Die Kontroverse um Achille Mbembe nimmt kein Ende. Die einen werfen dem wohl einflussreichsten Postkolonialismus-Theoretiker der Gegenwart Nähe zu antisemitischen Positionen vor; die anderen sehen in Mbembes Äußerungen dagegen legitime Israelkritik und unterstellen wiederum seinen Gegnern verhohlenen Rassismus. Die wertvollen Erkenntnisse, die man von beiden Seiten mitnehmen könnte, gehen dabei unter.
Die Shoa als singuläres Ereignis, als das Menschheitsverbrechen katexochen: so ist es gängige Lehrmeinung in Deutschland, und das zu Recht. Denn niemals in der Geschichte, soweit wir zurückblicken können, wurde die Ermordung eines kompletten Teils der Bevölkerung vom Neugeborenen bis zum Greis aufgrund seiner vermeintlichen oder tatsächlichen Abstammung derart umfassend und rationell beschlossen, geplant und ins Werk gesetzt wie bei der Ermordung der europäischen Juden durch Hitler und das nationalsozialistische Deutschland.
Für die konkrete Gedenkkultur aber erweist sich der Topos der Singularität des Holocaust in mancher Hinsicht als Hypothek. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat hierauf jüngst hingewiesen, indem sie davor warnte, das Gedenken an den Holocaust unter dem Gesichtspunkt seiner Singularität drohe, „steril“ zu werden. Was meint Assmann damit?
Nun, bei „Holocaust“ denken wir heute meistens an „industriellen Massenmord“, an ideologisierte SS-Männer, die kaltblütig, und das meint eben auch: leidenschaftslos Millionen von Juden in Gaskammern ermordeten. Doch mit der gewaltvollen, brutalen, sadistischen Realität des Massenmordes hat diese Vorstellung rein gar nichts zu tun.
Da ist es auch wenig hilfreich, dass nach wie vor das Tagebuch der Anne Frank als Nonplusultra der schulischen Holocaustliteratur gilt. Anne Franks Tagebuch sagt zwar viel über die Judenverfolgung und auch viel über das Coming of Age eines frühreifen jungen Mädchens aus – aber nichts über die Shoa. Wer wissen will, was die Shoa war, der sollte nicht Anne Frank lesen, sondern die Berichte von Überlebenden der „Aktion Reinhard“: Chil Rajchman, Rudolf Reder, Jankiel Wiernik. Vieles davon steht kostenlos im Internet, anderes wurde seit Jahrzehnten nicht mehr aufgelegt – auf schulischen Curricula steht meines Wissens nichts davon.
Deshalb ist es meines Erachtens dringend geboten, die Shoa gewaltgeschichtlich zu kontextualisieren. So unterschiedliche Wissenschaftler wie Christian Gerlach und Timothy Snyder tun das bereits. Sie betonen zugleich die Brutalität des Mordens (und zwar nicht nur auf den Killing Fields der „Einsatzgruppen“, sondern auch und gerade in den Vernichtungslagern der „Aktion Reinhard“), und ebenso die Rolle, die der Holocaust im kolonialistisch-imperialistischen Gesamtprogramm der Deutschen spielte.
Das eine war nämlich der irrationale, metaphysisch aufgeladene Hass auf die Juden als vermeintliche Strippenzieher und Weltvergifter, also als singuläre geschichtliche Widersachermacht; das andere aber war ganz pragmatische „ethnische Flurbereinigung“ (so der Ausdruck der Nationalsozialisten), um Platz für deutsche Siedler zu schaffen. Und in der Hierarchie der zu beseitigenden Ansässigen in Osteuropa standen die Juden, die man nicht als Europäer ansah, eben ganz unten.
Auf der anderen Seite wirft die Debatte um Mbembe ein Schlaglicht auf die uralte unheilige Allianz zwischen linken und rechten Antiimperialisten und Antisemiten. Es gibt, gerade in Deutschland, gerade im Bürgertum, ein breites Spektrum von Menschen, die ihren Hass auf den Westen und auf unsere judäochristliche, humanistische Tradition hinter Palästinafolklore, Alnatura-Esoterik und Anti-USA-Demos verstecken. Damit knüpfen sie an linksgrüne Traditionen aus der Zeit der Studentenbewegung an, aber auch an den guten alten nazistischen Antiimperialismus. Die Reden Hitlers strotzen nur so vor Tiraden gegen die schlechte Behandlung der Inder, der Iren und der Kohlearbeiter durch die bösen britischen Kolonialherren und die hinter ihnen stehenden „jüdischen und nichtjüdischen Bankbarone“. Ja, linke Bewegungen und ihre akademischen Verästelungen etwa in Gestalt der Postcolonial Studies haben ein Antisemitismusproblem. Dieses Problem muss ebenso schonungslos adressiert werden wie die unselige schleichende Verbrämung der Shoa zum quasi körperlosen Menschheitsverbrechen durch die offizielle Gedenkkultur.
©️ Konstantin Johannes Sakkas, 2020