Der Mythos vom sauberen Holocaust

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Triggerwarnung: Der nachfolgende Text enthält drastische Schilderungen der den Juden im Holocaust angetanen Gewalt.

„Ich habe aber auch keinen Zweifel darüber gelassen, dass, wenn die Völker Europas wieder nur als Aktienpakete dieser internationalen Geld- und Finanzverschwörer angesehen werden, dann auch jenes Volk mit zur Verantwortung gezogen werden wird, dass der eigentlich Schuldige an diesem mörderischen Ringen ist: Das Judentum! Ich habe weiter keinen darüber im Unklaren gelassen, dass dieses Mal nicht nur Millionen Kinder von Europäern der arischen Völker verhungern werden, nicht nur Millionen erwachsener Männer den Tod erleiden und nicht nur Hunderttausende an Frauen und Kindern in den Städten verbrannt und zu Tode bombardiert werden dürften, ohne dass der eigentlich Schuldige, wenn auch durch humanere Mittel, seine Schuld zu büßen hat.“

Diese Worte diktierte Adolf Hitler seiner Sekretärin Traudl Junge am 29. April 1945, einen Tag vor seinem Selbstmord im so genannten Führerbunker in Berlin, und sie haben eine erstaunliche Karriere gemacht. Noch 75 Jahre später nämlich herrscht insgeheim die Meinung vor, der Völkermord an den europäischen Juden sei zwar ein historisch einzigartiges Verbrechen – aber kein besonders grausames Ereignis gewesen.

Das Vernichtungslager als Ort, an dem man durch beflissene SS-Männer wie den ikonisch lächelnden „Todesengel“ Josef Mengele an der „Rampe“ bis zuletzt getäuscht und beinahe gewaltfrei und quasi durch „gutes Zureden“ in eine geräumige Gaskammer geleitet wurde, in der man dann nach wenigen Atemzügen starb: so hätte man es gern, und so wurde und wird es durch Film und Literatur teilweise suggeriert. Aber so war es nicht.

Zum populären Allgemeinwissen über den Holocaust insbesondere in Deutschland gehört seit Jahren der Topos, dass in den Vernichtungslagern vor den Gaskammern Schilder angebracht gewesen seien, auf denen sinngemäß zu lesen gewesen sei, „nach dem Duschen gibt es Kaffee und Kuchen“. Etwa die Literaturverfilmung Aus einem deutschen Leben von Theodor Kotulla mit Götz George in der Hauptrolle aus dem Jahr 1977 zitiert diesen Topos („nach dem Duschen bekommen Sie alle einen halben Liter Kaffee“).

Der Satz mit dem Kaffee, den es nach der vermeintlichen Desinfektion in den Baderäumen, die sich dann als Gaskammern herausstellten, geben würde, ist historisch durchaus verbürgt. Hier liegt nicht das Problem. Das Problem liegt vielmehr darin, dass man erstens den ungeheuerlichen Sadismus, der bei den Massenmorden in den Vernichtungslagern die Regel war, im öffentlichen Gedächtnis immer noch weitgehend ignoriert; und dass man sich zweitens selbst noch nach der erinnerungskulturellen Zäsur von 1968 über das Ungeheuerliche der Massenvernichtung mit der klammheimlichen Selbstbeschwichtigung hinwegtröstet, dafür sei diese Massenvernichtung ja „human“ abgelaufen.

Doch diese Selbstbeschwichtigung ist eine Selbsttäuschung, die historisch nicht gedeckt ist. Sie wird zum Teil dadurch gefördert, dass die Massentötung von Juden durch Giftgas in Deutschland vor allem mit dem Namen Auschwitz verbunden ist, weniger mit den je nach Zählung bis zu sieben weiteren Vernichtungslagern. Für eine realistische Erinnerungskultur ist das in mehrerlei Hinsicht problematisch.

Erstens: Auschwitz war kein reines Vernichtungslager, sondern bestand aus drei Lagern: dem Stammlager Auschwitz I, dem Lagerkomplex Auschwitz-Monowitz und dem eigentlichen Vernichtungslager Auschwitz II, auch bekannt als Auschwitz-Birkenau. In Birkenau befanden sich die Gaskammern, dort fand der planmäßige Mord mit Zyklon B statt.

Zweitens: aus diesem Doppelstatus als Arbeits- und Vernichtungslager ergab sich, dass es zu Selektionen unter den neu ankommenden Juden kam, die es in den reinen Vernichtungslagern, von denen in diesem Beitrag hauptsächlich zu sprechen sein wird, dagegen nicht gab. Bei den Selektionen in Auschwitz, die durch einige millionenfach reproduzierte Fotografien zur erinnerungskulturellen Ikone wurden,  wurde bekanntlich nach arbeitsfähig und nicht-arbeitsfähig unterschieden; wer als arbeitsfähig „selektiert“ wurde, wurde offiziell ins Stammlager Auschwitz eingewiesen und bekam die berüchtigte Häftlingsnummer eintätowiert; die anderen, in der Regel Alte, Kinder und überdurchschnittlich viele Frauen, wurden, zumeist auf Lastwagen, nach Birkenau eskortiert, wo sie dann in die Gaskammern kamen.

Weil die Lager-SS in Auschwitz also wenigstens einen Teil der Ankömmlinge als Arbeitshäftlinge brauchte, war sie darauf angewiesen, dass es bei den Selektionen einigermaßen „ordentlich“ zuging; durch eine übermäßig brutale Behandlung der Nicht-Arbeitsfähigen, von denen ja klar war, dass man sie wenig später umbringen würde, hätte die SS – auch wenn es bei deren „Abfertigung“ erwiesenermaßen brutal zugehen konnte – bei den Arbeitsfähigen, die unter den Nicht-Arbeitsfähigen oftmals Verwandte und Freunde hatten, unnötig Unruhe ausgelöst, was zu unerwünschten Widerstandshandlungen direkt an der „Rampe“ hätte führen können. Man kann also davon ausgehen, dass die Täuschungsfassade bei der Ankunft in Auschwitz aufgrund der Selektionen relativ effizient aufrechterhalten wurde.

Drittens: Auschwitz war Anlaufstelle vor allem von süd- und westeuropäischen sowie der meisten deutschen Juden. Das ist der Hauptgrund, warum ausgerechnet Auschwitz zu einer erinnerungskulturellen Ikone wurde und Belzec, Sobibor und Treblinka, die Lager der so genannten Aktion Reinhard, nicht, und ebenso wenig die beiden weißrussischen Lager Maly Trostinez und Bronnaja Gora oder das Lager Majdanek bei Lublin, das wie Auschwitz sowohl Arbeits- als auch Vernichtungslager war, allerdings mit einer vermutlich weitaus geringeren Opferzahl als Auschwitz. Denn das Gedächtnis an den Holocaust in der westlichen Welt wurde und wird teils noch immer (2024) von der westlichen Geschichtsschreibung und Medienöffentlichkeit dominiert.

Die polnischen Juden, die hauptsächlich in der so genannten Aktion Reinhard zwischen März 1942 und November 1943 in den drei bereits genannten Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka ermordet wurden, hatten zu Beginn dieser Mordkampagne, also Anfang 1942, bereits mehr als zwei Jahre Gewalterfahrung hinter sich. Sie wussten oder ahnten, was sie bei ihrer finalen Deportation erwartete, so dass die Täter in ihrem Fall auf ausgeklügelte Täuschungsmanöver nicht durchgehend, aber vielfach verzichteten und sie von der „Verladung“ zur Deportation bis zu den letzten Schritten in Tötungsprozess durch Vergasen, Erschießung oder anderweitige Methoden ihre Unterlegenheit und ihr Ausgeliefertsein ausdrücklich und oft mit sadistischer Freude spüren ließen.

Erstens: Diese osteuropäischen Juden lebten seit Ende 1939 in Ghettos zusammengepfercht, die völlig überfüllt waren und in denen die sanitäre und die Versorgungslage von den Deutschen bewusst katastrophal gehalten war. Ein erheblicher Teil des durch das nationalsozialistische Deutschland ermordeten Juden – das vergisst man heute gerne – starb gar nicht durch direkte Gewalteinwirkung, sondern ist qualvoll in den Ghettos verhungert. Schon als im März 1942 die Transporte nach Belzec begannen – jüdische Insassen psychiatrischer Anstalten wurden im besetzten Polen schon seit 1939, also Kriegsbeginn, planmäßig ermordet –, konnten sich die polnischen Juden nur noch schwerlich Illusionen über das Ziel ihrer Reise machen.

Zweitens aber hatte sich 1942 nach einigen Monaten die Tatsache, dass, wie es im Jargon der NS-Bürokratie hieß, in speziellen Lagern in Ostpolen Juden „sonderuntergebracht“ wurden, in den Ghettos und Städten Polens weit herumgesprochen. Die polnischen Juden kamen in den so genannten Reinhard-Lagern an als Todgeweihte, und exakt so wurden sie nicht nur in den Lagern in Empfang genommen, sondern auch schon bei der Abfahrt behandelt.

Die Historikerin Sara Berger untersucht in ihrer einschlägigen Dissertation Experten der Vernichtung, die 2013 erschien, nicht nur die personellen und technischen Kontinuitäten zwischen der so genannten Euthanasie und der Aktion Reinhard, sondern gibt vor allem einen beklemmenden, realistischen Einblick in die Realität der Todeslager, die mit der geradezu romantischen Vorstellung, die sich der Volksmund gern von der Judenvernichtung macht, drastisch abweicht. Wir stützen uns im Folgenden neben einigen Primärquellen vor allem auf die Forschungsergebnisse Bergers.

In einem Vortrag, den sie 2018 vor Bundesoffizieren hielt, sagte Sara Berger einleitend:

„Vorab möchte ich gerne betonen, dass es sich bei den Lagern keineswegs um eine anonyme Vernichtungsmaschinerie gehandelt hat, die quasi ohne menschliche Kontakte zwischen Tätern und Opfern funktionierte und ohne Gewalt auskam. Die Ermordung in den drei Lagern war im Gegenteil ein äußerst gewaltsamer Vorgang, an dem alle Täter im Lager ausnahmslos beteiligt waren.“

„Die vorherigen Herrscher über Leben und Tod“ dagegen versuchten nach dem Krieg, so Berger in ihrem Buch, „den Massenmord als reines Fließbandverfahren, als perfekt funktionierende Todesmaschinerie ohne Gewalt darzustellen.“ Doch gewaltfrei war nicht einmal der Transport in die Todeslager. Der frühere polnische Seifenfabrikant Rudolf Reder, einer von nur zwei bekannten Überlebenden des Vernichtungslagers Belzec, das von März bis Dezember 1942 betrieben wurde, schildert in seinem Bericht aus Belzec die Prozedur der Verladung am Bahnhof von Lemberg:

„Um sechs Uhr morgens befahlen sie uns, aus dem feuchten Gras aufzustehen und Vierergruppen zu bilden, und die langen Reihen der Verdammten gingen zum Bahnhof Kleparów. Gestapo und Ukrainer umstanden uns in dichten Reihen. Keiner konnte entkommen. Sie drängten uns auf die Rampe des Bahnhofs. Ein langer Güterzug wartete schon an der Rampe. Es waren fünfzig Waggons. Sie begannen uns zu verladen. Die Türen der Güterwaggons waren geöffnet worden. Die Gestapoleute [gemeint ist SS; K.S.] standen an beiden Seiten der Türen – zwei an jeder Seite mit Peitschen in den Händen – und schlugen jeden, der einstieg, ins Gesicht und auf den Kopf. Die Gestapoleute schlugen ohne Ausnahme auf die Leute ein. Wir hatten alle Striemen im Gesicht und Beulen auf dem Kopf. Die Frauen schluchzten, die Kinder weinten und drückten sich an ihre Mütter. Unter uns waren auch Frauen mit Säuglingen. Als wir von der die Menschen rücksichtslos schlagenden Gestapo angetrieben wurden, stolperten wir übereinander. Der Einstieg war hoch, und die Menschen mussten heraufklettern und stießen sich gegenseitig weg – wir waren selbst in Eile, wir wollten es hinter uns bringen. Ein Gestapo-Mann mit einem Maschinengewehr saß auf dem Dach eines jeden Waggons. Die Gestapo schlug die Leute und ließ jeweils Hundert in einen Waggon. Es ging alles so schnell, dass es nicht länger als eine Stunde dauerte, um einige tausend Menschen zu verladen.“

Das Martyrium der Juden begann also bereits mit der Zugfahrt, und dies führt uns zu einem weiteren erinnerungskulturellen Topos, dem ikonischen „Viehwaggon“, worin die Deportierten transportiert wurden. Tatsächlich waren es aber nicht einmal Viehwaggons, sondern so genannte gedeckte Güterwagen, in denen vor allem die osteuropäischen Juden in den Tod gefahren wurden. Schon die Standards für den Transport von Tieren wurden hierbei nicht eingehalten, die Menschen wurden, wie in der deutschen Wikipedia zu lesen ist, „wie Stückgut“ transportiert. Denn die Waggons waren in der Regel hoffnungslos überfüllt. Die Menschen saßen nicht, sondern standen, und das oft über mehrere Tage hinweg und wie aneinandergeklebt, sie mussten ihre Notdurft im Waggon verrichten und waren auf den von ihnen mitgebrachten Proviant angewiesen. Zivilisten, die ihnen bei Zwischenhalten Nahrung reichen wollten, wurden durch die Begleitmannschaften in der Regel mit Gewalt abgewiesen. Angehörige der Begleitmannschaft, die mit Wasser Schwarzhandel trieben, verlangten dafür entweder horrende Preise, oder aber nahmen den Deportierten erst Geld und Wertsachen ab, lieferten dann aber nicht das versprochene Wasser.

Die Deportationszüge fuhren mit erheblich gedrosselter Geschwindigkeit. Zum einen wegen ihrer Überladung, zum anderen wegen der häufigen Stopps. Denn der Holocaust war, wie der Historiker Christian Gerlach zu Recht betont, nicht nur Produkt eines irrationalen Nihilismus, sondern zugleich pragmatisch kalkuliert. Material- und Soldatentransporte der Wehrmacht hatten absoluten Vorrang vor den Todeszügen, so dass man schon für wenige hundert Kilometer mehrere Tage brauchen konnte. Das alles im Güterwagen, stehend beziehungsweise kauernd, bei Frost und bei Hitze, und mangelhaft oder gar nicht verpflegt. Dass eine Fahrt unter solcherlei Umständen von vielen Juden zutreffend als Fahrt in den eigenen Tod entschlüsselt wurde, zeigt sich daran, dass es auf fast allen Transporten Passagiere gab, die versuchten, aus dem fahrenden Zug zu fliehen, indem sie die Bodenverkleidung herausrissen und hinaussprangen. Die meisten von ihnen starben dabei oder wurden von den Begleitmannschaften erschossen, einigen wenigen gelang so die Flucht aus dem Zug, die freilich noch längst nicht die endgültige Rettung bedeuten sollte. Viele wurden wieder „eingefangen“ und ein weiteres Mal deportiert.

Wenn dann ein Deportationszug endlich seinen Bestimmungsort endlich erreicht hatte, so hieß das noch lange nicht, dass er auch sofort „abgefertigt“ wurde. Kam ein Zug nach Dienstschluss an, so ließ man ihn vor dem Lagertor warten und begann erst mit Schichtbeginn am kommenden Morgen mit der so genannten „Abfertigung“. Die Menschen, die einem Deportationszug entstiegen, waren schon bei der Ankunft mehr tot als lebendig – wenn sie nicht tatsächlich bereits gestorben waren.

Der SS-Obersturmführer Kurt Gerstein, ein Mitglied der Bekennenden Kirche, das sich nach eigener, nicht unumstrittener Aussage gleichsam in die SS eingeschlichen hatte, um das Böse von innen kennenzulernen und später davon Zeugnis abzulegen, hat nämlich in einer als Gerstein-Bericht bekanntgewordenen Niederschrift aus der unmittelbaren Nachkriegszeit beschrieben, wie man sich die Ankunft eines Deportationszuges ungefähr vorzustellen habe:

„Am anderen Morgen kurz vor sieben kündigt man mir an: In zehn Minuten kommt der erste Transport! Tatsächlich kam nach einigen Minuten der erste Zug von Lemberg aus an. 45 Waggons mit 6.700 Menschen, von denen 1.450 schon tot waren bei ihrer Ankunft. Hinter den vergitterten Luken schauten, entsetzlich bleich und ängstlich, Kinder durch, die Augen voller Todesangst, ferner Männer und Frauen. Der Zug fährt ein: 200 Ukrainer reißen die Türen auf und peitschen die Leute mit ihren Lederpeitschen aus den Waggons heraus.“

Von 6.700 Deportierten waren bei Ankunft im Vernichtungslager also fast 1.500 schon tot, mithin fast ein Viertel. Und das war nicht alles. Bereits in den Neunzigerjahren hat Christopher Browning in seiner bekannt gewordenen Studie Ganz gewöhnliche Männer über das berüchtigte Ordnungspolizeibataillon 101 dargestellt, wie Männer ebendieses Bataillons bei der Abfahrt eines Transportes Chlorkalk in die Waggons beziehungsweise auf die bereits verladenen Menschen gestreut hätten, vorgeblich zur Desinfektion, tatsächlich aber wohl aus Sadismus. Als der Zug dann endlich am Ort seiner Bestimmung ankam, hatte sich ein Großteil der dort zusammengepferchten Juden grauenvolle Verätzungen zugezogen und war schon tot. Immer wieder gab es Züge, bei denen mehr als 50 Prozent der Deportierten bereits bei Ankunft tot waren; von einem Deportationszug aus Rumänien, der sieben Tage unterwegs war, ist bekannt, dass bei seiner Ankunft über 75 Prozent der Juden in ihm nicht mehr lebten.

Transporte in dieser Art und mit ähnlich hohen Todesraten gab es zwar aus allen Teilen Europas; die Regel aber waren sie eher in Ost- als in Westeuropa. Aus dem so genannten Altreich etwa wurden die Menschen häufig in Abteilwagen dritter Klasse transportiert; zur Tarnung nach außen, aber eben auch zur Beschwichtigung. In der Literatur ist mehrmals von Transporten großbürgerlicher Juden aus den Niederlanden nach Treblinka beziehungsweise Sobibor bekannt, die in im Personenzug mit Speisewagen stattfanden. Der Film Flucht aus Sobibor aus den Achtzigerjahren mit Rutger Hauer hat diese Episode popularisiert; sie dürfte authentisch sein, stellt aber eben eine Ausnahme dar.

Die Prozedur des Aussteigens hat ebenfalls Rudolf Reder, der als Angehöriger des so genannten Sonderkommandos nicht vergast wurde und späterhin bei einem Außeneinsatz fliehen konnte, beängstigend eindrücklich beschrieben:

„Und dann fand der „Empfang des Zuges“ statt. Einige Dutzend SS-Männer öffneten die Waggons und schrien „los!“. Sie schlugen die Menschen mit Peitschen und Gewehrkolben aus den Zügen. Die Türen der Waggons waren einen Meter über dem Boden, und alle, die hinausgetrieben wurden – Junge und Alte gleichermaßen, mussten herunter auf den Boden springen. Dabei brachen sie sich ihre Arme und Beine.“

Was dann kam, beschreibt Sara Berger am Beispiel der so genannten Frühphase des Lagers Treblinka, in dem am 23. Juli 1942 der erste Transport mit Warschauer Juden ermordet wurde, folgendermaßen:

„Die im Verhältnis zur Opferzahl – täglich durchschnittlich über 7.000 Menschen – defizitären Lagerstrukturen glichen die Männer durch die Ausübung von roher Gewalt aus: Um die Situation ohne Gefahr für das eigene Leben kontrollieren zu können, positionierten sich die – häufig betrunkenen – T4-Reinhard-Männer und die Wachmänner [gemeint sind die zumeist ukrainischen Hilfsmannschaften, K.S.] auf den Dächern der Baracken und schossen während der ‚Transportabfertigung‘ in die Menschenmenge.“

Wenngleich sich diese Zustände im Vernichtungslager Treblinka nach dem vorläufigen Zusammenbruch der Vernichtungsmaschinerie und der Ablösung des „überforderten“ ersten Lagerkommandanten Irmfried Eberl Ende August 1942 etwas milderten, so blieb doch die Behandlung der deportierten Juden von der Ankunft im Vernichtungslager bis zu ihrem letzten Atemzug von purer Gewalt geprägt. Ja, es gab Elemente der Täuschung, die aber rasch wieder konterkariert wurden. So wurde den Ankömmlingen gelegentlich eine Rede gehalten, in der ihnen suggeriert wurde, sie gingen jetzt baden, um anschließend zum Arbeitseinsatz zu kommen. Hierauf sollen die Juden manchmal applaudiert und „Danke“ gerufen haben. „Viele Menschen ließen sich jedoch“, so schreibt Sara Berger,

„auch durch den Verwesungsgeruch im Lager und durch Warnungen der im Lager beschäftigten ‚Arbeitsjuden‘, über das ihnen zugedachte Schicksal nicht mehr hinwegtäuschen. Aus diesem Grund wurde zunehmend auf die Ansprache verzichtet. Stattdessen wurden nur noch Anweisungen gegeben und rohe Gewalt angewandt, um Widerwillige zum Auskleiden zu zwingen.“

Sobald aber die Frauen zum Haareschneiden kamen, schlug die Stimmung vollends um. Chil Rajchman, der eine Zeit lang beim Friseurkommando im Vernichtungslager Treblinka eingesetzt war und beim legendären Aufstand des Sonderkommandos Anfang August 1943 fliehen konnte, beschreibt in seinen Erinnerungen Ich bin der letzte Jude – sie erschienen erst 2009, fünf Jahre nach seinem Tod, und sie zeitigten kaum mediale Resonanz –, wie auch den arglosesten jüdischen Frauen beim Haareschneiden schlagartig klar wurde, was mit ihnen geschehen würde.

