suchen, der gelangt zu der schönsten und höchsten Form der Freiheit: einem echten, ethischen Individualismus, der nicht auf das Allgemeine schwört wie der Kommunismus und nicht auf das Konkrete wie der Kapitalismus. Von diesem ethischen Individualismus war der Mensch faktisch nie weiter entfernt als heute; bewusstseinsmäßig aber steht er ihm heute näher denn je, denn gerade weil er an nichts Äußeres mehr glauben kann – sei es die Nation, sei es die Gesellschaft, sei es Gott -, hat er die Chance, das, was ihm kein Terror und keine Langeweile nehmen kann: sein Ich zu ergreifen und darin wahrhaft glücklich zu werden. Wenn aber erst jedes Individuum diesen Schritt getan haben wird, dann wird auch unser Zeitalter im Ganzen wieder sein Zuhause finden und die Welt wieder welthaft werden. Beides, den Verlust des Zuhauses und den Weg dorthin zurück, der je vorwärts führt, wollte uns Hannah Arendt zeigen; wir sollten ihr dafür danken.

Erschienen am 14. Oktober 2006 im Neuen Deutschland anlässlich des 100. Geburtstags von Hannah Arendt.

Titelbild: Hannah Arendt als junges Mädchen