Rajchmans Darstellung deckt sich mit der Rudolf Reders aus Belzec:

„Es war ein Moment der Hoffnung und der Täuschung. Für einen Moment atmeten die Menschen auf. Absolute Stille herrschte. Die ganze Menschenmenge ging schweigend weiter, die Männer direkt über den Platz zu einem Gebäude, auf dem in großen Buchstaben geschrieben stand: „Bade- und Inhalationsräume“. Die Frauen gingen einige zwanzig Meter weiter zu einer großen Baracke (30×15 Meter). Den Frauen und Mädchen wurde in diesen Baracken das Haar abrasiert. Sie gingen hinein, ohne zu wissen, warum man sie hineingeführt hatte. Die Ruhe und die Stille dauerten noch eine Weile an. Nachträglich sah ich, dass ihnen nur einige Minuten später schlagartig alles klar wurde – als man ihnen Holzschemel gab und sie in den Baracken aufreihte, als man ihnen befahl, sich zu setzen und acht jüdische Friseure (Roboter, schweigend wie ein Grab) zu ihnen kamen, um ihr Haar bis zum Schädel abzurasieren. Keine von ihnen […] konnte[n] noch irgendwelche Zweifel haben. [… ] Plötzlich – ohne ein Zwischenstadium zwischen der Hoffnung und der absoluten Verzweiflung – hörte man Jammern und Kreischen. Viele Frauen wurden vom Wahnsinn gepackt.“

Anschließend kam der Gang durch einen eingezäunten Weg zur Gaskammer. Dieser Weg ist in der Literatur oft beschrieben worden, die SS selbst – so etwa Unterscharführer Franz Suchomel in seinem Interview mit Claude Lanzmann für dessen Dokumentarfilm Shoa –nannte ihn „Himmelfahrtsweg“ oder „Himmelfahrtsstraße“, im Lagerjargon hieß er schlicht „Schlauch“. Der Zaun war beidseitig durch dichtgesteckte grüne Zweige getarnt, was der Treblinka-Überlebende Richard Glazar, zum Anlass nahm, seine Erinnerungen Die Falle mit dem grünen Zaun zu betiteln. In Flucht aus Sobibor läuft einer der kindlichen Helden unter dem düster anschwellenden Ostinato der Filmmusik diesen Weg entlang, als er einem SS-Dienstgrad an der Gaskammer eine Botschaft zu überbringen hat. Die Juden liefen üblicherweise in Fünferreihen durch den Schlauch, während zu beiden Seiten SS-Leute und ukrainische so genannte „Hilfswillige“ mit Wachhunden postiert waren, die die Menge mit Schlägen, Peitschenhieben und Bajonettstichen zur Eile trieb.

Wie der Gang durch den „Schlauch“ zur Gaskammer ablief, beschreibt die Historikerin Berger am Beispiel von Belzec wie folgt:

„Häufig zögerten die Deportierten, durch den mit Stacheldraht begrenzten „Schlauch“ weiterzugehen, wurden dann aber durch die nachfolgenden Menschenmassen weitergedrängt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt schlug die Situation in Hektik und Gewalt um. SS-Männer […] sowie […] Zugwachmänner […] standen vor den Gaskammern, verhöhnten die verzweifelten Menschen, trieben sie mit Geschrei, Peitschen, Gewehren, Bajonetten und Prügeln die Stufen hoch in das Gebäude und verteilten sie auf die sechs Gaskammern. Versuchte jemand zu fliehen, wurde er auf der Stelle getötet.“

Noch eindrücklicher wird die Situation von Reder wiedergegeben, auf den sich Berger in ihrer fundierten Studie mehrfach bezieht:

„Während man die Frauen vorwärtstrieb, und sie nackt und rasiert wie Vieh zum Schlachter peitschte, ohne sie zu zählen, schneller, schneller – waren die Männer schon in den Kammern gestorben.“

Sofern die SS Männer und Frauen sowie Kinder getrennt vergaste, tötete sie zuerst die Männer. Umgekehrt hätte nämlich das Risiko bestanden, dass die Männer durch den vermuteten Tod ihrer Frauen und Kinder den Mut zu einer Verzweiflungstat gefasst und ihre Peiniger angegriffen hätten, um Rache zu üben. Mindestens ein solcher Verzweiflungsakt ist für das Lager Belzec für Ende 1942 überliefert. Wie schon bei den Einsatzgruppenmorden, wurden auch in den Reinhard-Lagern Frauen vor der Vergasung vergewaltigt. Sara Berger beschreibt zudem, wie Hochschwangere vor der Gaskammer „durch Tritte und Gewalt zum Gebären“ gezwungen wurden.

Reder fährt fort:

„Man brauchte etwa zwei Stunden, um die Frauen zu rasieren […] Einige Dutzend SS-Männer benutzten Peitschen und scharfe Bajonette, um die Frauen zu den Gebäuden mit den Kammern und die drei Stufen zu dem Korridor hoch zu treiben, in dem askars [so wurden die ukrainischen Hilfskräfte auch genannt] 750 Menschen für jede Kammer abzählten. Frauen, die sich sträubten hineinzugehen, wurden von den askars mit dem Bajonett in den Körper gestochen, das Blut floss […].“

Die Juden gingen schon deshalb nicht „wie die Schafe zur Schlachtbank“, weil sie körperlich in der Regel gar nicht mehr in der Lage zu effektivem Widerstand gewesen wären und weil dieser Widerstand durch ein Szenario blanker Gewalt und Brutalität im Vorhinein erstickt wurde. Nochmals Rudolf Reder:

„Die Männer wurden zuerst mit Bajonetten vorangetrieben, man stach auf sie ein, während sie zu den Gaskammern rannten. Die askars steckten 750 in jede Kammer. Bis alle sechs Kammer gefüllt waren, hatten die Menschen in der ersten schon zwei Stunden lang gelitten. Erst wenn alle sechs Kammern so dicht mit Menschen vollgepackt waren, dass man die Türen kaum schließen konnte, wurde der Motor angelassen.“

Die Ermordung der Juden war nicht human, wie die Vordenker des Holocaust das mehrmals schriftlich ventiliert hatten und wie es Hitler persönlich in seinem politischen Testament behauptete, sondern sie war ein einziges brutales und sadistisches In-die-Länge-ziehen des Sterbens, eine teuflisch ausgetüftelte Perversion des Sterbeprozesses. Was Reder berichtet, bestätigt der SS-Offizier Gerstein, von Rolf Hochhuth in seinem Drama Der Stellvertreter literarisiert, in seinem bereits zitierten Bericht:

„Eine Jüdin von etwa 40 Jahren, mit flammenden Augen, ruft das Blut, das hier vergossen wird, über die Mörder. Sie erhält 5 oder 6 Schläge mit der Reitpeitsche ins Gesicht vom Hauptmann Wirth persönlich, dann verschwindet auch sie in der Kammer. […] Die Kammern füllen sich. Gut vollpacken – so hat es der Hauptmann Wirth befohlen. Die Menschen stehen einander auf den Füßen. 700-800 auf 25 Quadratmetern, in 45 Kubikmetern! Die SS zwängt sie physisch zusammen, soweit es überhaupt geht. – Die Türen schließen sich. Währenddessen warten die anderen draußen im Freien, nackt. Man sagt mir: Auch im Winter genau so! Ja, aber sie können sich ja den Tod holen, sage ich. – Ja, grad for das sinn se ja doh! sagt mir ein SS-Mann darauf in seinem Platt.“

In den Lagern der Aktion Reinhard starben binnen eineinhalb Jahren geschätzt um die zwei Millionen Menschen. Nach Aussagen früherer Häftlinge, die in den so genannten Totenkommandos eingesetzt waren – also die Leichen aus den Gaskammern zerren und vergraben beziehungsweise späterhin verbrennen mussten –, wurden an manchen Tagen 20.000 Juden ermordet, manche sprechen sogar von 30.000. Der Tod in der Gaskammer kam dabei nicht schnell; auch dieser letzte Akt wurde von den Tätern qualvoll in die Länge gezogen. Wieder Kurt Gerstein:

„[…] Der Diesel funktioniert nicht! Der Hauptmann Wirth kommt. Man sieht, es ist ihm peinlich, dass das gerade heute passieren muss, wo ich hier bin. Jawohl, Ich sehe alles! Und ich warte. Meine Stoppuhr hat alles brav registriert. 50 Minuten, 70 Minuten [?] – der Diesel springt nicht an! Die Menschen warten in ihren Gaskammern. Vergeblich! Man hört sie weinen, schluchzen … Der Hauptmann Wirth schlägt mit seiner Reitpeitsche den Ukrainer, der dem Unterscharführer Hackenholt beim Diesel helfen soll, 12, 13 mal ins Gesicht. Nach zwei Stunden 49 Minuten – die Stoppuhr hat alles wohl registriert – springt der Diesel an. Bis zu diesem Augenblick leben die Menschen in diesen 4 Kammern, viermal 750 Menschen in 4 mal 45 Kubikmetern! – Von neuem verstreichen 25 Minuten. Richtig, viele sind jetzt tot. Man sieht das durch das kleine Fensterchen, in dem das elektrische Licht die Kammern einen Augenblick beleuchtet. Nach 28 Minuten leben nur noch wenige. Endlich, nach 32 Minuten, ist alles tot!“

Insgesamt 3 Stunden 21 Minuten dauerte es also, bis diese dreitausend Juden tot waren. Allerdings standen manche von ihnen nicht nur diese drei Stunden, sondern noch länger in ihrer „Kammer“, denn der Benzinmotor, mit dessen Abgasen die Juden getötet wurden, wurde natürlich erst angelassen, als alle Kammern belegt waren. Wer also mit in die erste Gaskammer gegangen war, der musste das Füllen aller Kammern, den anschließenden Motorschaden und schließlich das Wirken des Gases selbst abwarten, bis endlich der Tod eintrat, insgesamt wohl deutlich über vier Stunden.

Selbst hier müssen wir noch bedenken, dass ein Deportationszug mit sechzig Waggons sechstausend Menschen fassen konnte. Das bedeutet, dass die in diesem Fall restlichen dreitausend Opfer draußen vor dem Lager in ihren Güterwaggons warteten, bis sie „an der Reihe waren“. Im Ungewissen, natürlich, und ohne jede Versorgung durch Begleit- oder Lagermannschaft.

Dennoch: der Tod der Juden durch Motorenabgase, wie ihn Gerstein bei seinem Besuch in Belzec beschreibt, war noch nicht einmal das schlimmste Los, das die Juden in der Aktion Reinhard treffen konnte. Chil Rajchman beschreibt nämlich, was in Treblinka offenbar üblich war:

„An den Tagen, an denen die Herren durch das Vernichtungskommando in Lublin telefonisch unterrichtet wurden, dass am folgenden Tag kein Transport kommen würde, sperrten die Mörder die Menschen aus reinem Sadismus in den Gaskammern ein und ließen sie da, so dass sie aus Mangel an Luft den Erstickungstod starben. Einmal sind sie achtundvierzig Stunden so darin geblieben, und als die Klappen geöffnet wurden, röchelten einige und gaben noch Lebenszeichen von sich.“

Diese Schilderung wird von Rajchmans Kameraden Jankiel Wiernik, ebenfalls einem Treblinka-Überlebenden, bestätigt:

„Wie ich schon bemerkt habe, gab es nicht viel Platz in den Gaskammern. Die Menschen erstickten einfach durch die Überbelegung. Der Motor, der das Gas für die neuen Kammern erzeugte, funktionierte nicht richtig, und so mussten die hilflosen Opfer stundenlang leiden, bevor sie starben. Satan selbst hätte sich keine teuflischere Methode ausdenken können. Als man die Kammern wieder öffnete, waren viele der Opfer nur halbtot und mussten mit Gewehrkolben, durch Kugeln oder schwere Tritte getötet werden.  Häufig wurden Menschen die ganze Nacht in den Gaskammern gelassen, ohne den Motor anzustellen. Überbelegung und Luftmangel tötete viele von ihnen auf eine äußerst schmerzhafte Art. Jedoch überlebten viele diese nächtlichen Torturen – vor allem die Kinder waren auffallend widerstandsfähig. Sie waren noch am Leben, als man sie am Morgen aus den Kammern zog, aber die Deutschen machten mit Revolvern kurzen Prozess mit ihnen.“

Zehn-, vielleicht Hunderttausende wurden noch nicht einmal vergast – sondern man ließ sie, ihre Körper aneinandergeklebt, qualvoll und über Stunden hinweg ersticken, nachdem sie bereits Tage im engen, stickigen Güterwaggon zugebracht hatten. Wenn aber mit Gas getötet wurde, so kam es auch hier immer wieder zu Fällen, in denen Einzelne durch Bewusstlosigkeit die Vergasung überlebt hatten, draußen wieder zu sich kamen und dann kurzerhand erschossen wurden.

Wer aber nicht erschossen wurde, wurde lebendig begraben. Das galt für die Vergasten, aber auch für diejenigen, die zu schwach für den Gang zur Gaskammer waren und daher in allen drei Reinhard-Lagern ins so genannte Lazarett gebracht wurden, einer separaten, als Krankenstation getarnten Erschießungsgrube, an deren Rand sie gesetzt und dann erschossen wurden. „Nachschüsse“, so schreibt die Historikerin Berger, „wurden nicht abgegeben.“

Das Lebendigbegraben der Opfer war dabei kein Einzelfall. In der auf die Shoa umgedichteten Version des Male Rachamim, eines jüdischen Totengebetes, die durch den Spielfilm Der Garten der Finzi Continiweltbekannt wurde, wird ausdrücklich jener gedacht, „die lebendig begraben wurden für die Heiligung Deines Namens“. Chaim Hirszman, neben Reder der einzige andere Überlebende von Belzec, beschrieb kurz nach dem Krieg, wie Säuglinge und Kleinkinder eines Transports kurzerhand in eine große Grube geworfen und dann mit Erde bedeckt wurden; dass viele von ihnen noch am Leben waren, sah Hirszman daran, dass sie sich unter der Masse der Erde noch eine Zeitlang bewegten. Gas für sie zu verwenden, wäre, so das sadistische Kalkül der Mörder, Verschwendung gewesen. Sara Berger weist ausführlich nach, wie üblich es in allen Reinhard-Lagern war, Kleinkinder und Säuglinge direkt bei der Ankunft im Lager an den Beinen zu packen und ihre Köpfe oder Körper an einer Wand zu zerschmettern.

Selbst die eigentliche Vergasung in den Reinhard-Lagern war nicht schmerzlos, sondern qualvoll. Christian Wirth, ein äußerst sadistischer Polizeihauptmann, der von SS-Gruppenführer Odilo Globocnik, dem Koordinator der Aktion Reinhard, mit der Inspektion der Todeslager betraut worden war, ließ in diesen Lagern nur zu Anfang mit dem relativ schmerzfreien Kohlenmonoxid töten. Bald darauf ging er zu Benzinabgasen über, die die Lungen der Opfer unnötig reizten und, anders als reines Kohlenmonoxid, das Menschen bekanntlich quasi „einschlafen“ lässt, zu einem qualvollen Erstickungstod führten.

Der Prozess der Ermordung der europäischen Juden war eine von Anfang bis Ende durchchoreographierte Orgie der Gewalt, der besonderen, sinnlosen Erniedrigung, Demütigung und Quälerei. „In Treblinka eine Kugel zu bekommen, war ein Luxus“, zitiert der russische Romancier Wassili Grossman in seinem Bericht Die Hölle von Treblinka, der seit Jahrzehnten nicht auf Deutsch vorliegt, einen Augenzeugen. Das galt für die in den Vernichtungslagern eingesetzten jüdischen Arbeitskommandos, die, ebenfalls entgegen einer beliebten Legende, entsetzlicher Gewalt und Brutalität ausgesetzt waren; aber auch für die zur sofortigen Ermordung Bestimmten.

Dass der Tod im Gas nicht „human“ und keine „Gnade“ war, war den unmittelbaren Tätern im Übrigen glasklar, ebenso wie den zur Kollaboration gezwungenen Juden. In seiner bekannten Befragung durch die legendäre Holocaust-Forscherin Gitta Sereny aus dem Jahr 1971 schildert der zweite Kommandant von Treblinka, Franz Stangl, der im dritten Treblinka-Prozess 1970 vom Landgericht Düsseldorf zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, folgende Begebenheit.

„Aber am meisten habe ich mit dem Blau geredet, ihm und seiner Frau. Ihn hab ich zum Koch ernannt, im Arbeitslager. Er und seine Frau hatten eine Kammer, ein kleines Zimmer, neben der Küche. Der hat gewusst, ich würde immer helfen, wo ich konnte.

Eines Tages klopfte er in der Früh an die Tür von meinem Büro, kam herein, stand hab Acht und bat um Erlaubnis, mit mir zu sprechen. Er schaute sehr besorgt aus. Ich sagte: „Aber natürlich, Blau. Kommens herein. Was haben Sie denn auf dem Herzen?“ Er sagte, es war sein 80jähriger Vater; er sei diesen Morgen mit dem Transport angekommen. Könnte ich etwas tun? Ich hab gesagt: „Also, Blau, Sie müssen verstehen, das ist unmöglich. Ein Mann von achtzig.“ Er sagte schnell, ja, das verstehe er natürlich. Aber dürfte er mich um Erlaubnis bitten, seinen Vater ins Lazarett zu führen (wo die Opfer erschossen wurden) statt in die Gaskammer. Und könnte er seinen Vater erst in die Küche nehmen, um ihm etwas zu essen zu geben. Ich hab gesagt: „Ja, tuns, was Sie fürs Beste halten, Blau. Offiziell weiß ich nichts davon. Aber inoffiziell können Sie dem Kapo sagen, ich hab gesagt, es geht in Ordnung.“

Am Nachmittag, als ich in mein Büro zurückkam, war er schon wieder da und wartete auf mich. Er hatte Tränen in den Augen. Er stand hab Acht und sagte: „Herr Hauptsturmführer, ich wollt mich nur bedanken. Ich hab meinem Vater zu essen gegeben, und ich hab ihn gerad ins Lazarett geführt – es ist schon alles vorüber. Dank Ihnen vielmals.“ Ich hab gesagt: „Ja, Blau, da ist ja gar kein Grund, mir zu danken. Aber natürlich, wenn Sie mir danken wollen, dann können Sie es tun.““

Dass Stangl hier sein Verhältnis zum Oberkapo Blau, der der SS als Spitzel unter den „Arbeitsjuden“ diente und nach der Liquidierung von Treblinka angesichts seiner bevorstehenden Ermordung Selbstmord beging, unsäglich romantisiert und sich als paternaler Wohltäter gegenüber „seinen Arbeitsjuden“ inszeniert, hat schon Gitta Sereny empört und bedarf keiner besonderen Erörterung. Aber aufschlussreich ist die Passage allemal, denn sie zeigt, wie es in den so genannten Todesfabriken eigentlich zuging und dass ein SS-Führer, der einem jüdischen Greis eine Wohltat erweisen wollte, diesen statt in die Gaskammer ins so genannte Lazarett schickte, weil er ganz klar wusste, was den Juden auf dem Weg durch den „Schlauch“ und in der Gaskammer bevorstand und dass sie dort alles andere als ein leichter Tod erwartete. –

Die Ermordung der europäischen Juden durch das Deutsche Reich lässt sich grob in drei Etappen einteilen: die Einsatzgruppenmorde, auch bekannt als „Kugel-Holocaust“, die hauptsächlich zwischen Juni 1941, also dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, und Mitte 1942 stattfanden; der Aktion Reinhard 1942 und 43, der hauptsächlich, aber nicht ausschließlich die in Polen ghettoisierten Juden zum Opfer fielen, sofern diese nicht bei einzelnen Massenerschießungen, insbesondere im Baltikum, ermordet wurden; und dem Massenmord in Auschwitz, der Ende 1941 begann, seine dichteste Phase aber erst mit der so genannten Ungarnaktion 1944 erlebte, als fast vierhunderttausend ungarische Juden in wenigen Monaten dort vergast wurden. Die Verschleppung der deutschen und westeuropäischen Juden vollzog sich im großen Stil ab Anfang 1942; dabei kristallisierte sich, insbesondere aus logistischen Gründen, zwar bald Auschwitz als zentrale Anlaufstelle heraus; jedoch landeten auch viele westeuropäische Transporte in den Reinhard-Lagern, insbesondere in Sobibor und Treblinka.

Die Gesamtzahl der in Auschwitz ermordeten Juden wird von der Forschung auf etwa eine Million geschätzt, wobei die als Arbeitshäftlinge Umgekommenen mitgezählt werden. Während die Juden der sowjetischen Westgebiete zumeist durch die Einsatzgruppen erschossen und die polnischen Juden, wie gesagt, fast ausschließlich in den Reinhard-Lagern oder den diesen vorgeschalteten Durchgangslagern ermordet wurden – wenn sie nicht schon zuvor in den Ghettos oder beim Transport gestorben waren –, „landeten“ in Auschwitz vor allem jene Juden, die erst spät in den Zugriff des Reichssicherheitshauptamts kamen: etwa die italienischen Juden nach dem Seitenwechsel Italiens ab Oktober 1943 oder die griechischen Juden ab derselben Zeit, jene von den griechischen Inseln sogar erst Mitte 1944 sowie insbesondere die ungarischen Juden im Rahmen der so genannten Ungarn-Aktion zwischen Mitte Mai und Mitte Juli 1944, in deren Verlauf ca. 380.000 der etwa 430.000 nach Auschwitz verschleppten Juden unmittelbar nach ihrer Ankunft ermordet wurden. Sie kamen deshalb nach Auschwitz, weil zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung alle drei Reinhard-Lager bereits wieder geschlossen waren.

In Auschwitz wurde bekanntlich mit Zyklon B gemordet, das der Lagerführer des Stammlagers Auschwitz I, SS-Hauptsturmführer Karl Fritzsch, erstmals Ende 1941 an sowjetischen Kriegsgefangenen „erprobt“ hatte und das dann von seinem Vorgesetzten Rudolf Höß übernommen wurde. Höß selber beteuerte nach dem Krieg in polnischer Haft, er sei bei seinem Besuch in Treblinka im Sommer 1942 von der nackten Brutalität bei der so genannten Transportabfertigung so entsetzt gewesen, dass für ihn bei der Behandlung „seiner“ Deportierten in Auschwitz die „Täuschung“ der Opfer zur obersten Priorität geworden sei.

Diese Täuschung ist Höß tatsächlich gelungen, aber anders, als man denken mag. Denn die Nachwelt denkt, wenn sie das Wort „Vernichtungslager“ hört, fast ausschließlich an Auschwitz-Birkenau. Doch gerade Auschwitz, das so zum Inbegriff der Hölle wurde, nahm im System der Konzentrationslager und auch der Vernichtungslager eine Sonderstellung ein. In Auschwitz kamen zahlreiche bürgerliche Juden aus den Metropolen West- und Südeuropas an, in denen die SS-Offiziere bei der Selektion an der „Rampe“ manchmal Standesgenossen erkennen mochten. In Auschwitz lebten Zehntausende Arbeitshäftlinge, sehr viele von ihnen Nichtjuden, die teils eng in Kontakt mit dem „Vernichtungsbereich“ kamen.

In Auschwitz gab es keinen „Schlauch“, und in Auschwitz führte ein Kader altgedienter SS-Offiziere das Regime, die zwar in der Regel fanatische Nazis waren, die aber auch eine gewisse Disziplin unter ihren Männern aufrechterhalten wollten. Das Personal in den „Reinhard“-Lagern dagegen bestand – abgesehen vom Führungspersonal um Wirth, Stangl und einige andere – zum überwiegenden Teil aus Angehörigen des Kleinbürgertums und der Unterschicht, Krankenpflegern und „Leichenbrennern“ aus den Krankenmordanstalten der „Euthanasie“, denen man bei der Abstellung zur Judenvernichtung lediglich Nenn-Dienstgrade verliehen hatte und die hier, in bewusster Isolation vom Rest der Welt, ihre niedersten Triebe und Instinkte an den ihnen zur Ermordung Ausgelieferten hemmungslos austoben konnten und womöglich, und anderslautenden Äußerungen etwa Heinrich Himmlers zum Trotz, auch sollten.

Die heutige Filmindustrie hat kaum ein Tabu mehr offengelassen. Um eine explizite und realistische Darstellung des Todes in der Gaskammer macht sie dennoch einen großen Bogen. Das zeigt sich anhand dreier Filme jüngeren Datums, die am Versuch, den Tod in der Gaskammer realistisch auf die Leinwand zu bringen, gescheitert sind.

Son of Saul, der ungarische Low-Budget-Film von Laszlo Nemes, der 2016 mit dem „Fremdsprachen-Oscar“ ausgezeichnet wurde und den Aufstand des jüdischen Sonderkommandos vom Oktober 1944 schildert, zeigt zwar – stets aus dem Blickwinkel der Hauptfigur – das Innere einer Gaskammer nach einer Vergasung, deutet den Schmutz und das Chaos, die dort geherrscht haben müssen, dabei aber nur an. Ähnliches ist von The Grey Zone (2001) zu sagen, als ein Remake dessen Son of Saul stellenweise gelesen werden kann.

Werk ohne Autor, der dritte Film des deutschen Regisseurs Florian Henckel von Donnersmarck, der 2018 in die Kinos kam, bei der Oscarverleihung 2019 aber leer ausging, zeigt explizit, wie die Tante der Hauptfigur, bekanntlich eine Verschlüsselung des Malers Gerhard Richter, in einer Gaskammer der so genannten Euthanasieaktion durch Kohlenmonoxid stirbt. Richtig an der Darstellung ist, dass der Tod durch reines CO wesentlich schmerzloser ist als der durch Zyklon B oder gar durch Benzinabgase; auch war die Täuschung der Opfer bei diesen Morden, die im Reichsgebiet, quasi in Rufweite der Angehörigen und an überwiegend nicht-jüdischen Reichsbürgern verübt worden, ein unerlässlicher Faktor, musste man doch mit einer Öffentlichkeit rechnen. Aber dennoch waren auch die Kammern in den Euthanasieanstalten, wie ebenfalls Sara Berger gezeigt hat, oftmals heillos überfüllt, was, wie bei der Judenvernichtung, auch hier den Opfern die letzten Illusionen rauben musste: denn bei einer so dichten Raumbelegung ist an eine vernünftige Körperreinigung, wie sie von den Tätern suggeriert wurde, nicht zu denken; dass seine Reise hier zu Ende war, musste durch die unnatürliche räumliche Enge in den Gaskammern auch dem Letzten schlagartig klar werden.

Auch Sobibor, ein Film des russischen Regisseurs Konstantin Chabensky, ebenfalls aus dem Jahr 2018, vermittelt kein realistisches Bild von der Transportabfertigung und Vergasung in einem Vernichtungslager der Aktion Reinhard. Die Aussonderung einiger weniger Juden zum Dienst im Sonderkommando – eigentliche Selektionen wie in Auschwitz gab es in den Reinhard-Lagern bekanntlich nicht, ca. 97 Prozent eines Transportes wurden vergast –, das Auskleiden, der Gang in die Gaskammer, schließlich der Tod dort, wobei die Opfer genügend Platz haben, gepflegt umzufallen: all das vollzieht sich in diesem Film in einer Gesittetheit und Zivilität, die mit den tatsächlichen Vorgängen in Belzec, Sobibor und Treblinka und sicher auch in Auschwitz und in den Euthanasie-Tötungsanstalten wenig zu hat.

Der Tod im Holocaust war nicht steril noch human. Man musste nicht nur, wie Hochhuth seinen Doktor im Stellvertreter zynisch räsonieren lässt, „ein paarmal inhalieren“ und saß dann „zur Rechten Gottes“. Nein: das Sterben beziehungsweise das Gestorbenwerden in den Todesfabriken Hitlers war brutal, gewaltvoll, sadistisch und ekelhaft. Ukrainische Wachmänner sollen vor der Gaskammer von Belzec nackten jüdischen Frauen die Brüste abgeschnitten haben. Kleinkinder wurden beim „Befüllen“ der Gaskammern über die Köpfe der Erwachsenen hinweg in den Raum geworfen.

Ins öffentliche Gedächtnis ist davon, wie gesagt, wenig gedrungen. Der Demjanjuk-Prozess vor dem Landgericht, der die Identität eines jener ukrainischen Wachmänner klären sollte, die dem deutschen SS-Stammpersonal an sadistischem Einfallsreichtum häufig nicht nachstanden, warf vor rund zehn Jahren nochmals ein blasses Schlaglicht auf die Reinhard-Morde; Augenzeugenberichte, wie sie in diesem Beitrag mehrfach zitiert wurden, lagen oftmals schon bei Kriegsende, manche gar schon während des Krieges vor und wurden weltweit publiziert; die Fachliteratur hat das Thema intensiv ausgeleuchtet: dennoch – die Verdrängung des Grausamen, Barbarischen Sadistischen des Todes im Vernichtungslager war im Großen und Ganzen erfolgreich.

Dass es in den „Lagern der Nazis“, wie es gern verallgemeinernd heißt, brutal und menschenverachtend zuging, wird dabei nicht bestritten. Nur wird ein anderer Schwerpunkt gesetzt: man fokussiert sich auf die Zustände in den Arbeitslagern, Auschwitz I und Monowitz eingeschlossen: die Mangelernährung, das Unwesen der Kapos, die Lagerstrafen, Prügelbock und Hungerbunker, die Erschießungen an der berüchtigten „Schwarzen Wand“, Gewaltexzesse beim Verhör durch die Lager-Gestapo und ähnliches; geht es aber um die, „die gleich ermordet wurden“, überwiegt der unausgesprochene Eindruck, die hätten es noch „am besten erwischt“.

Dabei ist es umgekehrt: wer selektiert wurde, hatte eine Chance zu überleben, und war sie auch noch so gering; sein Leben hatte einen minimalen Wert behalten, auch für die Täter, denen es, wie Christian Gerlach gezeigt hat, nur sekundär um „Vernichtung durch Arbeit“, primär aber um das Erreichen ihrer wirtschaftlichen Ziele und um einen reibungslosen organisatorischen Ablauf ging, um derentwillen situativ sogar Rücksicht auf einzelne Häftlinge oder Häftlingsgruppen, darunter auch Jüdinnen und Juden, genommen werden konnte.

Wer aber zum Sterben bestimmt war, auf den brauchte man keinerlei Rücksichten mehr zu nehmen; er, nicht die „Arbeitsfähigen“, war das bevorzugte Objekt einer grenzenlos gewaltvollen, sadistischen Phantasie.

Dass der Holocaust sauber gewesen sei, ist eine Lüge, die seine Initiatoren gleich zu Anfang in die Welt setzten und die heute von vielen gutgläubig perpetuiert wird. Es bestehe, schrieb der SS-Offizier Rolf-Heinz Höppner an Adolf Eichmann am 16. Juli 1941, also in der Frühphase des Mords an den sowjetischen Juden,

„in diesem Winter die Gefahr, dass die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen.“

Zum Zeitpunkt des Briefes tobten seit kaum einem Monat die Einsatzgruppenmorde. Viele NS-Funktionäre, die in den neu eroberten Gebieten nun Statthalterposten innehatten, beschwerten sich über die Form der Massenerschießungen, die zwangsweise in der Öffentlichkeit stattfanden, und wünschten eine „diskretere Lösung“. Auf ihre Initiative griff man auf Vergasung als Methode zurück, die man schon von den Krankenmorden im Reich sowie in Polen kannte. Und so heißt es in dem Entwurf zu einem Brief an den „Reichskommissar für das Ostland“ (i.e. das Gebiet der 1941 eroberten drei baltischen Sowjetrepubliken) Hinrich Lohse, den der Amtsgerichtsrat im Reichsministerium für die Besetzten Ostgebiete Erhard Wetzel drei Monate nach Höppners Brief, am 25. Oktober 1941, konzipierte und der als „Gaskammerbrief“ bekannt geworden ist:

„Unter Bezugnahme auf mein Schreiben vom 18. Okt. 1941 teile ich Ihnen mit, dass sich Herr Oberdienstleiter Brack von der Kanzlei des Führers bereit erklärt hat, bei der Herstellung der erforderlichen Unterkünfte sowie der Vergasungsapparate mitzuwirken. […] Nach Sachlage bestehen keine Bedenken, wenn diejenigen Juden, die nicht arbeitsfähig sind, mit den Brackschen Hilfsmitteln beseitigt werden. Auf diese Weise dürften dann auch die Vorgänge, wie sie sich bei den Erschießungen der Juden in Wilna … ergeben haben, und die auch im Hinblick darauf, dass die Erschießungen öffentlich vorgenommen wurden, kaum gebilligt werden können, nicht mehr möglich sein.“

Was das aber für die Opfer bedeutete, wollte dieser Beitrag zeigen. „Humaner“ war der Tod im Vernichtungslager höchstens für die Mörder, nicht für die Opfer. Für die Opfer bedeutete er ein barbarisches Sterben oder vielmehr noch: ein Gestorbenwerden, wie der französische Philosoph Jean-François Lyotard in seinem Buch Le Différend 1983 argumentierte; ein Gestorbenwerden, weil dem Opfer noch die geringste Nuance seines Sterbeprozesses aus der Hand genommen und pervertiert und es so ganz zum Objekt des Willens seiner Mörder gemacht wird: sei es bei der unmenschlichen Hetze mit Schwertern und Bajonetten durch den „Schlauch“ hin zur Gaskammer; sei es beim erzwungenen Warten vor der Gaskammer nackt und bei eisigen Temperaturen im Winter, bei dem kleinen Kindern oft die Füße an der Erde festfroren; sei es beim „Tod durch Überbelegung“ in der Gaskammer, wo dem Opfer noch die letzte Gnade einer erlösenden Vergiftung verwehrt wird und es stattdessen an in die Länge gezogener Entkräftung langsam eingeht, verwesend bei atmendem Leib.

Das war der Holocaust für die meisten seiner Opfer, kein selbstbewusstes In-den-Tod-Gehen gereckten Hauptes. Von dieser letzten Legende Hitlers: dass die Ermordung der europäischen Juden durch „humane Mittel“ geschehen sei, einer Legende, die durch die beliebte technizistische Phrase vom „industriellen Massenmord“ leider noch befeuert wird, sollte sich die Nachwelt, wenigstens die deutsche, heute, fünfundsiebzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und dem Ende der Shoa, endgültig verabschieden.

© Konstantin Johannes Sakkas, 2019. All rights reserved. Header: Skulptur „Treblinka“ von Vadim Sidur, 1966, Standort: Amtsgerichtsplatz Berlin. Quelle: Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin/www.berlin.de 

Judentum, Islam und Orientalität

Die Juden sind nicht Speerspitze des Westens gegen den Orient, sondern Speerspitze des Orients in der westlichen Welt

 

Als Historiker setze ich mich quasi gezwungenermaßen mit dem „Dritten Reich“ und der Judenvernichtung auseinander. Ein Wort, das mich in zahllosen Dokumenten immer wieder anspringt, ist das Wort „orientalisch“. Viele SS-Täter verwenden es, wenn sie ihre Opfer beschreiben. So ist die Rede von „sehr schönen orientalischen“ Mädchen unter den Jüdinnen irgendeiner weißrussischen oder ukrainischen Stadt, die bei irgendeiner „Aktion“ einer Einsatzgruppe noch schnell vergewaltigt wurden, um dann doch wie alle anderen ermordet zu werden.

 

Der Antisemitismus ist ein Antiorientalismus

 

Der europäische Antisemitismus war bis 1945 ein dezidierter Antiorientalismus. Juden waren Orientalen, und Orientalen passten dreifach nicht ins weiße, nordische Europa: erstens: sie sahen anders aus, eben „orientalisch“. Zweitens: sie passten nicht in die Ständegesellschaft, denn etwas Vergleichbares wie die Einteilung der Menschheit in vererbten Adel und Nichtadel, die den Westen tausend Jahre lang geprägt hatte, gab und gibt es im Orient nicht. Drittens: sie hatten eine andere Religion.

 

Die Religion, bzw. der Glaube war dabei das am wenigsten Relevante. Die Juden wurden gehasst, weil sie, durchaus ähnlich wie die so genannten Parias in Indien, nicht einmal Dritter Stand, nicht einmal Bauern oder später Proletariat waren. Sie ließen sich keinem Stand zuordnen, was in einem Zeitalter, das jeden Menschen über seinen Stand definierte, so sicher zu Problemen führt wie nur irgendetwas. Und sie wurden gehasst, weil sie einen Einschlag in Haut- und Haarfarbe hatten, den man in einer Zeit, in der es keinen Massentourismus gab, nicht kannte. Dass sie zu JHWH und nicht zum „lieben Gott“ beteten: das war das Geringste der Probleme.

 

Für Alfred Rosenberg war das Christentum „syrisch“

 

Alfred Rosenberg, so genannter Chefideologe der NSDAP, bezeichnete das Christentum konsequent als „syrisch“. Für einen Nazi war der Mann ziemlich klug: er erkannte, dass der eigentliche Gegensatz nicht etwa der zwischen christlich und jüdisch war, sondern der zwischen „nordisch“ und orientalisch. Rosenberg und die deutschen Nationalsozialisten kämpften für das Nordische, für das Heidentum, für die weiße Haut: gegen das „Syrische“, das Orientalische, die dunkle Haut; und dazu gehörte für ihn konsequenterweise auch das Christentum. Spätere Versuche der NS-Führung, Muslime in der Sowjetunion, auf dem Balkan und in Nordafrika zum Dschihad aufzuwiegeln, auch die Aufstellung muslimischer SS-Einheiten waren taktisch motiviert und richteten sich vor allem gegen die jeweiligen Protektoratsnationen, hier die Russen als Führer der slawischen Welt, dort die Briten als Kolonialmacht im Nahen Osten; ins rassistische Weltbild des Nationalsozialismus im Ganzen passten keine Orientalen. Der brutale Umgang der Deutschen mit den Griechen und, nach dem Seitenwechsel 1943, auch mit den Italienern, beides christliche und beides indoeuropäische, „arische“ Völker, deren Angehörige aber „wie Juden aussahen“, zeigt das deutlich.

 

An dieser Stelle möchte ich eine persönliche Anekdote einfügen. Etwa im Jahr 1990 kam eines Abends mein Vater von der Arbeit nachhause und erzählte uns Kindern, jemand habe zu ihm auf dem Weg zur Arbeit in der U 9 gesagt: „Morgen wirst Du vergast, Jude.“ Nun ist mein Vater gar kein Jude, sondern orthodoxer Christ. Aber mein Vater ist Grieche. Er hat eine dunklere Haut- und damals auch noch Haarfarbe als der durchschnittliche „nordische“ Europäer, und er hat eindeutig griechisch-orientalische Gesichtszüge. Und das genügte im West-Berlin der ausgehenden Achtziger, in dem Neonazis noch allgegenwärtig im Stadtbild waren, um ihn als Juden „verdächtig“ zu machen. Ich habe diese Geschichte, die ich am nächsten Tag meinen verständnislosen Mitschülern (übrigens auf einer katholischen Privatschule) erzählte, bis heute nicht vergessen: weil sie mir das schwere Assimilationsschicksal meines Vaters (und damit ein Stück weit auch mein eigenes) verdeutlicht; weil sie eine Grundsolidarität zwischen mir und „den Juden“ hergestellt hat, die ich mir bis heute bewahrt habe; und schließlich, weil sie deutlich macht, was Orientalität bedeutet.

 

Europa ist auf der Idee des Nordens gebaut, als Antithese zum Orient

 

Europa, wie wir es kennen, ist gebaut auf der Idee des Nordens als Antithese zu allem Orientalischem. Karl der Große schnappte sich den Kaisertitel vom griechischen, orientalischen Byzanz weg, als dort zufällig für ein paar Jahre eine Frau auf dem Thron saß. Seine fränkischen Hofjuristen hatten ihm geflüstert, dass jetzt eine gute Gelegenheit sei. Und der (wahrscheinlich langobardische, also germanische) Papst in Rom, der tatsächlich nur einer von fünf gleichrangigen christlichen Patriarchen war und unter diesen fünf der macht- und prestigeloseste, sah ebenfalls seine Chance gekommen und verschaffte sich, indem er Karl die Krone aufsetze, Extraprestige, denn einen Kaiser krönen, das konnten die östlichen Patriarchen nicht.

 

Zweihundertfünfzig Jahre nach Karls Kaiserkrönung kam es dann zum endgültigen Bruch der christlichen Einheit, zum Schisma zwischen Abendland und Morgenland, weil der konstantinopolitanische Patriarch, verständlicherweise, die Oberhoheit seines römischen Kollegen nicht akzeptieren wollte. Kurz darauf fing auch der byzantinische Staat selbst an zu wanken. Die Türken waren auf den Weg nach Westen aufgebrochen. So traten an die Stelle der Griechen im Jahr 1453 die Osmanen, die das vierte islamische Kalifat begründeten: der Sultan als Stellvertreter Gottes und Nachfahre Mohammeds auf Erden in Personalunion, eine Art Papst und Kaiser in einem, aber eben auf orientalisch.

 

Politisch blieben Orient und Okzident voneinander getrennt. Hier der Papst und „seine“ christlichen Herrscher, allen voran der ehemals fränkische König als Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches“, also Deutschlands; dort der jeweilige Kalif – vor den Osmanen gab es bereits drei arabische Kalifate – und „seine“ muslimischen Völker. Ein orientalisches Volk freilich lebte sowohl hier als auch dort: die Juden.

 

Den Juden ging es unter dem Islam besser als im christlichen Europa

 

Natürlich ging es den Juden unter islamischer Herrschaft besser als unter christlicher. Zwar gab es schon immer auch einen islamischen Antijudaismus: die Juden hatten den Bund mit Allah aufgekündigt, so wie sie im Christentum Jesus, den Sohn Gottes, auf dem Gewissen hatten; aber im Alltag überwog die ethnische und sprachliche Verwandtschaft: Arabisch und Hebräisch sind kaum voneinander zu trennen, beides, Juden und Araber, sind semitische Völker. Die großen Pogrome im Mittelalter sind ganz überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich christliche Phänomene, während Juden unter arabischer und später türkischer Herrschaft relativ bequem leben konnten. Beispielhaft dafür die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Thessaloniki, der zweitgrößten jüdischen Gemeinde überhaupt nach Jerusalem, die zwei Jahrtausende unter römischer, byzantinischer, türkischer und schließlich wieder griechischer Herrschaft überdauerte – bis ihre Mitglieder im Jahr 1943 nach Auschwitz deportiert wurden, wo fast alle ermordet wurden. 50.000 Männer, Frauen und Kinder. Einige wenige überlebten als Mitglieder des so genannten Sonderkommandos.

 

Antisemitismus, der eigentlich Antiorientalismus heißen müsste, gab es bis 1945 fast ausschließlich im Westen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, also vor siebzig Jahren, änderte sich das. Angebahnt hatte sich das im 19. Jahrhundert. Die Revolution hatte die Ständegesellschaft beseitigt – nun waren die Juden im Norden erst recht Außenseiter. Als Orientalen passten sie nicht in die modernen Nationalstaatsgesellschaften – also schlug die Geburtsstunde des Zionismus, dessen Galionsfigur der österreichische Jude Theodor Herzl wurde.

 

Arabischen Antijudaismus gibt es erst seit dem 20. Jahrhundert

 

Weil nun jeder Europäer, der noch 1780 einfach Untertan irgendeines Höheren unabhängig von dessen Nationalität gewesen war (das Ancien Régime war sehr internationalistisch), sich auf der Suche nach seiner Identität auf einmal mit seinem eigenen Nationalstaat identifizierte, glaubten auch die Juden, einen Nationalstaat haben zu müssen – und der nun erwachende europäische Antisemitismus ließ ihnen auch kaum eine andere Wahl. Zugleich löste sich das Osmanische Reich langsam auf, die einstmals so mächtige Türkei galt im 19. Jahrhundert bekanntlich als „der kranke Mann am Bosporus“ – und auch hier begann man plötzlich, in Nationen zu denken. Ägypter, Iraker, Syrer wollten nicht mehr osmanische Untertanen sein, sondern Bürger ihres eigenen Staates.

 

1918 ging, wie Österreich-Ungarn, auch das Osmanische Reich unter. Diese europäisch-orientalischen Vielvölkerstaaten, die das Nationenproblem über fünf Jahrhunderte hinweg entschärft und neutralisiert hatten, wurden auf den Friedenskonferenzen in Saint Germain en Laye und Sèvres ausgelöscht. Die arabischen Völker hatten sich im Ersten Weltkrieg den Briten unter dem Abenteurer und Schöngeist Thomas Edward Lawrence angeschlossen, um das osmanische Joch abzuschütteln, wie es ihnen Griechen, Slawen und Rumänen in den hundert Jahren zuvor vorgemacht hatten. Bestärkt wurden sie durch die Zusicherungen, die der britische Hochkommissar in Ägypten, Henry McMahon, im Jahr 1916 dem saudi-arabischen Staatsmann Hussein ibn Ali gemacht hatte: die Engländer versprachen den Arabern Unterstützung im Kampf um Unabhängigkeit von der türkischen Herrschaft – logisch, denn die Türkei kämpfte auf Seiten der Mittelmächte gegen die Entente.

 

Der Judenhass der Araber ist nationalistisch motiviert, nicht rassistisch

 

Nur ein Jahr später, 1917, machte allerdings der britische Außenminister Lord Balfour dem Bankier Lord Lionel Rothschild die Zusage, dass Palästina nach dem Ende der türkischen Herrschaft „Heimstatt der Juden“ werden sollte. Das, und der anglofranzösische Aufteilungsplan von 1916, bekannt als Sykes-Picot-Abkommen, gilt in der arabischen Welt seither als Sündenfall des Westens, der die arabische Sache verraten habe. Und zwar an die Juden verraten. Dass die Juden sich in der Diaspora einfach genauso nach einem eigenen Staat gesehnt hatten wie ihre arabischen Nachbarn während der türkischen Fremdherrschaft, unterschlägt die offiziöse arabische Geschichtspolitik dabei geflissentlich. Und vor allem unterschlägt sie, dass die Juden als Orientalen des Westens tausend Jahre lang, seit Karl dem Großen, genauso wie Dreck behandelt wurden, wie die Araber sich seit Napoleons ägyptischer Expedition, dem Auftakt westlicher Intervention im Orient, von den Westmächten wie Dreck behandelt fühlten.

 

Der Hass vieler Araber – in ihrer Eigenschaft als Araber, nicht zwingend als Moslems – auf die Juden ist also nicht religiös oder rassistisch motiviert, denn „rassisch“ und religiös bilden beide faktisch eine Einheit, sondern nationalistisch. Und er hat auch nicht so sehr mit der Errichtung des jüdischen Staates Israel zu tun, zu der es bekanntlich erst dreißig Jahre nach der Balfour-Deklaration kam, sondern vielmehr mit dem Scheitern des arabischen Nation Building in den vergangenen hundert Jahren, und mit der Rolle, die die Westmächte dabei spielten.

 

Arabische Länder nehmen Israel als Kreuzritterstaat wahr

 

Schauen wir uns zum Vergleich Europa an: dass der alte westeuropäische Nationalismus, der dem Kontinent sechshundert Jahre lang den Stempel aufgedrückt hat, seit 1945 de facto verschwunden ist, liegt im Wesentlichen daran, dass im so genannten Kerneuropa seither faktisch identische Lebensbedingungen herrschen. Nach Ostpreußen oder dem Elsass sehnt sich eben nur, wer wirtschaftlich in der unterlegenen Position ist; Hitlers Wahlerfolg ist undenkbar ohne das Narrativ, dass Franzosen und Engländer im Überfluss lebten, während die deutsche Mutter kaum ihre Kinder ernähren könne, weil die Westmächte den Deutschen Danzig, Oberschlesien und die Kolonien weggenommen und 1923 überdies das Rheinland besetzt hatten. In einem Europa aber, in dem das wirtschaftlich stärkste Land, Deutschland, keine vernünftige Armee hat, dafür aber die anderen, wirtschaftlich schwächeren Länder über den Euro und Brüsseler Beihilfen finanziell aushält, ist Nationalismus so überflüssig wie ein Kropf.

 

In den arabischen Staaten dagegen ist Hass auf Israel deshalb Staatsdoktrin, weil sich diese Staaten selbst als failed states wahrnehmen, Israel hingegen als Kuckucksei des Westens, als Kreuzritterstaat, als Geschöpf von Sykes-Picot – und nicht als das, was es eigentlich ist: nämlich ein majoritär von Orientalen bevölkerter orientalischer Staat mit einer semitischen Amtssprache und einem semitischen Glaubensbekenntnis. In Wahrheit ist Feindschaft zwischen einem Palästinenser und einem Israeli historisch-ethnisch in etwa so „sinnvoll“ wie die Feindschaft zwischen einem Schwaben, Badener oder Rheinländer und einem Franzosen.

 

Die Juden wurden in der Shoa wegen ihrer Orientalität ermordet

 

Der arabische Antisemitismus, der in Wahrheit in Antijudaismus ist, macht mich traurig, weil er so überflüssig ist. Ihm fehlt jede rassistische und im Grunde auch religiöse Grundlage. Seine einzige Motivation ist nationalistisch, und Nationalismus ist erstens etwas vollkommen Unorientalisches und zweitens im Zeitalter der Globalisierung restlos überholt. Juden und Araber sind Brüder, genauso wie Syrer und Tunesier, Marokkaner und Iraker sich automatisch mit „Akhi“ anreden. Wer jüdische Deutschrapper wie Ben Salomo oder Sun Diego hört, fühlt diese Verwandtschaft sofort.

 

Die Juden in Auschwitz, Riga und Treblinka wurden als Orientalen gedemütigt, gefoltert und ermordet. Sie sind den Blutzeugentod gestorben für ihre Orientalität, dafür, dass sie auch nach zweitausend Jahren der Diaspora ihre Bindung an ihre Heimat an der Levante nicht aufgegeben hatten; dass sie die orientalische Sprache, das Brauchtum, den sehr persönlichen, sehr unnordischen Glauben an Eloah bewahrt hatten, ob nun als „Fetzentandler im Kaftan“ im galizischen Brody oder als bourgeoise Oberschicht im Faubourg Saint Germain, in Charlottenburg oder in Ferrara.

 

Viel eher als eine jüdisch-christliche gibt es eine jüdisch-arabische Gemeinschaft

 

Die Schergen der SS hatten sie alle wieder gleichgemacht. Nicht so sehr, weil jüdische Oberschicht mit nichtjüdischer Oberschicht unter einer Decke steckte und gemeinsam Geschäfte und Politik machte („Weltjudentum“); sondern weil Juden Orientalen waren und ein Orientale eben niemals zur edlen weißen Rasse gehören konnte. Ein schmutziger Orientale konnte ja nicht einmal mit einem schlichten deutschen SS-Rottenführer-Proleten aus Schlesien oder Westfalen mit Volksschulabschluss gleichziehen; da sollte er sich ja nicht einbilden, auf einer Ebene mit den Balfours oder Guermantes oder Hohenlohes dieser (westlichen) Welt zu stehen. Dieser „Hochmut“ – und um den ging es – sollte den Juden ausgetrieben werden, bestialisch, mit sadistischer Brutalität, die weit über ihre physische Vernichtung hinausreichte.

 

Das sollten wir im Westen nie vergessen. Es ist bequem, in Berlin, Paris oder New York von jüdisch-christlicher Tradition zu sprechen, wenn man sich selbst vorgaukelt, Juden sähen typischerweise wie Gwyneth Paltrow oder die Kushner-Brüder aus. Nun sieht Gwyneth Paltrow (deren Urgroßvater freilich weißrussischer Jude war) aber eben wie eine „aryan goddess“ aus, die schon vor hundert Jahren jeder Marlborough oder de la Rochefoucauld oder Henckel-Donnersmarck trotz strengster katholischer oder anglikanischer Familientradition bereitwillig geheiratet hätte. Das eigentlich Jüdische aber ist eben orientalisch – und steht ergo dem Muslimischen, Arabischen tausendmal näher als dem Weiß-Angelsächsisch-Protestantischen. Viel mehr als eine jüdisch-christliche gibt es eine jüdisch-arabische Gemeinschaft.

 

Juden als Speerspitze des Orients in der westlichen Welt

 

Wir im Westen täten meiner Meinung nach besser daran, diese jüdisch-arabische Gemeinschaft zu betonen, anstatt auf einer reichlich konstruierten christlich-jüdischen Identität herumzureiten, die es so nie gegeben hat und die eine Erfindung des Philosemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg ist (wir dürfen nicht vergessen: nicht nur wir Deutschen als Tätervolk, auch Engländer und US-Amerikaner fühlten sich nach 45 schuldig, weil sie viel zu wenig zur Rettung der Juden unternommen hatten).

 

Und auf der anderen Seite sollen und müssen wir die muslimische Welt daran erinnern, dass die Juden nicht ihre Antipoden, sondern ihre Schwestern und Brüder sind. Dazu gehört freilich Mut: der Mut des Westens, sich ins eigene Knie zu schießen und die Front in den Köpfen nachträglich wieder zu begradigen, die im Namen westlicher Erinnerungspolitik künstlich verzogen wurde: denn diese Front verlief eben nicht zwischen den Arabern und der „christlich-jüdischen Wertegemeinschaft“; sondern zwischen der orientalischen Welt einschließlich der Juden auf der einen und der westlich-nordischen Welt auf der anderen Seite.

 

Der westliche Philosemitismus stellt die Juden und Israel nur zu gerne als Speerspitze des Westens gegen den unzivilisierten, islamischen Orient dar; doch damit vertieft er – unwissentlich und ganz sicher auch wissentlich – die Kluft zwischen dem Westen und dem Orient und vor allem die Kluft zwischen Juden und Moslems. In Wahrheit aber sind und waren die Juden die Speerspitze des Orients in der westlichen Welt. Dieser Gedanke einmal in die Köpfe der Muslime gepflanzt, und der israelisch-arabische Konflikt ist seiner Lösung einen entscheidenden Schritt näher – und der arabische Antijudaismus vielleicht schon bald Geschichte.

 

Berlin, April/Mai 2018. © Konstantin Johannes Sakkas. Header: eine Muslimin verdeckt den Judenstern einer Jüdin, Sarajevo, nach April 1941. Quelle: forward.com

 

Dieser Text erschien in dieser Fassung im März 2019 in der „Islamischen Zeitung“: https://www.islamische-zeitung.de/judentum-islam-und%E2%80%88orientalitaet/

 

 

Castel del Monte und Sanssouci oder Die beiden Friedriche. Historisches Fragment

Der Staufische und der Zollernsche Friedrich, Federico Secondo und der Große König, das Kind von Apulien und Europas verlorener Sohn: gegensätzlich nicht unbedingt, aber unterschiedlich, zueinander unbezogen scheinen diese beiden allerdings dazustehen, umso mehr, da die Geschichtswissenschaft, die deutsche wie die europäische, beide nie in den Kontext, in die Beziehungs zueinander gerückt, in welche sie gehören, sie dagegen stets separat und als Kinder ihres jeweils eigenen Zeitalters betrachtet. Zwischen der Geschichte des Mittelalters und jener der Neuzeit verläuft in der Geschichtswissenschaft, der deutschen, sehr strengen zumal, ein tiefer Graben, seit die moderne Geisteswissenschaft Abschied nahm von dem universellen und universalhistorischen Anspruch, mit dem sie einst in die Welt trat. Eine vergleichende Betrachtung, eine Parallelbiographik über die Zeitalter hinweg konnte so nie stattfinden, und wo sie es doch tat, zog sie sich den Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit zu, der Illegitimität.

Derlei Vorbehalte interessieren hier freilich nicht. Uns geht es um Wahrheit. Hat die Postmoderne unter dem Diktat der Richtigkeit, welche ein Pragma, kein Dogma ist (denn ob ein elektrischer Anschluss richtig steckt, eine elektronische Datenübertragung richtig abläuft, bewahrheitet sich nicht, sondern zeigt sich schlicht), hat nun die Postmoderne unter jenem Diktat das Fragen nach Wahrheit auch verlernt; so ist darum die Wahrheit selbst nicht aus der Welt. Statt der Naturwissenschaft, der königlichen Wissenschaft, sinnlos nachzueifern, an deren Pragmatik der Richtigkeit sie stets wird scheitern müssen, sollte und müsste die Geistes- und ionsbesondere die Geschichtswissenschaft vielmehr wieder den weg der Wahrheit gehen, die Suche nach der Wahrheit annehmen. Das schließlich ist ihre Aufgabe bei der Vorbereitung politischer und religiöser Theorie, welche wiederum das Politische, gestern wie heute, bestimmen und welche durch die Arbeit von Presseagenturen, Think Tanks, Medien und Bloggern in die Welt hinein gegeben werden. –

Beide, der staufische wie der preußische Friedrich, waren Reizfiguren, Spalter, nicht Versöhner, zu ihrer Zeit und über ihren Tod hinaus. Beide waren zudem Heimatlose – eine Kondition, die der eine durch exzessives, wenn auch durch sein Regentenamt motiviertes Reisen zu temperieren suchte, während der andere, wiederum einer Gepflogenheit seiner Zeit folgend, sich für sein Herrscherleben auf das Territorium des ihm zugefallenen Königreichs zurückzog und dies nur, ausgerechnet, zu kriegerischen Zwecken dann und wann verließ. Des preußischen Friedrichs einzige Auslandsreise führte den frischgebackenen achtundzwanzigjährigen König im Sommer 1740, inkognito, versteht sich, nach Lothringen, das älteste und auch rangälteste Stammland des Heiligen Römischen Reichs, dessen Glied seine brandenburgische Markgrafschaft und damit auch er waren, ein Land freilich, das soeben den Regenten gewechselt hatte und nun, wenngleich für eine gewisse Dauer noch formaliter unabhängig, zu Frankreich gehörte.

Friedrich, der Staufer, das sagt schon sein „apulische“ Beiname, war nicht einmal dem Namen nach der Deutsche, als den man ihn politisch-historisch zweifelsohne ansehen darf und muss. Der Sohn eines schwäbischen Fürsten und einer italienisch-normannischen Prinzessin, der Tochter Rogers des Zweiten von Sizilien und somit Großnichte Robert Guiskard, jenes aus Frankreich nach der Halbinsel verschlagenen Desperados, der dem Kaiser Romanos IV. Bari, Byzantions letzten italienischen Stützpunkt, wegnahm, dieser Frau, Konstanzes von Sizilien Sohn also verbrachte die meiste Zeit seiner Herrschaft wiederum, trotz seines Deutschtums, außerhalb der Grenzen des Reiches, vorwiegend in Italien, wo er auch geboren war. Dessen Süden, der Mezzogiorno, Sizilien war damals das Phantasien, das Märchenland des Okzidents, in etwa jenes Land, welches später die beiden Amerikas werden sollte und von dem es im Zauberer von Oz heißt, es müsse irgendwo hinterm Regenbogen liegen.

In diesem phantastischen Landstrich, der siebenhundert Jahre lang, von jenem zweiten Roger bis zum Zug der Tausend Garibaldis im neunzehnten Jahrhundert, ein sonderbares eigenständiges Königreich bildete und der sich doch nie in eine reguläre Staatlichkeit nach nordeuropäischem Vorbild finden konnte, baute sich der Kaiser Friedrich sein eigenes Märchenschloss mit dem stolzen Namen Castel Del Monte, Bergschloss, was stets ein wenig wie Castel del Mondo klingt, wie Burg der Welt. Der Welt, dem Weltganzen Burg, Geborgenheit bieten, es bergen wollte der schwäbisch-fränkische Mischling, dessen Stammburg Hohenstaufen, im malerischen Filstal nahe Göppingen gelegen, noch innerhalb der Grenzen des alten Limes fiel, die zugleich die Grenze zwischen der alten römisch-keltischen und der neuen, slawisch-germanischen Zivilisation auf dem Gebiete Deutschlands markieren. Er, Friedrich, war noch ein Kind des Limes, war ein Schwabe, ein Sohn Roms, und indem es ihn nach Sizilien zog, zog es ihn an die äußerste Spitze des weströmischen Reiches, dessen Nachfolge sein Vorgänger auf dem Thron zu Aachen, der große Karl, Papst und Kaiser einst abgetrotzt hatte (genauer: der griechischen Kaiserin Irene der Athenerin, welcher sophistische westfränkische Hofgeistliche sinnigerweise die Befähigung zum Kaiseramt und zur Nachfolge Augustus’ und Konstantins absprachen).

Die Geschichte Siziliens ist die Geschichte eines geographisch-politischen Zwitters. Es nimmt während der klassischen Periode im Altertum die Stelle als Bindeglied zwischen Ost und West ein (wobei der Osten damals der zivilisierte, der Westen der wilde Teil des Mittelmeerbeckens war), die im Großen Kleinasien einnahm als Bindeglied zwischen dem Orient, dem Land Sumers, Babylons und Ägyptens, und dem minoisch-mykenischen Westen, aus dessen Anfängen nach dem Fall Trojas langsam erst eine Hochkultur herausschälte, wie sie im Osten bereits zweitausend Jahre lang bestanden hatte.

Dieses Sizilien behielt seine Mittlerrolle auch über den Fall Westroms, die gotische Landnahme, die Wiedereinsetzung der griechischen Herrschaft durch Justinian und Herakleios und schließlich die beginnende arabische Invasion hinaus. Früh, noch als Kleinkind, erbte Friedrich die Krone Siziliens, nach dem Tod seines Vaters Heinrich im Jahr 1197. Früh sah er sich zerrissen zwischen der deutschen Pflicht und dem italienischen Frohsinn, zwischen der mühseligen, kleinschrittigen Regentenarbeit im Reich und der leichtfüßigen, genialisch hingeworfenen, aber eben auch bequem vom großen Welttheater abgeschatteten Herrscherberuf auf der Insel.

Friedrich, ein großer Weltsüchtiger, früh Waise, früh isoliert, sofort hingeworfen auf Überlebenskampf, auf die Macht fixiert um des bloßen, physischen Fortbestandes willen, viele Frauen verbrauchend, war nun, wie alle Weltsüchtigen, zugleich ein großer Weltflüchtiger. Sein Oz war Sizilien, seine Insel der Seligen war es, sein Camelot.

Camelot! Überhaupt Camelot! Wenn es ein deutsches Camelot des Mittelalters gab, dann dies, Castel Del Monte, das Märchenschloss, in dem der Falkner und Briefeschreiber, in so vielen Sprachen gewandt wie kaum einer seiner barbarischen Zeitgenossen, seinen Traum vom eu zen, vom gut leben lebte, ihn auslebte und darüber sich mit der Welt, die ihn nicht verstand, nicht verstehen wollte und konnte in ihrer unendlichen, idiotischen Plattheit, zerkrachte. Zweimal exkommunizierten ihn ein alter, bärtiger Mann in Rom, dieser Kloake des Mittelalters, dieser zum Dorf heruntergewirtschafteten ewigen Stadt, die doch nur ein ewiges Ghetto war, zerrissen und zerschossen von den ewigen Sippenfehden seiner Patriziergeschlechter, die Raubritter im Gewande von Stadtbürgern waren! Zweimal warf der affige alte Mann, der sich in die Toga der Quiriten von einst kleidete und einen lustigen Hut mit drei statt, wie beim Kaiser, nur einem Reifen auf dem Haupt trug, den Bannstrahl auf ihn, auf Federico, den Herrn der Welt und stellte ihn auf eine Stufe mit Vogelfreien, mit Wilddieben, Häretikern und kräuterkundigen Huren, auf die Schandpfahl und Scheiterhaufen warteten. Das ihm, dem Kaiser, dem Herrn der Welt, dem stolzen, ja sogar einzigen Träger des Kaisertitels!

Dem einzigen, ja. Friedrich war keine zehn Jahre alt, da stürmten deutsche und französische Ritter das schöne, stolze Konstantinopel, dieses prächtige und zugleich irgendwie doch wunderliche Relikt einer längst vergangenen, untergegangenen Zeit, plünderten es aus und trieben, angestachelt vom venezianischen Dogen Enrico Dandolo, einem hasserfüllten alten Männlein, ihren Mutwillen mit den reichen Gütern und den stolzen Menschen dieser Stadt, der Kapitale der christlichen Welt. Einen Kaiser, der tatsächlich regierte, hatte dieses Kaiserreich der Römer, das erst eine spätere Zeit Byzanz nannte, da schon nicht mehr, und so konnten sich die fränkischen Herren dort installieren und ein eigenes, das lateinische Kaiserreich ausrufen.

Es gehört zu jenen Zufällen der Geschichte, die eben keine Zufälle im herläufigen, idiomatischen Verständnis des Wortes sind, dass Friedrichs des Zweiten Regierungszeit ausgerechnet in jene Epoche, jenes halbe Jahrhundert fällt, in dem der byzantinische Thron vakant war. Von 1205 – da war der kleine König von Sizilien gerade elf Jahre alt – bis 1261 – da war er gerade elf Jahre tot – regierte im einst so stolzen Konstantinopel der Graf von der Champagne und seine Verwandten und deren Nachkommen, während die byzantinischen Geschlechter sich neue, kleine Reiche, freilich mit den alten wohlklingenden Titeln installierten, die Laskariden in Nizäa, die Komnenen in Trapezunt. Ein Ostrom gab es in dieser Zeit, trotzdem der Kaiser in Nizäa als sein Prätendent auftrat, faktisch nicht, und so konnte der Staufer sich in der Tat als Herr von Osten und Westen, als Kaiser des gesamten Römischen Reiches fühlen.

Das hatte es seit Justinian, der das alte Reich durch die schwererrungenen, blutigen Siege über die Goten im sechsten Jahrhundert nochmals, das letzte Mal, geeint, der sogar Nordafrika wieder an dieses Reich herangeführt hatte, nicht mehr gegeben. Der italienische Westen ging dem byzantinischen Kaisertum in den nächsten Jahrhunderten verloren, und Karls des Großen Kaiserkrönung durch Papst Leo am Weihnachtstage des Jahrs 800 vollendete beziehungsweise remanifestierte, was mit dem Fall Westroms an die Thüringer vierhundert, oder auch schon mit der Diokletianischen Reichsteilung fünfhundert Jahre zuvor schon eingetreten. Ohne es direkt beabsichtigt zu haben, ohne darin eingebunden zu sein, ein Kind, das er damals war, hat der König-Kaiser Friedrich geschafft, ja: bereits fertig vorgefunden, wovon die Kaiser vor ihm, die Kaiser der Kreuzzugszeit stets nur geträumt hatten: ein legitimes Gesamtkaisertum über Okzident und Orient, von Lothringen und dem Arelat tief im heutigen Frankreich bis hin nach Anatolien und Jerusalem.

Friedrich war es denn auch, der den Jerusalemer Königstitel, der bei der Familie Montferrat gelegen, über deren Erbin Jolanda von Brienne, seine zweite Frau, ins Titelregister der römisch-deutschen Könige und Kaiser hineinholte. Über ihn, den Staufer, über seine Ehe mit der jungen, hübschen Königin ging dieser höchste Titel der Christenheit über ins Erbe der habsburgischen, dann bourbonischen Könige von Spanien und der habsburgisch-lothringischen Kaiser von Österreich.

Die Herrscherjahre Friedrichs sind wie ein Vakuum zwischen hohem, „klassischem“, und spätem Mittelalter, wie ein Zwischenakt zwischen der alten Ritter- und der jungen Städtezeit, zwischen dem ungeschliffenen, aber mythenumrankten Barbarentum der romanischen und dem immer feineren, aber auch schwermütigeren und neurotischeren Chiliasmus der gotischen Epoche. Der Renaissance des zwölften Jahrhunderts ließ der Staufer seine eigene Renaissance folgen. Die Bücher der antiken Weisheit, der durch die Griechen gesammelte und konservierte Schatz des alten Orients, dieser Gral des europäischen Geistes lag offen und entsiegelt vor ihm, dem Gebieter über Trinakria, die alte Magna Graecia, das Einfallsgebiet der Sarazenen und verlorene Exarchat der Byzantiner, von wo aus er, im unmittelbaren Umfeld jäh und mühelos durchregierend mit harter Hand und brutalem, aber packendem Griff, Schriftverkehr pflegte mit dem Kaiser, dem andern Kaiser, den es ja doch irgendwie gab, in Nizäa, der alten, ehrwürdigen Konzilsstadt, Geburtsstätte der christlichen Riten, und mit dem arabischen Sultan. Mit letzterem, dem Ayyubiden Al-Kamil (die osmanischen Türken traten erst ein halbes Jahrhundert nach Friedrichs Tod die Herrschaft an), schloss Friedrich gar einen Friedensvertrag, zu Jaffa im Jahr 1234, was ihn in den Augen der beharrenden, phantasielosen römischen Kirche vollends zum Antichristen stempelte.

Weltlos wirkt er auf uns, viel weltloser als sein Großvater, der erste Friedrich, der den Enkel auf vorhersehbare Weise im neunzehnten, geschichts- und weltbewussten Jahrhundert aus der kollektiven Erinnerung, aus der staufischen Mythe verdrängte. Der da im Kyffhäuser im Thüringer Sachsenwald, hoch über der Bauernkriegsstadt Frankenhausen thronend sitzt und der Wiederkehr harrt: den zweiten, andern Friedrich meinten sie ursprünglich damit, nicht den ersten, rotbärtigen, den teutschen Biedermann, der, obwohl auch gebannt und Begründer des staufischen Kampfes gegen die Kirche, pflichtschuldig, wenn auch nicht heldenhaft den Kreuzfahrertod starb, als er 1190 im Kalykadnos ertrank, dem kleinasiatischen Strom, in dem badend sich einst schon der große Alexander beinahe den Erkältungstod geholt hätte. Bis dahin, bis zur Moderne, die mit dem ungreifbaren, unnachweisbaren Mittelalter ihre Schwierigkeiten hatte, meinte das Volk nicht diesen, sondern jenen, den Halbitaliener, den Apulier und Normannen, hellhaarig vielleicht auch er, aber ganz anders in seiner Art und seinem Wesen, wenn es vom großen Kaiser sprach, der wiederkehren würde, das Reich aufzurichten, das es nicht mehr gab.

Gegenüber diesem großen Weltlosen, diesem Napoleon des dreizehnten Jahrhunderts, dessen Leben eines Stendhal würdig gewesen, nimmt sich der Chevalier de Brandenbourg, Frédéric le philosophe, langweilig und bieder aus. Das ist freilich nicht dem Menschen Friedrich geschuldet, nicht seinem Charakter, sondern seinem Schicksal. Der Geschichtsgang Europas hatte die Schwelle zu Resignation und zu Schwermut bereits überschritten, als Prinz Friedrich von Preußen an einem Sonntag im Jahr 1712 zur Welt kam. Er hatte im Haus den Wassermann, der Staufer den Steinbock. Noah und Amalthea, der Weltertränker und die Götteramme, hier Luft, dort Erde in der Sonne: widersprüchlich, gegensätzlich sind beide Typen einander, und doch verbindet sie das Nervöse und Unstete, die Unruhe und die Hast: äußerlich diese beim Preußen, innerlich beim Staufer. Dieser ein Getriebener, der sich mit den Grenzen, die sein Zeitalter ihm mannigfaltig zog, nicht abfand und sein gewalttätiges Genie darein investierte und darin verbrauchte, diese Grenzen niederzureißen; jener ein Gehetzter, der sich gern mit der bequemen Rolle des Prinzgemahls und englischen Statthalters im ruhigen, beschaulichen und damals schon sehr aristokratischen Hannover beschieden hätte, dem aber durch das Zeugungsorgan des Vaters und den vorzeitigen Tod zweier älterer Bruder das Schicksal vorschrieb, König zu werden, und zwar König eines kleinen, schwachen und noch aufstrebenden Staates, eines Staates, der ganz am Anfang stand und dessen Mission es war, das römische Kaisertum, das in der Hand des Erzherzogs Karl, seines Namens der sechste Erwählte Römische Kaisers, lag, zu beerben. Dieser Karl übrigens war – eine eigenartige Form, wie translatio imperii sich manifestiert – der Taufpate des Prinzen Friedrich, der mit vollem Namen Friedrich Karl, nicht, wie sein Vater, Friedrich Wilhelm hieß, und sein Tod am 20. Oktober im Jahr des Heils 1740 leitete die Epoche Friedrichs ein und die Epoche der Großen Politik in Deutschland.

Friedrich heißen wollte dabei der eine so wenig wie der andere. Federico und Frédéric, so hießen sie sich selbst und ihrem nahen und fernen Umfeld ein Leben lang, und in ihrer beider Fall war es erst die glorifizierende Nachwelt, genauer: die Nachwelt des neunzehnten Jahrhunderts und des aufkommenden deutschen Nationalgefühls, die aus Federico il falconiere und Frédéric le philosophe, die aus dem Welschen und dem Französling deutsche Helden machten.

Es liegt hier eine Besonderheit des deutschen Geschichtsgangs, der zugleich verweist auf die Besonderheit der deutschen Territorialität, dass nämlich seine Größten der eigenen Nation, um die so viel Aufhebens gemacht wurde in unserer, in der deutschen Geschichte, entweder nicht ganz angehörten, oder sich ihr nicht ganz angehörig fühlten. Karl der Große war vielleicht mehr Deutscher als Franzose, aber vor allem anderen Franke (dies so sehr, dass die regimekonforme Geschichtswissenschaft des Nationalsozialismus, wie etwa Wolfgang Venohr in seinen Memoiren berichtet, ihn explizit als „Karl den Franken“ oder „Karl den Sachsenschlächter“ verschrie). Karl der Fünfte wurde in Gent geboren, hatte eine spanische Mutter und verstand sich zeitlebens als Burgunder, was schon damals keiner validen staatlichen Kategorie mehr entsprach. Schon er sprach, obzwar der Staat der Valois damals noch in der Kinderschuhen steckte und mehr als einmal um ein Haar vom großen Gegner im Süden und Osten geschluckt worden wäre, das französische Idiom besser als Deutsch und übrigens auch Spanisch. Rudolf der Andere, das verrückte Genie auf dem Hradschin, das der eigene Bruder hochverräterisch, aber unbeanstandet durch Hof und Klerus das letzte Jahr seines Lebens auf seiner eigenen Burg, ins einer eigenen Residenz in schmählichem Hausarrest hielt, fühlte als Böhme und sprach lieber Tschechisch und Spanisch als das zopfige, unorganisierte Deutsch seiner Epoche, Grenzgänger er selber zwischen dem großen, weiten und tiefen europäischen Osten und dem atlantischen Flügel des Kontinents, wie Mark Aurel stets im Sattel, die drohenden Türken zu bekämpfen, und wie jener eigentlich ein Geistesmensch, Tagträumer und Melancholiker, dabei ungeheurer sinnlich und von Geistesgaben so mannigfaltig, das das Zeitalter, wie bei Federico, nicht ausreichte, ihm Möglichkeiten zu ihrer Erschöpfung zu gewähren. Albrecht Waldstein schließlich, den Grillparzer im Bruderzwist unhistorisch auf Rudolf treffen lässt, liebte den italienischen Stil, fiel ins Italienische, sobald er, soweit er dies konnte, sein Innerstes auftat, und lebte auf seinem Friedland das Leben eines italienischen Renaissancefürsten mehr als das als eines deutschen Duodezpotentaten. Deutsch fühlte von diesen exemplarischen Deutschen keiner sich.

Auch die Preußenkönige waren erst schwäbische Fremdlinge im fränkischen Nürnberg, dann fränkische Fremdlinge in der Brandenburgischen Mark, mit der Kaiser Sigismund den Burggrafen Friedrich den Sechsten 1417 – da war die Mark wieder einmal als erledigtes Reichslehen an den Kaiser gefallen – belehnte, und später, seit dem Großen Kurfürsten, überwiegte in ihnen die welfisch-oranische Tradition, der sich im neunzehnten Jahrhundert viel wettinisches Blut beimischte. Beide, der Soldatenkönig und sein großer Sohn, hatten welfische Mütter, die in sich das Blut burgundischer, vielleicht sogar italienischer Vorfahren des späten ersten Jahrtausends trugen. Louise Henriette, die große Landesmutter des siebzehnten Jahrhunderts, war Oranierin und brachte mit der protestantischen Wirtschaftsethik auch das Orange des Schwarzen Adlerordens ins Land, das so gar nicht passen will zum martialischen Schwarzweiß des Zollernwappens, noch zum gediegenen Blau der preußischen Infanterie. Vor allem aber waren die Brandenburger und Preußen, wie alle hohen Herren ihrer Zeit, Frankophile oder doch Frankophone. Alle, auch der deutschtümelnde Friedrich Wilhelm I., sprachen sie das Idiom der Ludwige, Racines und Corneilles besser als die eigene Muttersprache. Friedrich Wilhelm IV., der verrückte Romantiker auf dem Thron, war der Erste, der öffentliches und sauberes Reden in der deutschen Sprache hoffähig machte (bis dahin war es höchstens salonfähig gewesen). Er regierte von 1840 bis 1861.

Bei Friedrich, dem Wassermann, ging die Frankophilie über ins Manische. Nichts verband den Jüngling mit dem kärglichen Vaterhaus, dem bescheidenen Dominium, das der liebe Gott seiner Familie zu Herrschaft anvertraut. Nahm der Staufer, in Jesi beim italienischen Ancona geboren und als italienischer Prinz erzogen, es bestenfalls als sportliche Herausforderung, auch in seine deutschen Länder Ordnung zu bringen (was ihm freilich nicht gelingen konnte), so war es beim Hohenzollern brennende Sehnsucht, auszubrechen aus der quetschenden Enge der lächerlich „Schloss“ geheißenen väterlichen Jagdhütten zu Caputh und Wusterhausen und englischer Prinz zu werden. Vierzehn Jahre, zwei Jahrsiebte lang zog sich der erbitterte Streit hin zwischen der welfischen, probritischen Mutter und dem brandenburgischen, Österreich und damit dem Reich zuneigenden Vater, der die Lösung der Frage am Ende mit Gewalt durchsetzte: Friedrich, sein Bruder August Wilhelm und die jüngere Schwester Charlotte Philippine heirateten Kinder des Fürsten von Bevern, Nichten und Neffen der Kaiserin-Gemahlin Elisabeth Christine. Friedrichs, des Kronprinzen, Schicksal und Zukunft als deutscher Fürst war besiegelt.

Man sieht hier bereits den entscheidenden Unterschied aufleuchten zwischen dem einen und dem andern Friedrich, zwischen Federico und Frédéric, dem Falkner und dem Hundeliebhaber, Schriftsteller sie beide, wenngleich aus gegensätzlicher Haltung heraus: den Kaiser Friedrich zwang die Unreife seiner Zeit, unter den Möglichkeiten zu bleiben, die ihm das Zeitalter der entstehenden Nationalstaaten zweifelsohne geboten haben würde. Den König Friedrich dagegen zwang genau dieses Zeitalter, in das er nämlich hineingeboren wurde, eine Rolle zu spielen und einen Platz einzunehmen, die er sich nicht wünschte und denen er sich, wie seine brieflichen und literarischen Zeugnisse mannigfach belegen, nicht gewachsen fühlte. Friedrich, dem Schiller nachsagte, von seinem Throne sei die deutsche Dichtung „schutzlos, ungeehrt“ gegangen, wäre wohl sicher ein Maecenas und Musenfürst geworden, hätte die eigene Stellung dies zugelassen. Goethes Herzog Karl August, dessen politischer Rang sich einzig ausdrückte in dem militärischen, den er nämlich beim preußischen Heer besaß (er machte als Generalleutnant den Ersten Koalitionskrieg im Gefolge Friedrich Wilhelms II. mit), konnte sich gar nichts anderes leisten als einen Musenhof, an dem das Geld gerade einmal zur mehr oder weniger auskömmlichen Bestallung klassischer und romantischer Kapazitäten reichte, aber zu mehr auch nicht. Friedrich, hineingepresst und geprügelt in die Rolle des Rektors der nordostdeutschen Streusandbüchse, musste König sein, musste ein Konzept entwickeln und dieses auch durchsetzen. Ohne es bei seinem Intellekt natürlich jemals zu sein, ging dieser König doch hinein in seine politische Biographie als ein Naivling, der für seine Naivität einen hohen Preis zahlen sollte. Dass er mit dem Einmarsch in Schlesien das Rendezvous des Ruhms gesucht habe, dessen Beiprodukt es wurde „de donner une figure à la Prusse“, seinem abgewrackten Preußen eine Gestalt, eine Rolle zu geben: diese Behauptung war, bei allem Kalkül, gewiss, weniger Mascerade, als man glauben mag.

Ein Naivling nun war der andere, staufische Friedrich nun gerade nicht. Aber, wir deuteten es schon an, seine Zeit war in gewisser Weise zu naiv, zu sehr jenseitsbezogen in dem starren, hämmernden Bewusstsein ihrer Kurzlebigkeit, ihrer Verfallenheit an Armut, Krankheit und Tod, als dass sie die Bögen und Sprünge hätte ermessen können, die der jugendliche Kaiser-König mit der Zeit und der Welt vorhatte. Friedrichs Dominium war die alte griechische Kolonie Sizilien, wo noch heute in manchen Gegenden ein griechischer Dialekt gesprochen wird, und ein Grieche, das heißt ein Orientale – denn dies ist einunddaselbe – war er im Herzen. Begierig nach der Wissenschaft und den Frauen, sog er das Wissen des Altertums, ob durch arabische Vermittlung oder in seiner reinen, griechischen Form in sich auf. Sein auratischer Lebensraum war die Levante, das östliche Mittelmeer, das alte oströmische Reich, dem er ein zweiter Justinian hätte sein können, der, gleich dem ersten, in Melfi und Capua seine Konstitutionen erließ, der Recht und Gesetz schuf, wo vorher Chaos und Willkür um sich griffen, und der im freien Walten des lebendigen Geistes in den Naturreichen den höchsten edelsten Beleg der Größe und des Genies Gottes des Allmächtigen erblickte.

Nicht nur die byzantinische Sedisvakanz, auch die Tatsache, dass Friedrich noch die arabische Herrschaft im Orient erlebte, die ihm keine ernsthafte Bedrohung war, begünstigte sein Wirken. Im Grunde zielte darauf der Bann der Päpste, erst Gregors des Neunten, der den Inquisitionsprozess einführte, dann Innozenz’ des Vierten, mit dem sich das Drama des Investiturstreits, mit dem letzten Salier einst gütlich beigelegt, wiederholte: was Friedrich der Zweite im Auge hatte, war nichts weniger als die Wiederherstellung eines kohärenten westöstlichen Reiches, von Deutschland über Reichsitalien und Sizilien reichend über Griechenland und Anatolien hinweg bis hin nach Syrien und Palästina, hinüber zu den Kreuzfahrerstaaten. Der Traum Alexanders und Cäsars und später Napoleons war auch Federicos Traum: das alte okzidentalisch-orientalische Reich wieder einigen, Europa zu ihren Wurzeln an der levantinischen Küste zurückführen, die Feuersbrunst, die von Troia, das nun Byzantion hieß, immer noch lodernd aufstieg seit zweieinhalbtausend Jahren, endlich löschen und Frieden einkehren lassen in die Länder rings um das große Becken zwischen Gibraltar, wo die Mauren einst den ersten Schritt auf europäischem Boden getan, bis hinüber nach Ägypten, von wo Prinz Moses einst nach dem gelobten Land Kanaan aufgebrochen.

Die Wiedervereinigung des lateinischen Westens mit dem griechischen Osten, dessen wiederum östlicher Teil unter der schon wankenden Herrschaft der Araber stand (wieder einmal tat sich ein Zeitfenster auf, Schluss zu machen ein für allemal mit der Bedrohung des Orients und Europas altes Vaterland heimzuholen ins Europäische Reich): das war Federicos großer Traum. Kaum begriffen vom überspannten und kurzatmigen deutschen Stefan-George-Nationalismus, der, zwischen Römerverehrung und Germanenstolz schwankend, nicht das feinste politische Gespür besaß, stand dieser Mann in Zeitströmen, die weit zurückreichten hinter den Bann, den das bieder-spießige Sacerdotium Romanum vor dem Geschichtsbewusstsein seiner Gläubigen errichtet hatte. Dieser Friedrich wusste, dass der Westen sich stets aus dem Orient heraus erneuert hat, so wie der Makedone Alexander nach Hyrkanien und Persien fuhr, um sich mit Roxane und Stateira zu paaren; so wie Caesar nach Ägypten ging, Kleopatra unterwarf und mit ihr die größte, berauschendste Wonne erlebte, die ein König und eine Königin wohl je miteinander erlebten. Und noch die späten Römer der Gotenzeit riefen in ihrer Not – Felix Dahn und der deutsche Professorenroman wollten es freilich anders haben – den Kaiser in Konstantinopel, der Nova Roma, zu Hilfe, der ihnen Belisarius und Narses schickte, die sie endlich von der Pest aus dem Norden befreiten. Friedrich von Sizilien wollte das alte Eurasien, wollte Asien und Europa einen. Den Titel Römischer Kaiser nahm er ernster, radikaler als alle seine Vorgänger und Nachfolger, den schwermütig-genialischen Karl den Fünften und seinen vollends indolenten, aber genialen Großneffen Rudolf vielleicht ausgenommen.

Derlei Pläne trug Frédéric le Pfilosophe, wie der Sechzehnjährige in hübscher orthographischer Unbeholfenheit gegenüber der drei Jahre älteren Schwester notifizierte, nicht mit sich herum. Es war nicht mehr die Zeit der gekrönten Theokraten – der erste staufische Friedrich hatte gar noch Karl den Großen durch den von ihm eingesetzten Gegenpapst heilig sprechen lassen –, sondern die der Philosophenkönige. Ein Männerbund war im dreizehnten Jahrhundert nur möglich als Brieffreundschaft wie die zwischen dem Kaiser und seinen arabischen Freunden, im Zeitalter des Barock aber sammelte man sich in Fruchtbringenden Gesellschaften, bald sogar in Freimaurerlogen, die bewusst an die große Zeit des Mittelalters, eben die Epoche Federicos, anknüpften und die neben Fürstlichkeiten, auf welche die Gesellschaften der Renaissance und des siebzehnten Jahrhunderts noch beinahe ausschließlich ausgerichtet gewesen, auch gewöhnliche Adlige, ja sogar schlichte Bürgersleute wie Monsieur Arouet immer häufiger in ihre Kreise rezipierten.

Mit der Demokratisierung des Denkens und des gegenseitigen Austausches wurde aber zugleich das, worauf dieser Austausch sich bezog: wurden die Leiber demokratisiert: die der Menschen und die der Staaten. Es ist vielleicht ein notwendiges Erzübel der Geschichte, dass die Höhepunkte der Geistigkeit nicht eben zusammenfallen mit passenden territoriellen Bedingungen. Die Griechen der attischen Demokratie, die wir uns als ein Volk von Hochbegabten vorstellen mögen, wären vielleicht dazu berufen gewesen, mit ihrem Geist den Erdkreis zu beherrschen; allein dieser Erdkreis, jedenfalls Griechenland, mit dem es ja hätte beginnen müssen, war in seiner Struktur nicht ausgelegt auf kohärente Herrschaft. Die intellektuellen Zirkel des frühen und mittleren achtzehnten Jahrhunderts, die die Sattelzeit in Deutschland, das Empire in Frankreich, die Regency in England vorbereiteten, diese drei fruchtbarsten Kulturepochen der neueren europäischen Geschichte: sie hatten alle geistigen und moralischen Mittel und Eignungen an der Hand, aus dieser Welt eine bessere zu machen, Prinz Friedrich mit seinem heißblütigen, emphatischen Antimachiavel war der beste Proband hierfür; jedoch, diese Welt hatte sich lange schon, seit den Erschütterungen zwischen der großen Pest im vierzehnten Jahrhundert und den Türkenkriegen zweihundert Jahre darauf, darauf eingestellt, sich selbst verbessern zu müssen, von einzelnen großen Individuen oder ihrer Peergroup nichts erwarten zu können und nichts erwarten zu dürfen. Die Länder und Völker, genauer: ihre Seelen – denn auch das Unbeseelte hat seine eigene Animalität, wie der tote Putz, der dennoch von den Wänden bröckelt –, sie hatten längst ihre eigene Dynamik entwickelt. Den großen Herrschern, die sie, die Völker, im Mittelalter gehabt haben mögen – Federico war der größte unter ihnen, für die abgeklärte Postpostmoderne ohnehin nicht mehr fassbar –, war die Zeit damals nicht reif; nun, fünfhundert Jahre später, waren die Herrscher, war das Herrschertum der Zeit nicht mehr reif. Es hatte sie überlebt.

Friedrich von Brandenburg, dem es mit seinem Antimachiavel ja genau darum gegangen war: zu zeigen, dass er die Welt mitgestalten konnte und wollte, und weniger darum, moralische Grundsätze auszudiskutieren, spürte dies, die Überreife von seinesgleichen, als Erster und mit der ganzen tragischen Härte, die den Schicksalen Zuspätgekommener eignet. Sein politisches Leben war denn auch wenig anderes als der späte Nachvollzug eines altertümlich-mittelalterlichen, heroischen und sich aufstemmenden Heerkönigtums, das in seiner Zeit längst überholt war und das er in einer Mischung aus Narzissmus und Melancholie ein letztes Mal verewigte in den Büsten der Adoptivkaiser, fein säuberlich herumgruppiert um sein Landschlösschen Sanssouci, ein eingeschossiges, architektonisch eigentlich unmögliches (die Frontfassade ist eher eine Farce), dabei höchst charmantes bauliches Zeugnis aus der Spätzeit des heroischen Zeitalters. Unter dem Druck und Eindruck einer fatalen Erziehung zur Selbstverleugnung und Selbstüberwindung stürzte er sich in das schlesische Abenteuer, von dem er nicht ahnen mochte, dass es Herzstück zweier ganz anderer Abenteuer werden sollte, die das Schicksal Europas und der Welt verändern sollten: des Österreichischen Erbfolgekrieges zwischen Frankreich und Österreich und des Siebenjährigen Krieges zwischen England und Russland.

Es ist ein zwischen heroischem männlichem Aufbäumen und trotziger pueriler Verweigerung changierendes Schicksal, das sie beide, Frédéric und Federico, miteinander verbindet und wiederum voneinander scheidet. Die Verweigerung des Staufers war Resistenz gegen Kritik, die des Zollern Resistenz gegen das Politische selbst. Und wo dieser sich aufbäumte gegen das, was er als Leid empfand („Quando avrà fine il mio tormento?“) und was die patriotische Schule der Fontane, Molo und Venohr folgsam als Passion erzählten, da bäumte jener sich auf gegen Prinzipien, die er als unsinnig, falsch oder unangemessen betrachtete. Friedrich von Hohenzollern hätte überhaupt darauf verzichtet, irgendein Prinzip zu haben, hätte man ihn dafür von der Bürde des Königtums, diesem überholten Tand, erlöst. Es war schon damals die Zeit der Kriege und Epopöen nicht mehr, und nur die Ohnmacht der Völker duldete fürstliches und dann diktatoriales Heroentum noch für eine Weile, bis 1945 auch damit Schluss war. Ein hoher Bundeswehrgeneral illustrierte einen Vortrag, den er 2003 in der Berliner Preußischen Gesellschaft zur Lage im Kosovo hielt, mit dem in Jugoslawien aufgenommenen Screenshot eines Graffitos, das die Liedzeile zeigte: We don’t need another hero. Eine bittere Pointe an einem selbsternannten Hort des Heroischen.

Bei alldem verwundert es umso mehr, dass der Preuße, nicht der Staufer der Wirksamere von beiden war. Friedrichs des Andern, des Erwählten Römischen Kaisers Reichsidee scheiterte, kaum dass er ihre Verwirklichung unternommen hatte. Sein eigenes, deutsches Reich erlitt unter seiner Regierung den entscheidenden Knick in seiner Verfassungsgeschichte, festgeschrieben in den beiden Staatsgrundgesetzen, der Konföderation mit den geistlichen Fürsten, erlassen in Stellvertretung des Kaisers durch seinen Sohn Heinrich, 1231, und dem Statutum in favorem principum ein Jahr darauf. „Übergang des Reiches vom Stammes- zum Territorialverband“, ist die lexikalische Standardformel hierfür. Tatsächlich markierten sie den Beginn des deutschen Sonderweges und den partikularistisch, heute sagte man: liberal motivierten Verzicht darauf, die große, glänzende weltpolitische und weltgeschichtliche Rolle zu spielen, die dem Land zwischen Rhein und Oder zugedacht gewesen und die sein italienischer Kaiser mehr als jeder andere vor und nach ihm vor Augen und im Sinn hatte.

Das Reich zerfiel zum Partikularstaat, das ostwestliche Imperium, das europäisch-asiatische Großreich wurde nicht verwirklicht; stattdessen traten westmongolische Reiterhorden anstelle der derweil gräcisierten, verfeinerten levantinisch-ägyptischen Araber, mit denen der Kaiser sich so gut verstand. Das Papsttum distancierte sich weiter vom Kaisertum und manövrierte sich selbst damit in the long run ins Schisma (Friedrichs Epoche war auch die Epoche der aufkommenden großen spätmittelalterlichen Häresien, der Katharer und Waldenser und der ritterschaftlichen Geheimbünde, der Deutschordensherren, der Johanniter und der Templer, und sie alle waren nach Osten gerichtet: die Templer in Jerusalem, die Johanniter auf Rhodos, die Deutschen in Kurland und Semgallen). Sizilien fiel achtzehn Jahre nach Friedrichs Tod an die Franzosen, kam allerdings später über den aragonesisch-habsburgischen Umweg an Kaiser und Reich zurück, bis es ihm das nunmehr bourbonische Spanien 1735 endgültig entriss.

In einem allerdings war Friedrich politisch auf weite Sicht ungeheuer wirksam: als er 1226 die goldene Bulle von Rimini erließ, worin er den Deutschen Orden einsetzte in die Herrschaft über das Land der heidnischen Prußen, das Land, das nachmals „Preußen“ heißen, nach Tannenberg in einen polnischen und einen deutschordensherrlichen Teil zerfallen, welch 1618 an Kurbrandenburg kam, bis das Ganze 1772 wiedervereint an die nunmehrige preußische Krone fiel, die ihre Münzen nun nicht mehr auf den rex Borussorum, sondern den rex Borussiae prägen ließ. Die Geburtsstunde Preußens fand im friderizianischen Rimini statt, und es war, wie sich zeigen sollte, die Geburtsstunde des modernen Deutschland. Dass dieses alte heidnische, dann durch ärarische Zisterziensermönche und abgehärtete ritterliche Geheimbündler preußische Land an der Weichselmündung heute nicht etwa zu Polen, sondern, garantiert durch die Verträge von 1945 und 1990, zu Russland gehört, ist dabei keine Ironie, sondern ein Fingerzeig der Geschichte: so wie Federico Secondo auf Byzanz als nicht mehr leuchtendes, aber strahlendes Vorbild, so blickt das heutige Deutschland auf und nach Russland.

Eine kleine genealogische Anekdote illustriert die doppelte, byzantinisch-preußische Dimension dieses geistig-politischen Erbganges: es war der Neffe des Kaisers aus seiner Ehe mit der schönen Jolante von Brienne, Philippe von Courtenay, über dessen Tochter Katharina der Titel des Lateinischen Kaisers von Konstantinopel, dem semisalischen Recht folgend, sich durcherbte über die Häuser Valois, Burgund und Kleve bis zu jener schicksalhaften Ehe zwischen Maria von Jülich und Berg mit dem armen, von Gott und der Welt verlassenen Herzog Albrecht Friedrich von Preußen, dem sie vier Töchter schenkte, darunter Anna, die Gemahlin des Kurfürsten von Brandenburg Johann Sigismund wurde und so den einst so glorreichen, märchenhaften Titel des Kaisers von Byzanz, den höchsten Rang, den die fränkischen Kreuzfahrer seit den Tagen Gottfried von Bouillons errungen haben, in die Familie der Kurfürsten von Brandenburg, Könige in Preußen und schließlich Deutschen Kaiser brachte. Als sein Vater am 31. Mai, schon in Agonie, aber geistig klar bis zuletzt, auf dem Sterbebett, zitternd und schweißnass, die eigene Abdankung unterschrieb und mit brechender Stimme seinem Sohn Friedrich, dem einst so sehr gehassten und nun so sehr geliebten, die unsterblichen Worte entgegenhauchte: „Jetzt bin ich nicht mehr König!“ – da erbte dieser junge, schöne, vielgedemütigte und doch vielgeliebte Mann, hochsensibel und im Herzen voll Hochmut, mit dem preußischen Königsamt auch das längst erloschene des – Kaisers von Konstantinopel lateinischen Glaubens.

Es war ein friderizianischer Moment im doppelten Sinne. Der alte und der junge Friedrich, Federico und Frédéric, der stolze, gesund-arrogante Italiener, der eigentlich ein Normanne war, abgehärtet und doch zivilisiert durch die Mutter und den Geist der Zeit, und der weiche, schwäbische Französling, Zartheit im Herzen und gestählt erst durch die Faustschläge des Vaters, durch die Brutalität seiner häuslichen und dann politischen Erziehung, von dem Manöver in Dresden, als der Alte ihn vor Hoheiten und Exzellenzen blutig schlug wie einen Stalljungen, bis zur Nacht auf den Altarstufen von Elsnig: hier fanden sie in einem mystischen Akt der Translation zusammen, zueinander. Dass das byzantinische Regiment während seiner Herrschaft bei westlichen Geschlechtern lag – erst Lothringern, dann Kapetingern –, war mehr als nur eine passende Pointe auf Friedrichs von Hohenstaufen Römisches Kaisertum: er war der Kaiser des Ostens und des Westens, er verkörperte mit seinem Weltenschloss, dem er ungeniert einen eigentlich völlig übertriebenen, hier aber gerade einmal angemessenen Namen gab, verkörperte mit seinen Falken, diesen Symbolvögeln der Freiheit, des todverachtenden Individualismus, deren Dressur niemals ohne ihr schweigendes Einverständnis geschieht: er verkörperte die union sacrée, den heiligen Bund zwischen Levante und Westen , zwischen Griechen- und Lateinertum, zwischen dem Land der aufgehenden Sonne, in dem das Griechische auch nach Mohammed stets präsent war, und dem der untergehenden. Er, Federico Secondo, antizipierte in seinem Sein, dem politischen und dem privaten, die große, reißende, die ausgetrockneten Äcker benetzende Sturm- und Glückswelle der Renaissance, die zweihundert Jahre nach seinem Tod mit Macht auf Westeuropa zubranden sollte:

 

Vertrieben von Barbarenheeren,

Entrisset ihr den letzten Opferbrand

Des Orients entheiligten Altären

Und brachtet ihn dem Abendland.

Da stieg der schöne Flüchtling aus dem Osten,

Der junge Tag, im Westen neu empor,

Und auf Hesperiens Gefilden sprossten

Verjüngte Blüten Ioniens hervor.

 

Fridericus, der preußische Schlachtenlenker, der in Wahrheit ein mäßiger Taktiker, aber ein großer Konnetabel war und ein, paradox an diesem Schöngeist, noch größerer Soldatenvater („Alter Fritz auch gerade! Und die Stiefeln in die Höhe gezogen!“), wollte von der deutschen Literatur, zu deren Blüte er bei Rossbach, dem Hippokrene Deutschlands, den Samen aussäte, nichts wissen, und unverewigt bliebt er durch Schillers, des größten Dichters deutscher Zunge, Feder. Dabei war er selber Denker und Dichter, mehr als jeder schreibende deutsche Fürst es seit der Renaissance war, ein echter Poet und ein echter Intellektueller auf dem Thron, der mit ungespielter Wehmut dachte an seinen verfehlten Beruf:

 

Als ich geboren ward, ward ich der Kunst geboren,

die heiligen neun Schwestern reichten mir die Brust.

 

Auf und an ihn, den Künstler, hätten Schillers Verse gerichtet sein können, auch wenn er der Nachwelt nichts so Ikonisches hinterlassen hat wie Federico ihr sein Buch über die Falkenjagd. Aber das Schicksal wollte, das der Schriftsteller Friedrich vergessen ward, während die Welt, seit Stefan George und seinem Kreis spätestens, den Künstler Federico feiert:

 

Vor allen aber strahlte von der Staufischen  

Ahnmutter aus dem süden her zu gast

Gerufen an dem arm des schönen Enzio

Der Grösste Friedrich · wahren volkes sehnen ·

Zum Karlen- und Ottonen-plan im blick

Des Morgenlandes ungeheuren traum ·  

Weisheit der Kabbala und Römerwürde

Feste von Agrigent und Selinunt.

 

Stefan Georges Siebenter Ring, so sehr er sich müht, in der eidetischen Annäherung an seinen Kaiser aufzugehen, verrät doch ganz die kraftlose Dekadenz des Jugendstils, die unglaubliche Geschichtsblindheit, die damals schon in Deutschland Mode war und die zu unsinnigen politischen Konzepten wie dem Bündnis mit der Türkei 1914 führte oder dem vorsätzlich herbeigeführten Bruch mit Russland. „Volkes Sehnen“ ist ein Mann wie Federico nie, so wenig wie ein Mann wie Frédéric de Brandenbourg. Schöngeister und Gewaltmenschen, wie sie beide waren, eigenen sich vielleicht für den Thron, aber nicht für die Tribüne, schon gar nicht für die völkische. Volkstümlich jedenfalls war keiner von ihnen im eigentlichen Sinne. Die Nachwelt bestrickten sie beide mehr als ihre blasse Gegenwart, die sie als Quälgeister und Antichristen wahrnahm, besessen vom Bataillieren, von edlen Hunden und Greifvögeln und vom Bau stolzer, kostspieliger Kastelle, auf denen sie dann im vertrauten Kreis über Gott und die Welt philosophierten, sich mühsam entspannend bei rassigen italienischen Frauen der eine, bei adligen preußischen Zöglingen der andere:

 

Potsdam, o Du verfluchtes Loch!

Führst Du doch heut in die Hölle noch,

Und nähmst ihn mit, mitsamt seinen Hunden,

Da wär der auch gleich mit abgefunden.

Schont nicht Fremde, nicht Landeskinder,

Immer derselbe Menschenschinder,

Immer dieselbe, verfluchte Ravage,

Potsdam, o Du große Blamage!

 

Sicher liegt hierin das tiefere Dilemma in der Rezeption beider Männer, der populären wie der wissenschaftlichen, die insbesondere in Deutschland nach dem Muster vorgeht, das Otto von Bismarck in das lustige Bild eines Menschen fasste, der, indem er einen engen Waldweg entlanggehe, eine lange Stange der Breite nach im Mund trage. Während der Staufer so weit von uns entfernt ist, dass seine Figur für allerlei Romantizismus herangezogen wurde, so ist uns der Hohenzoller zu nah, als dass man nicht der Verführung erläge, sein Wirken und seine Persönlichkeit einzuordnen in die Kontexte von Aufklärung, Revolution und Reformen. Hier wie dort führen derlei Einordnungen nicht weiter: Beide Männer folgten einer Reichsidee, beide scheiterten an ihr. Federico wollte Camelot ins Politische übersetzen, und hatte sich als Standort dieses Camelot die alte Magna Graecia, Kornkammer des Mittelmeeres, Gefechtsstand und Beobachtungsposten ausgesucht, Trinakria, die insulare Dreifaltigkeit, auf der Griechentum, Italität und Orientalität einander die Hand reichten (dass das Griechische etwa in Georges Federico-Rezeption keine Rolle von Gewicht spielt, zeigt, wie sehr dem deutschen lyrischen Nationalismus zur Kraft die Kultur, zur stählernen Faust der Feinschliff fehlte, um in der Welt zu wirken). Frédéric dagegen wollte das Politische nach Camelot zurückführen, wollte die Büchse der Pandora der großen Politik aufgehoben wissen in seiner Gralsburg Ohnesorge auf dem Weinberg zu Potsdam, wo das Brackwasser des Titanenkampfes, der doch nur ein blutiges und schmutziges Ränkespiel ist, zurückverwandelt würde in funkelnden Wein. Doch wie dem Staufer am Ende nur mehr sein Kastell blieb, nur die Liebhaberei statt der tatsächlichen Macht: so blieb dem Preußen am Schluss statt der geliebten Liebhaberei nur die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, blieb ihm nur noch der schäbige blaue Rock, in den der Vater ihn einst gesteckt, der Sterbekittel, der durch ihn schließlich zum Symbol wurde, fortlebend noch im immer etwas bläulich schimmernden Feldgrau vom Kaiserlichen Heer des Weltkriegs bis zu den Armeen der beiden deutschen Staaten.

Königsberg und Konstantinopel: zwischen diesen beiden Polen spielt sich die Geschichte dieser beiden Männer ab. Wäre Federico als Angehöriger der Komnenen oder Laskariden geboren worden, er hätte, von der anderen Seite des Meeres kommend, vielleicht das Riesenwerk der Einigung Eurasiens vollbracht, an dem der deutsche Kaiser als geistlicher Untertan des Bischofs von Rom scheiterte, scheitern musste. Und Frédéric? Wäre als Herzog von Preußen, bis zum Großen Kurfürsten noch Lehnsmann des Königs von Polen und so verwurzelt im alten Reich und im „neuen“, östlichen Europa gleichermaßen, vielleicht glücklicher geworden, hätte das Leben eines Tempelherrn, Vorstehers eines musisch-ritterlichen Männergeheimbundes geführt, das ihm so sehr stand, ihm, dem Freimaurer und Geheimgesellschafter zu Rheinsberg, das er romantisch-antikisierend nur „Remusberg“ nannte, da hier der erschlagene Bruder des Romulus, der offenbar doch nicht erschlagen, weitab vom Mittelmeer der Legende nach ein eigenes Reich, gleichsam ein askanisches Hyperboreia begründet habe. Der Prinz von Remusberg zu Königsberg (was für ein passender Name für ein friderizianisches Camelot!), Senior des Ordens der geistigen und weltlichen Erneuerung, und der Kaiser des Ostens und des Westens, in Personalunion Patriarch der einen unierten Kirche, Gebieter über das ganze Mittelmeer von Spanien und dem Arelat bis nach Syrien und Ägypten und Erneuerer aller Reiche, von denen die europäische Menschheit je geträumt: was wäre dies für ein Gespann, was wären dies für anders große, erfüllte und märchenhafte Leben geworden!

Das Schicksal wollte es anders. So wenig Federico das europäische Reich retten konnte, das in der wackeligen Kohabitation von Aachen und Byzanz vierhundert Jahre lang bestanden hatte, so wenig vermochte der Chevalier von Brandenburg die Idee des Königtums zu retten. Drei Jahre, nachdem er auf Sanssouci den letzten Hauch tat, stürmte das Volk in Paris, das immer die Stadt seiner Träume gewesen, die Bastille, rutschte ausgerechnet Frankreich, das bewunderte Vorbild, die Krone der Staatskunst, dessen größten Sohn Arouet er, Flüchtling und Spion dieser zugleich, drei Jahre lang auf Ohnesorge beherbergt hatte, ins Chaos, in den Dreck, und sein Retter, der Griechenjüngling aus Korsika, Hauptmann Bonaparte, führte es nur aus diesem Chaos, um nach vollzogener Transition in die neue Zeit selbst wieder schmählich abzutreten vom Parkett der Weltbühne, ausgeschlossen, ausgestoßen auf das schwüle Eiland vor Afrika. Geliebt wurden sie beide, der Korse und der Preuße, aber die Liebe rettete sie nicht vor dem politischen Tod.

Das brauchte sie freilich auch nicht, denn die Liebe ist ewig, nicht nur die Liebe im Privaten, sondern auch die Liebe in der Politik. Was sehnte der kleine Prinz Frédéric sich nach Liebe, der hochbegabte, hochsensible, blutig geschlagene, gedemütigte und verfemte Princillon, als Jüngling schon vom grausamen Vater aus irgendeiner grausamen Laune heraus vom Obristen zum Fähndrich degradiert, als Erwachsener vom Reichstag zu Regensburg in die schändliche Acht getan, zur Fahndung ausgerufen wie ein Wilddieb und Brunnenvergifter, notifiziert offiziell als reichsrebellischer Markgraf, nicht als der König, der er war! Wie reich, wie überschäumend wurde sie ihm zuteil, diese Liebe, nach der er sich immer brennend verzehrt hat, er, der Weiche, Zarte, dessen Weg zum Manne ein so dornenreicher war; der diesen Weg, Taminos Ganz durchs Feuer, so krüpppelhaft und so glorreich beschritt und zuende schritt:

 

Fridericus, mein König, den der Lorbeerkranz ziert,

Ach, hättest Du nur öfters zu plündern permittiert…

Fridericus Rex, mein König und Held,

Wir schlügen den Teufel für Dich aus der Welt.

 

Größere Liebe erfuhr keiner in der neueren Geschichte der Könige und großen Männer, ausgenommen nur Kennedy, der letzte Märchenprinz auf dem Stuhl einer großen europäischen Macht (denn Kennedys Amerika war noch ein europäisches Amerika). Was hätten seine Grenadiers und Musketiers, stinkend, schwitzend, hungernd und elendiglich verreckend in Schnee und Eis, in Schlamm und Matsch ihm, dem großen Benützer, dem rasenden Egoisten und Egozentriker nicht alles vorwerfen können! Den Hunger und den Durst, die Hitze und den Frost, der ihre Hände und Füße verstümmelte, die verpesteten Pfützen, aus denen sie ihren Durst stillten, und das verschimmelte graue Brot, das sorgfältig mit den Ratten sie sich teilten, die Bajonettstiche in den Bauch, die Lungenschüsse und zerfetzten Gedärme, die zerrissenen Hoden und abgehackten Gliedmaßen, das Blut, das sie spieen, den verdorbenen Stuhl, den sie ausschieden unter höllischen Krämpfen, die zehntausend Kilometer, die sie hin- und hermarschierten in schlechten, zerrissenen Stiefeln, ohne Mantel im Winter, die nackten Hände auf dem blanken, vor Kälte klirrenden Gewehrlauf, in den sieben endlosen Jahren des Entscheidungskampfes um Schlesien, ihre Witwen endlich, die sich zergrämten, alleingelassen in der Blüte des Lebens und ausgeliefert einer harten, brutalen Welt, die Waisen, greinend und hilflos ohne den liebenden Vater, all das vergossene Blut, die bitteren Tränen, die Wut, die Verzweiflung, die Angst und den ekligen, hässlichen Tod, den sie für ihn starben!

Aber nein: das einzige, was sie ihm, dem geliebten, schnöseligen Prinzen mit seiner Flöte, seinen unsinnig teuren Tabatièren und französischen Gilets, seinen angeberischen, hochgezüchteten Windhunden und seiner verschnörkelten, klassizistischen Sprache vorwarfen, war dies eine: dass er, der korrekte General, sie nicht genügend hat plündern lassen. Es ist die schönste, rührendste und tiefste Pointe der jüngeren Weltgeschichte: es ist das Lächeln der masochistischen Geliebten, ausgepeitscht bis zur Folterung durch den arroganten, selbstsüchtigen Liebhaber, der sie dominiert und den sie nur „den Prinzen“, „den Schönen“ nennt, dieses schönste, herrlichste Lächeln überhaupt, das es gibt in dieser Menschenwelt, das Lächeln der absoluten Hingabe: der absoluten Selbstaufgabe, das stolz und bekennend sich lagert über das Weinen vor Schmerz, ihr Weinen, deren Rücken schon blutig ist und deren Geschlecht schmerzt von der Heftigkeit des Verkehrs: I let you set the pace, ’cause I’m not thinkin’ straight. Geduldig lässt sie das Werk über sich ergehen, nimmt seine Schläge und harten Stöße freudig auf, und als er fertig ist und er sie fragt, ob es ihr auch wehgetan habe, lächelt sie ihn strahlend an und sagt: „ja“. Und auch jetzt noch, jetzt erst recht schlüge sie und schlügen sie den Teufel für ihn aus der Welt. Denn sie liebt ihn, der sie achtlos behandelt als Besitz, und sie, die Soldaten, lieben ihn, den Vielgeliebten, der ihr Herr ist und verfügt über ihre Leiber und ihre Seelen, ce beau prince sans merci. Es ist das Todeslächeln, das seine Grenadiere in der Agonie ihrem Fridericus, ihrem roi charmant schenkten, dem Märchenprinzen von Charlottenburg, dem Kavalier von Brandenburg:

 

I once had sons, but now have none,

I bred them toiling sairly,

And I would bear them all again

And loose them all for Chairlie –

 

So sang die schottische Mutter, die unter Blut und Schmerzen ihre Söhne gebar, die einen nach dem andern sterben sah und die alle noch einmal austragen, noch einmal gebären und noch einmal hergeben würde, wie die Heilige Jungfrau, die Venus von Nazareth, ihren eingeborenen Sohn hingab, damit er, Prince Charlie, lebe! Und so gäben sie alle ihre Leben noch einmal und wieder und wieder, damit er, König Friedrich, der Jüngling-Vater, lebe:

 

Da lächeln all vier, und der eine spricht:

‚Nee, Freund Budiker, so geht es nicht!

Du kannst mal zuhören, wenn wir fluchen,

Aber du darfst es nicht selber versuchen.

Wir dürfen frech sein und schimpfen und schwören,

Weil wir selber dazu gehören

Wir dürfen reden vom Menschenschinder,

Dafür sind wir ja seine Kinder.

Potsdam, o Du verfluchtes Loch –

Aber er ist unser König doch,

Unser großer König! Gott soll mich verderben,

Wollt’ ich nicht gleich für den Fritzen sterben!

 

Dem Stauferkaiser blieben solch heiße Liebesschwüre versagt. Nicht freilich, weil er ihrer nicht würdig gewesen, sondern weil er ihrer nicht bedurfte, oder: nicht zu bedürfen schien, vor allem aber, natürlich, weil es nicht die Zeit war für die große Aufbietung von Gefühlen. Gefühle, überhaupt! Wenn es die überhaupt gab im Mittelalter, dann richteten sie sich aufs Jenseits, auf Gott und die andere Welt, l’altra vita, in dem der Sohn Gottes Gerichtstag halten würde zu richten die Lebenden und die Toten. Ein expliziter Diesseitsbezug in Denken und Fühlen tauchte erst auf, als man merket, wie gefährlich und gefährdet dieses Diesseits war: als die große Pest, die zuletzt zu Zeiten Justinians und des Herakleios gewütet und in deren giftiger Winde Schatten die Araber die Festung Europa, deren Grenze damals noch in Syrien verlief, berannten und stürmten, als die Pest nun nach sechs Jahrhunderten mit Gewalt wiederkehrte, inmitten des nervösen vierzehnten Jahrhunderts. Da besannen sie sich auf einmal auf sich selbst, so sichtbar und eindeutig konfrontiert mit der Unerbittlichkeit Gottes, die in einigen das Gefühl entstehen ließ, dieser Gott sei vielleicht deshalb so unerbittlich, weil die Bitten der Erdenkinder gar nicht zu ihm drängen, weil es diesen Gott womöglich gar nicht gebe? Da bestieg Petrarca, der erste Verliebte der neuen Zeit, den Mons ventosus, eine unerhörte, so gar nicht christlich-bescheidene Eigenmächtigkeit, und Boccaccio schrieb seinen Decamerone, die erste moderne Beschreibung einer Sexparty, hastig und mit erstaunlicher, ganz ungewohnter Entschlossenheit ausgerichtet von Menschen, die fühlten, dass „über ihnen der Tod schon die knochigen Hände kreuzte“ und dass er vielleicht besser sei, das Leben, das, immerhin, einem im Wege des schicksalhaften Zufallens geschenkt worden, einfach zu leben, so lange es noch sei. Eine neue Ordnung der Zeiten führte sich ein.

Unter den Gestalten des Mittelalters wirkt er statuarisch wie Napoleon und Caesar, nicht quecksilbrig wie Fridericus und Alexander. Nervös waren beide Friedriche, der Schwabe wie der Brandenburger, doch bei diesem kam zum Nerv die Emotion, bei jenem dagegen der Trieb. Erblickte Friedrich Hohenzollern im Tier den Spiegel der eignen geschundenen Seele – ein Erblicken, das ihn zu seinem Windspiel Arsinoe bald vor seinem sagen ließ: „Sie sagen, Du habest keine Seele, mein Liebling, aber siehe! Du hast eine, gewiss.“ –, so sah Federico im Falken kein Objekt der Trauer über die Härte und Gemeinheit der Welt, sondern vielmehr die ultimative Bestätigung der Herrlichkeit des Daseins durch die Naturreiche, der Kraft, zu welcher der Mensch fähig, durch das Tier, dem Logos und Ethos nicht im Wege.

Aus beiden Friedrichen strahlt Herrlichkeit und eine ungeheure Männlichkeit. Um dieser Männlichkeit willen wurden beide von falschen Elternfiguren erbittert und mit aller körperlichen und seelischen Brutalität und Grausamkeit bekämpft: der eine durch das Papsttum, das seine Schergen und Bannprediger losließ auf den stolzen Löwen Federico; der andere durch den Proletenvater und dann durch die Betschwester in ihrer Hofburg, diesem klösterlichen Gemäuer, und ihre Gefährtinnen in Paris und Sankt Petersburg. Es waren ins Politische versetzte Eltern-Sohn-Konflikte, diese beiden Schicksale, es war abgrundtiefer, bodenloser Hass auf Individuation, auf Individualität, den beide sich zuzogen, der beiden die Biographie, die politische und auch die private, ruinierte und verhunzte. War nicht der stolze sizilianische Prinz, der Sohn der Konstanze und Gatte der schönen Jolanda, eingezogen in die Grabeskapelle zu Jerusalem, das Haupt in Demut gesenkt, so demütig, wie nur ein Stolzer es sein kann? Hatte nicht der Preußenprinz die schlesischen Stände, die Schönaichs und Hatzfeldts, die Hochbergs und Gersdorffs, die Geistlichkeit und das Patriziat, nachdem das alte, stolze Breslau kampflos genommen ward, den Untertaneneid auf den eigenen Degen statt auf das in Berlin in der Rumpelkammer vergessene Reichsschwert leisten lassen? Waren sie nicht Dichter und Krieger, Literaten und Feldherrn in einem gewesen, Beispiele der höchsten, schönsten Blüte, die Männlichkeit auf dem Thron erreichen kann? Und hatte die Umwelt, die Epoche, in der sie lebten, zu leben verdammt waren, nicht alles daran gesetzt, diese Blüte welk zu machen, nicht alles daran gesetzt, das zarte Pflänzchen zu vernichten, das da emporwuchs, unaufhaltsam, treibend noch in der größten Dürre, noch in der übelsten Vernachlässigung? Wunder an Kraft, Wunder an Schöpferkraft und an Überlebenswillen sind diese beiden, Federico Secondo und Frédéric II. Söhne eines Zeitabschnitts sogar, wenn man, wie die französische Geschichtswissenschaft, das Mittelalter nicht mit der Reformation, sondern erst mit der Revolution enden lässt, Kinder der Renaissance auch, desselben Äons, der eine ihr Gebärer, der andere ihr Vollender.

Freilich, der preußische Friedrich lebte in kleineren Dimensionen, und kleiner waren auch die Dimensionen, kleinteiliger die Verhältnisse, in denen er dachte und wirkte. Längst hatte das Papsttum seine Rolle als hemmender, lähmender und einschläfernder Dominator des westlichen Europa eingebüßt, längst überflügelt durch die Gewalt des Sturmwelle Luthers, welche Britannien weitertrug, hinaus auf die Weltmeere, ein neues Reich, eine neue Welt, und zwar eine innere und äußere, zu schaffen. Links von Rom lag nun Amerika, das Ziehkind Englands, und rechts von ihm Russland, seit der Ehe der Prinzessin Zoe Palaiologina mit dem Zaren Iwan III., zwanzig Jahre nach dem Fall Konstantinopels, der Statthalter Europas an der mohammedanischen Front. Nicht die Welt an sich, die Große Politik waren kleiner geworden, im Gegenteil: in den Vereinigten Staaten, die ihren ersten völkerrechtlichen Vertrag mit Friedrichs Preußen im Jahr 1785 schlossen, kündigte sich eine Kultur des selbstverständlichen think big an, die auch den großen europäischen Mächten, von Spanien einmal abgesehen, das indessen seit der bourbonischen Machtübernahme in die Bedeutungslosigkeit versunken war, nicht geläufig war, geschweige denn dem armen Mittelstaat Preußen. Aber die Rolle Deutschlands und damit Europas, die Rolle der römischen Welt schrumpfte von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Das Deutschland der Reformation, also Preußen, dessen König seit dem Großen Kurfürsten und dem Edikt von Potsdam als supremum caput reformatae religonis galt (auf merkwürdige Weise verband dies Preußen geistig-politisch zugleich mit Großbritannien und Russland, denn es rückte es jedenfalls aus dem alten, präreformatorischen Kontext der europäischen Machtpolitik mit zwei katholischen Souveränen als Antagonisten): dieses Deutschland stieg in der preußischen Persona auf zu Macht, Geltung und Bedeutsamkeit, als links und rechts von ihm, geschieden durch einen Ozean und ein Faltengebirge, durch den Atlantik und den Ural, zwei neue, ganz andere, unglaublich leibliche, physisch potente Mächte emporstiegen, vor denen selbst das mächtige Frankreich nichts mehr galt.

Friedrich, der Schöngeist und Freidenker, stand so vor einer doppelten Herausforderung: sich selbst eine politische Figur und seinem Staat eine weltpolitische Figur geben zu sollen. In gewisser Weise verband ihn dies wieder mit Friedrich Hohenstaufen: so wie der zwischen deutscher und orientalischer Frage stand und zwischen ihnen zerrissen wurde: so stand Friedrich zwischen Ost und West und traf bis zuletzt keine Entscheidung für einen von beiden. Die Franzosen liebte er, ohne sie, die sich bei Rossbach aus dem Krieg verabschiedet hatten, achten zu können; auf die Russen blickte er herab, ohne sie, die ihm die Krone, das Reich und das Leben gerettet, doch zugleich geringschätzen zu können. An ihrer Seite machte der schon vergreisende König in den Siebzigerjahren überhaupt erst den ersten Schritt in die richtige, großdimensionierte Machtpolitik: die Annexion Preußens königlichen Anteils, die Einverleibung des im Thorner Frieden dreihundert Jahre zu vor einst an das mächtige Polen-Litauen verlorengegangenen kompletten Stammlandes seiner Preußen, die Heimholung des Deutschordenslandes durch den Freimaurer. Zur selben Zeit geschah dies, als die Kaiserin Jekaterina die Krim und Novorossija eroberte, das alte Stammland der Kiewer Großfürsten, aus denen das moskowitische Zarentum hervorging.

Friedrich Hohenstaufen hatte die zerstrittenen deutschen Fürsten im Rücken, deren Länder er, obwohl sämtlich formaliter Reichslehen, nicht in der Weise akkumulieren konnte, wie es im Westfrankenreich bereits vor Karl dem Großen geschehen. Hier wie da fehlten Deutschland vierhundert Jahre Rückstand, dem Staufer gegenüber Frankreich, dem Preußen gegenüber Europa. In einem Europa des frühen dreizehnten Jahrhunderts hätte ein Friedrich der Große Deutschland konsolidieren und damit die Voraussetzung für eine staufische Weltpolitik fünf Jahrhunderte später schaffen können. Federico Secondo, hätte er im achtzehnten Jahrhundert gelebt, wäre ein Napoleon avant la lettre geworden, unbelastet vom Odium der Revolution, das es vermochte, sogar die Erzfeinde Russland und England, den Sultan noch an ihrer Seite, gegen ihn aufzubringen, hätte, Italiener wie der Korse, doch ungleich mehr credibility besessen als legitimer Erbkönig und als Deutscher, aus der Mitte Europas kommend und nicht seiner keltisch-fränkischen Peripherie, deren siècle d’or zu Zeiten des Empire lange vorbei war.

Ein wesentlicher Unterschied liegt zwischen dem Staufer und dem Preußen, und er liegt in ihrem Verhältnis zur Väterlichkeit. Der Staufer als Originalgenie, das den Vater nie verlor und ewig am übermenschlichen Großvater gemessen wurde, den es nie kennen lernte, wurde aufgezogen in dem Bewusstsein, sein eigener Vater zu sein. Als Kind schon erhielt er die sizilianische Krone, keine zwanzig war er, als er im Kampf um die römisch-deutsche Krone obsiegte, und dem Sechsundzwanzigjährigen setzte der Papst in Rom die Kaiserkrone auf. Ohne Willen, ohne allergrößte Kraftanstrengung ist dieser Lebenslauf nicht vorstellbar. Früh wurde Federico in die Rolle hineinerzogen, der Welt, die ihm zu Füßen lag, Vater zu sein, früh musste er indes feststellen, dass diese Rolle ihm mit Gewalt und monströser Zähigkeit bestritten wurde durch den, der sich qua Amt zum Vater, zum Hirten der Völker bestellt sah.

Ganz anders dagegen Frédéric le Philosophe. Sein Leben war diktiert nicht von physischer Vaterlosigkeit, aber von dem melancholischen Schmerz dessen, der sich früh bewusst ist, den „falschen“ Vater zu haben, und der viel Lebenskraft darein investiert, sich an dieser Fehldisposition, die strenggenommen keine, jedenfalls keine irdische, ist, abzuarbeiten. Man hat gute Gründe, Friedrichs des Großen Heldenreise zu erzählen als eine Suche nach dem verlorenen Vater. In Wahrheit aber war es, das weiß die Psychologie, viel eher die Suche nach der Mutter, und zwar nach der guten, bejahenden Mutter. Das Böse als Vater, als Mann: das war nur äußere Hülle, war nur die Gestalt, die das Inkarnat des Archetypus der böse,n verschlingenden Mutter, der Kali annahm, welcher der Prinz Aphrodite als ersehntes und verfehltes Ideal entgegensetzte. Und so sehnte Friedrich der Einzige, der Jüngere, im Grunde sich nach Friedrich dem Apulier, dem Älteren, den er anrief in seinen grellen Alpträumen, die ihn heimsuchten seit der terrorisierten Kindheit, seitdem der Vater ihn morgens mit der Vorhangskordel zu erdrosseln drohte, und noch in jenen bitterkalten oder süßlichschwülen Nächten, in denen „auf einer Trommel der Held saß“, wie es die biedermeierliche Legende wissen wollte, seiner Schlacht denkend, während ihm in Wahrheit doch einfach nur kalt ums Herz war, um das Herz, das, des liebenden, mütterlichen, umgebenden Schoßes beraubt, auf den Vater, den Retter in der Not, den deus ex machina den Blick voll Angst und Sehnsucht wandte:

 

„Aber selbst mit den Adlern als Bundesgenossen waren sie noch an Zahl unterlegen. Und in dieser letzten Stunde erschien Beorn. Keiner wusste, wie und woher er kam. Er kam allein und in Bärengestalt. Ja, er schien in seiner Wut zu einem riesigen Untier geworden zu sein. Sein Gebrüll klang wie Paukendröhnen und Kanonendonner. Er fegte Wölfe und Orks wie Strohhalme und Federn aus dem Weg. Dann fiel er über die Nachhut her und brach wie ein Donnerschlag durch den Ring, den die Orks um die Zwerge geschlossen hatten. Auf einer niedrigen Hügelkuppe hatten sich die Zwerge um ihre Fürsten geschart. Beorn hielt inne und hob Thorin auf, der von Speeren getroffen war, und er trug ihn aus dem Tumult. Rasch kehrte Beorn zurück. Sein Zorn hatte sich verdoppelt, nichts widerstand ihm, keine Waffe schien gegen ihn etwas zu nützen. Erjagte die Leibwache auseinander, fasste Bolg und zermalmte ihn. Da überfiel Entsetzen die Orks und sie flohen nach allen Richtungen.“ 

Les derniers jours des Temps modernes. La première Guerre mondiale et la véritable idée d’Europe

Alors même que l’Allemagne n’avait pas plus de culpabilité dans le déclenchement de la guerre que les autres participants, c’était pourtant depuis le Moyen-Âge à la « question allemande », que l’avenir de l’Europe devait se décider, telle est la thèse de l’historien Konstantin Sakkas. L’Allemagne prit sur elle le fardeau de la culpabilité historique dans un aveuglément naïf et en même temps violent. En se laissant aller dans cette guerre dépourvue de sens, celle-ci en arriva d’abord aux « derniers jours de l’humanité » (Karl Kraus). Et nourrie à partir des vécus de cette guerre, se présente à présent devant les peuples l’idée d’une Europe sans États, apolitique, l’Europe des régions.

Voici bientôt cent ans éclatait la première Guerre mondiale, et avec elle prit fin, non seulement une époque, mais encore une ère. Ce qui vint après, ainsi l’écrivait Christian Comte de Krockow dans son étude très remarquée La décision de 19541, est encore nouveau, inconnu et innommé. Aujourd’hui nous regardons en arrière sur ces cent ans, comme le premier siècle légitime d’une époque nouvelle, d’une nouvelle ère.

La division canonique de l’histoire du monde en Antiquité, Moyen-Âge et Temps modernes, était alors comparativement un jeune topos. Ce n’est qu’en 1702 que l’érudit de Halle, Christoph Martin Keller (« Cellarius »), l’introduisit dans la connaissance ; auparavant on avait partagé l’histoire — pour la Terre elle-même, on admettait alors qu’elle consistât en 6000 ans — selon ce qu’on appelait les quatre grands empires : l’Assyrien, le Perse, le Grec et le Romain. Le pont qu’on jetait à partir de l’Empire romain, qui sombra en 476 ap. J.-C. par la seconde prise de Rome par Odoacre et la chute du dernier empereur Romulus, on le réalisait à partir de la figure du penser dite de la « translatio imperii : la remise (spirituelle) de la notion d’empire de Rome aux Francs, dont l’État, au 8ème siècle, en tant que Grand Empire d’Europe, commença à s’établir de la Bretagne à l’Italie centrale et des Pyrénées à la Saxe orientale — avec l’apogée impressionnant du sacre impérial de Charlemagne, à la Noël de l’année 800.

L’idée de ne plus se trouver au Moyen-Âge, mais au contraire dans une autre époque,  « nouvelle » justement, surgit il est vrai, tôt déjà dans les têtes des êtres humains. Jacob Burkhardt en data justement l’apparition, dans son ouvrage canonique La culture de la Renaissance en Italie, à l’aube du 14ème siècle, et dans la science historique, les courants spirituel, juridique et économique qui  avaient fait irruption depuis l’époque des Hohenstaufen, depuis le début du 12ème siècle, depuis longtemps tel un signe annonciateur évident des Temps modernes (« Renaissance du 12ème siècle » est ici, par exemple, un slogan courant). Il est vrai que le sentiment d’être des  « Temps modernes », était encore vraiment jeune en 1914 — malgré cela ces Temps modernes prirent déjà fin, justement en cette année-là, comme outre le Comte de Krockow, des penseurs comme Martin Heidegger, Hannah Arendt et Hans Blumenberg devaient aussi le voir.

Pour comprendre cela, il vaut la peine de jeter un coup d’œil sur les constellations politiques qui avaient précédé l’éclatement de la guerre. La guerre eut lieu entre les cinq grandes puissances européennes. Depuis le 18ème siècle, celles-ci étaient l’Angleterre, la France, la Russie, l’Autriche (depuis 1867 en union réelle au sein de la Double Monarchie austro-hongroise) et l’Empire allemand, qui  avait pris naissance en 1871, quasiment à partir du royaume de Prusse ; on parlait aussi de « pentarchie européenne ». S’y étaient adjoints les Etats-Unis d’Amérique, en tant que concurrent silencieux sur le champ économique mondial, avec leur déclaration d’indépendance de 1776, et selon le cas, avec leur union politique définitive de 1865. Ils ne jouèrent pourtant un «véritable » [en français dans le texte, ndt] rôle politique qu’à partir de leur entrée en guerre, en 1917. Nous avons donc au plan de la constellation à faire d’abord, en ce début de la première Guerre mondiale, à rien d’autre qu’à une réédition de l’immémorial motif européen de la guerre fratricide. Quelques dimensions essentielles on veuille aussi lui accorder, en 1914, celles-ci étaient, pour le moins au premier plan, d’ordre économique et territorial et aussi spirituelles, d’une manière certainement indéterminée. On peut dire, que toutes les commotions depuis l’époque carolingienne, et donc depuis le temps de Charlemagne, sont à ramener au fait que ce grand empire-là — auquel on s’est efforcé et qui s’est réalisé pour un temps bref — se décomposa rien qu’en États indépendants qui s’efforcèrent, à partir environ du premier millénaire après le Christ, à se développer par la force, d’abord politiquement, puis économiquement et plus tard aussi par leurs religions et idéologies.

Le jeu de quilles européen

Cette tendance devint particulièrement sensible à partir du commencement des Temps modernes, qui fut en même temps le début de ce qu’on a appelé l’inimitié germano-française. Elle commença avec la campagne italienne du roi Charles VIII de France en 1494, et s’acheva avec le Traité d’amitié franco-allemande, qu’on appelle le Traité de l’Élysée, le 22 janvier 19632 — une date vraiment récente, si l’on pense que la majorité de la population actuelle l’a encore vécue (il y a 50 ans). L’inimitié franco-allemande commença par la lutte pour la domination de cette partie de l’ancien empire de Charlemagne qui, après la mort de son fils Louis le pieux, en 840, prit naissance au Traité de Verdun en 843, comme la partie centrale de l’empire (appelée Lotharingie, à partir de 855, ndt). Elle s’étendait alors, en gros, depuis les Pays-Bas actuels — des côtes de la Mer du Nord, au travers de la Lorraine, la Bourgogne et la Provence, jusqu’au Nord de l’Italie, Milan et la Lombardie, et de là aussi, jusqu’à Rome — et cette partie centrale de l’héritage de Charlemagne, —  et même en fait depuis sa conquête par les Goths au 5ème siècle —, n’avait plus jamais retrouvé de tranquillité politique.

C’est exactement dans et autour de cette bande de régions du Nord au Sud — que les médiéviste raillent volontiers en la qualifiant de « jeu de quilles » — qu’on dut au total se battre lors de la première Guerre mondiale. Le plan de bataille allemand, qui avait été projeté, au plus tard dés les années 1890, par le feld-maréchal Alfred comte de Schlieffen, s’orientait très exactement sur ce scénario territorial : La masse de l’armée allemande était censée comprimer l’armée française dans un puissant mouvement d’encerclement en arc, de « droite » à « gauche » et donc du Nord vers le Sud, et de « la broyer » en tenaille à la frontière suisse (D’où le slogan connu, que dut avoir prononcé Schlieffen tandis qu’il agonisait dans le délire de sa fièvre : « Renforcez-moi donc l’aile droite ! »). L’arc du front à l’Ouest s’étendait de la Belgique, dont la neutralité, garantie par le droit international, fut violée d’une manière funeste par le gouvernement de l’empire (ce qui fit entrer l’Angleterre en lice, laquelle autrement serait restée très vraisemblablement neutre ; mais elle avait garanti la Belgique, réfrénant ainsi des désirs insensés d’annexion allemande), au travers des Flandres, les Vosges, la Champagne et l’ancien duché de Bourgogne (ainsi s’était appelé autrefois l’ensemble de l’empire franc médian entre l’Ouest et l’Est) jusque vers Pontarlier et la frontière suisse. En 1915, la triple alliance se décomposa — c’était une construction boiteuse d’alliance remontant aux années 1880 entre l’Empire fédéral d’Allemagne, fidèle aux « Nibelungen » et l’Autriche d’une part, et le jeune royaume d’Italie, d’autre part — et un nouveau front s’ouvrit donc directement au travers des Alpes, cette fois entre l’Autriche et l’Italie, que les Habsbourg n’avaient pas oublié depuis longtemps, puisque leur secondo- et tertio-génitures, leurs vices-rois et gouverneurs militaires, en dominaient autrefois les deux-tiers du pays. La guerre s’étendit donc passablement exactement sur la bande de ces régions, depuis les côtes flamandes de la Mer du Nord en haut, jusqu’en Lombardie en bas et les côtes de l’Adriatique, pour la possession desquelles on avait combattu de haute lutte, non seulement le petit-fils de Charlemagne au 9ème siècle ; mais encore, au tout début des Temps modernes, d’abord ce qu’on a appelé les Guerres d’Italie (1494-1558), puis les « guerres de rapine » de Louis XIV et la Guerre de succession d’Espagne (1701-1714), jusqu’aux guerres de coalition, comme on les a appelées, entre la France révolutionnaire et les vieilles monarchies européennes coalisées (1792-1814). Considérées au plan purement territorial et au plan purement européen, c’était donc en définitive l’héritage de Charlemagne, pour lequel combattirent les cinq grandes puissances européennes de 1914 à 1919.

L’homme malade sur le Bosphore

Considéré autrement, il s’agissait à vrai dire de vraiment beaucoup plus. En 1814, au moment où Napoléon, à la bataille d’Arcis-sur-Aube, fut battu par le duc autrichien Schwarzenberg et hissa le drapeau blanc, quelques semaines plus tard à Paris, l’Europe se trouvait encore structurellement profondément enfoncée dans le Moyen-Âge. Il n’y avait pas d’électricité, ni de mobilité sur rail, ni d’aviation. Par contre, en 1914, l’Europe se trouve pleinement dans le modernisme. Dans aucun siècle précédent le 19ème, il n’ y eut autant d’inventions et découvertes ouvrant autant de perspectives. Quantitativement, celles des 20ème et 21ème sont largement supérieures, mais qualitativement, dans le laps de temps entre 1814 et 1914 elles sont bien plus nombreuses et importantes qu’entre 1914 et 1963, ou bien entre 1963 et 2013. Les technologies de l’information et les structures de la redistribution du bien-être se sont en partie radicalement modifiées ; mais au plan de la mentalité, l’Europe se trouva à partir de 1945 à « l’heure zéro », dans une telle sorte de choc de stupéfaction, un sentiment de ne-plus-être-de-droit, de dépolitisation, qu’ensuite, en 1992, alors que la Guerre froide faisait désormais partie de l’histoire, Francis Fukuyama dut mettre à l’ordre du jour son fameux slogan de « la Fin de l’histoire ».3

Winston Churchill considérait, comme on le sait, l’époque qui va de 1914 à 1945, comme une seconde Guerre européenne de trente ans, lors de laquelle tout fut tourneboulé. Cette guerre de trente ans eut deux conséquences immédiates : premièrement, elle fit entrer les USA en lice, lesquels, sous peu, tant au point de vue économique que militaire, se démasquèrent vis-à-vis de l’Europe comme nettement supérieurs. Et deuxièmement, elle alla chercher l’Orient, et avec elle l’Islam, sur la scène du théâtre politique mondial. Depuis l’époque des Croisades, l’Empire turc qui devait plus tard porter le nom de son fondateur dynastique, Ottoman, s’était clandestinement préparé comme une puissance dans un ordre secret, certes selon les apparences, dirigée contre l’Europe, mais qui veillait en vérité sans cesse au moyen d’une pression extérieure à ce que l’Europe restât ensemble. Ceci se manifesta une dernière fois par cette clause de l’acte fondateur de Vienne de la Sainte Alliance, par laquelle le Sultan à Constantinople excluait son adhésion, puisqu’en effet, il n’était pas chrétien.

La totalité du pouvoir politique au 19ème siècle tourna donc autour du maintien de la Turquie, « l’homme malade sur le Bosphore. Si les Turcs s’étaient trouvés, en 1683 encore, aux portes de Vienne, et avaient alors passé pour la terreur du monde civilisé, ils se retrouvèrent alors tout d’un coup carrément sous les petits soins affectueux de la diplomatie européenne. La grande peur, qui ôtait alors le repos à tout le monde, c’était, pour préciser, qu’au Moyen-Orient, l’ancienne région géographique clef de l’Europe, les deux grands adversaires en lutte pour le « partage du monde » en vinssent à un conflit sanglant : Angleterre et Russie.

Au début du 20ème siècle encore, c’était la grande peur de l’Europe cultivée qu’ont pût en venir à une « guerre mondiale » entre les deux puissances : l’Angleterre — la mère patrie du colonialisme et à l’époque dominatrice sur le quart de la surface de la Terre — et la Russie — d’apport récent au concert des puissances européennes, qui avait élaboré son rôle de puissance secrètement protectrice de la Prusse entre 1763 et 1871. Cette dernière ne surgissait plus seulement, alors, comme protectrice du mouvement de libération panslave dans une Europe de l’Est gérée par l’Autriche, mais au contraire, elle manigançait en même temps la « libération » de ses coreligionnaires orthodoxes dans les Balkans et dans le Caucase, ce qui ne revenait à rien d’autre qu’à une expansion dans le proche et le Moyen-Orient et la Perse, précisément aux frontières de l’Inde, laquelle était la colonie royale britannique, depuis 1876, avec le statut d’Empire en titre. Ici, comme sur les Océans — la marine militaire passait alors pour une  partie d’avenir de la force militaire — on attendait le grand abordage entre l’Ours et la Baleine, entre la Russie et l’Angleterre.

L’autre conflit, qui semblait quant à lui comparablement insignifiant à côté de cela, dominait l’événement politique depuis 1871. Quand bien même violente, l’opposition germano-française semblait de ce fait résolue, de sorte que l’Allemagne sous la «  conduite » de la Prusse et d’Otto von Bismarck, était parvenue à s’unifier et à défendre avec cela les régions sur la rive gauche du Rhin. Une seule et unique épine dans le pied : les nouvelles régions du Reich, que le vainqueur de 1871 s’était réservées — une région, qui certes depuis des siècles avait été allemande, mais qui était à présent française depuis Louis XVI ; dont la population pensait et se sentait majoritairement française et, aussi malgré le traitement le plus bienveillant que lui avaient réservé les autorités allemandes, songeait à peine renoncer à sa véritable identité nationale profonde. Ici reposait la cellule souche du revanchisme français depuis 1871, et la raison pour laquelle tout simplement l’Allemagne et la France n’étaient jamais entrées dans une alliance.

 

De l’enclume au marteau — et alors ?

Au moyen de l’unification du Reich, mais aussi par le potentiel économique et militaire ainsi libéré, — l’Allemagne était, autour de 1900, la seconde puissance mondiale derrière les Etats-Unis mais devant l’Angleterre — l’Allemagne était devenue l’aiguille de la balance ; elle était devenue de facto, comme le constata Sébastien Haffner, la plus grosse puissance de l’Europe,5 et — qu’on y pense un peu ! — ceci pour ainsi dire à partir du néant, sans avoir eu le parcours historique des siècles que les autres puissances disposaient derrière elles. En 1866, il y avait encore la vieille confédération allemande, une sorte de cæcum du Saint Empire romain, avec une constitution de république princière et, par moment, 39 États membres. Cinq ans plus tard, il y eut un empire allemand. Tout un chacun, sauf la France bien sûr, voulut être associé à cet empire allemand, pour mener à bien ces objectifs respectifs. Seule l’Allemagne elle-même — et c’est ce qu’avait étonnamment et sincèrement mis en place son fondateur Bismarck — n’avait plus aucun objectif de politique extérieure ; en tout cas, du point de vue territorial, elle était effectivement « rassasiée », voire « saturée ».

Des critiques de l’Allemagne, c’est-à-dire de la Prusse, reprochaient à Bismarck, le « barbare de génie » et on lui en fait encore le reproche aujourd’hui, d’avoir été un fondateur d’agitation et d’avoir détruit l’ancien équilibre européen. Le fait est que Bismarck lui-même connaissait au mieux l’instabilité de sa construction de puissance politique : la formule proverbiale de « cauchemar des coalitions » ne devait jamais le quitter jusqu’à la fin de sa vie.

Que l’ancien prince de Bismarck fut renversé en 1890, au moyen d’une intrigue de cour et avec la connaissance et la volonté du jeune empereur Guillaume II, cela est considérée aujourd’hui chez les profanes comme chez le public spécialisé, comme une grave erreur et comme la πςώτου ψεύδοζ, qui finalement, 24 ans plus tard, mena à l’éclatement de la guerre mondiale. Ce n’est que durant ces dix dernières années que fut prudemment corrigé le jugement de condamnation, autrefois déjà canonique, visant le dernier empereur allemand, entre autres par Christopher Clark et Eberhard Straub, après que déjà dans les années 1990, l’essayiste berlinois Nicolaus Sombart avait entrepris une avancée ingénieuse dans cette direction.

Le fait est qu’au plan de la politique fédérale, l’Allemagne se retrouva en plein dilemme en 1890. Cela ne pouvait qu’aller de travers, en effet, n’était-ce avec la Russie (comme du temps de Bismarck) ou bien avec l’Angleterre (comme cela fut sans cesse favorisée par la politique anglaise avant et après Édouard VII, qui régna de 1901 à 1910). L’Allemagne était, pour la première fois dans son histoire, pour parler dans le jargon du temps de Bismarck, « d’enclume devenue marteau » — mais elle ne sut rien entreprendre avec ce marteau. Ce n’est pas l’Angleterre, mais l’Allemagne qui choisit, avec l’arrivée au pouvoir de Guillaume II, en 1888, la splendid isolation  ; elle ne pouvait pas intervenir de manière judicieuse dans les conjectures de politique mondiale de l’Angleterre et de la Russie.

Encerclement

Ainsi en vint-on, en 1907, à l’événement diplomatique que personne n’eût tenu alors pour possible : l’Angleterre et la Russie conclurent donc une alliance l’une avec l’autre, tout en étant idéologiquement aussi éloignées l’une de l’autre qu’il est pensable (l’une, une monarchie parlementaire très industrialisée ; l’autre, un état agraire autocratique, dont la révolution n’est plus qu’une question de temps). Comme toutes deux étaient séparément alliées à la France, il y eut donc la « triple Entente ». L’encerclement de l’Allemagne était achevé, ses alliés —  Autriche-Hongrie, Bulgarie et l’Empire ottoman (l’Italie, neutre changea les fronts en 1915) — n’étaient pas autour d’elle des soutiens, mais au contraire une décharge stratégique militaire durable.

Lorsqu’au 28 juin 1914, le successeur au trône de la Monarchie k.u.k., le Grand duc François-Ferdinand, lors d’une visite de manœuvre à Sarajevo, fut assassiné par des nationalistes serbes, il ne fallut que cinq semaines pour que l’Europe fût en guerre. La Bosnie et l’Herzégovine étaient, en 1908, placée sous le protectorat autrichien par décision internationale, en tout cas avec la  désapprobation de la Russie qui, depuis les jours de Catherine la Grande, avait toujours considéré les Balkans comme sa sphère d’hégémonie. La Russie était la puissance protectrice de la Serbie, cette dernière prit les dispositions nécessaires pour aller au devant de la population nationale autrichienne indignée, mais cela n’aida en rien : parmi les 26 points de l’ultimatum autrichien, adressé au gouvernement monarchique serbe, il s’en trouvait aussi deux, qu’aucun gouvernement au monde ne pût jamais accepter, sans discréditer son État. Le refus partiel et, avec cela, l’entrée en vigueur du casus belli, avait été planifié par le parti autrichien favorable à la guerre, autour du général en chef, le Feldmarschal Conrad von Hötzendorf.

Comme il fallait s’y attendre, immédiatement là-dessus, la Russie s’immisça en disant qu’une intervention militaire autrichienne contre la Serbie ne pourrait être tolérée. La saillie de la Russie fit entrer en lice l’Empire allemand, lequel s’était allié à la vie et à la mort à l’Autriche et avait délivré au gouvernement autrichien les pleins pouvoirs illimités (le fameux chèque en blanc) pour une intervention contre la Serbie — car c’est seulement avec la puissante Allemagne, économiquement forte et hautement armée, sur ses arrières que l’Autriche, démodée et arriérée, pouvait principalement oser une passe d’armes. « En larmes », comme il est rapporté, l’ambassadeur allemand à Saint-pétersbourg, Frédéric Comte de Pourtalès, transmis la déclaration du guerre allemande, le 1er août (40 jours auparavant, la Russie — qui était alors gouvernée par la dynastie allemande Schleswig-Holstein-Gottorf — et la Prusse, étaient encore des amies proches. Étant donné qu’entre la Russie et la France était en vigueur, depuis 1894, une alliance offensive et défensive, l’Allemagne prit les devants et déclara la guerre à la France le 3 août. Car on s’était déjà placé dans ce conflit insensé et cela depuis vingt ans. Ici, l’approche de cet éclatement de la guerre devient tout à fait inconcevable. Le conflit dans les Balkans — lequel, quatre ans plus tard du reste, s’achèvera avec, comme on pouvait s’y attendre, la dislocation des deux empires du Sud de l’Europe restés multinationaux : la Double Monarchie austro-hongroise et l’Empire ottoman — s’avère une simple voie détournée, afin de laisser de nouveau renaître le conflit originel France-Allemagne. Le danger du « rouleau compresseur russe », qui fut beaucoup exorcisé (de fait l’armée russe est à peine plus moderne que celle autrichienne ; en outre, le moral au combat des recrues qui souffrent beaucoup du régime tsariste, est misérable) sera stoppé à la bataille près de Tannenberg et aux lacs Masures, par la huitième armée allemande sous les ordres du Général en chef von Hindenburg, par la suite Reichpräsident. Par contre, les sept armées allemandes, qui avaient espéré prendre Paris, dont elles avaient approché de 100 km suite à une avancée fébrile, restèrent bloquées en septembre sur la Marne (« miracle de la Marne »). Avec cela, la guerre à l’Ouest, pour les deux adversaires en était arrivée au point stratégique zéro, avant même qu’elle eût correctement commencée. Il en ira ainsi quatre années durant : parfois les Français enregistrent un gain de terrain minimum, parfois ce sont les Allemands. Mais on reste pat.

La catastrophe primordiale du 20ème siècle

Toujours est-il que ce qui est décisif c’est que, depuis le 4 août, la Grande-Bretagne se trouve aussi en guerre avec l’Allemagne. Le commandement en chef des armées allemandes, pour des raisons purement stratégiques — ainsi que le prévoyait d’ailleurs le plan Schlieffen des années 1890, qui  écrasait par la force la neutralité belge — a ainsi violé la condition de l’ultimatum de la Grande-Bretagne, sous laquelle elle n’eût pas intervenu dans la guerre à l’Ouest (ce par quoi celle-ci eût été décisive pour l’Allemagne en quelques semaines). Mais les cent mille soldats britanniques qui intervinrent déplacèrent naturellement l’équilibre des forces naturellement aux détriments de l’Allemagne.

Tout le comportement de l’Allemagne dans cette guerre indique des traits d’auto-destruction : depuis le fait de prendre — sans restriction mais pas du tout nécessairement —fait et cause pour l’Autriche et sa politique d’expansion dévastatrice dans les Balkans, en passant par la violation de neutralité, l’ouverture de la guerre sous-marine illimitée en 1917 (ce par quoi les USA entreront en lice aux côtés de l’entente, jusqu’aux conditions éhontées de la paix de Brest-Litowsk, en mars 1918, par lesquelles un empire colonial est-européen était censé se créer sous la direction allemande. Un acte de brutalité, dont on interpréta la punition légitime en retour, un an plus tard à Versailles, entre temps aussi dans la recherche. Parmi toutes les puissances participantes, le Reich  allemand avait la moindre raison d’être dans la guerre et parmi tous les objectifs de guerre, les siens étaient les moins honorés par la raison et la logique.

La question de la culpabilité dans la guerre a été posée depuis la guerre elle-même, et avec insistance, comme autrement dans aucune autre guerre dans l’histoire. La première Guerre mondiale éclata, la seconde fut déchaînée — sur cette formulation l’union règne depuis longtemps dans la recherche comme dans l’opinion publique et de récentes contributions au point de vue renforcé sorties de la littérature n’y ont rien changé. La « catastrophe archétype du 20ème siècle », comme George F. Kennan caractérisa la guerre mondiale, dans une tournure fameuse, est dans sa genèse, aujourd’hui, comme il y a cent ans, un objet de fascination.

Il est vrai que tout dans l’histoire suit une logique interne conforme à l’être et d’un autre côté aussi au-delà du temps. Il ne s’agissait pas pourtant d’une  « revendication à la puissance mondiale », comme l’historien Fritz Fischer voulut le faire accroire, dans son ouvrage éponyme très controversé de 1961 ;6 mais au contraire, il s’agissait de cette logique. Selon elle, l’époque européenne aurait fait son temps. Mille cinq cent ans après la chute de Rome, les puissances européennes auraient sondé le politique dans sa pratique territoriale dans toutes les directions ; en 1914, elles se heurtaient finalement à leurs limites et il n’était que logique que la population de l’Europe du centre avec la défaite de 1918, se débarrassât  de ses monarques — rien qu’en Allemagne ceux-ci étaient au nombre de 20 princes régnants — ; car c’est le principe d’Abraham, selon lequel le prince est le berger de son peuple et s’il le mène assurément dans l’inconnu, c’est qu’il a perdu sa légitimité historique. Que les Allemands dussent se sentir dupés par leur épopée héroïque historique ; que la perte de l’empire dût activer dans les couches profondes de l’âme du peuple, un complexe du père, cela c’est une autre question.

Europe de régions

Peut-être comprenons-nous mieux le phénomène de cette guerre, qui surpasse sa propre tradition comme insensée et étrangère, si nous l’observons à partir d’une perspective d’avenir. Cent ans ne sont pas écoulés depuis, que le visage de l’Europe et du monde s’est complètement modifié. La puissance politique classique, sous le modus de son outrance erratique et infernale par le Reich allemand et deux guerres mondiales, a disparu du répertoire de la politique européenne ; et de plus, nous sommes tous entrés dans l’époque de l’économie, après qu’elle s’était déjà annoncé à l’époque de l’empire, par sa politique sociale et certes, sa circonspection pour le bien-être de ses sujets, mais tout en s’améliorant constamment même pour les classes inférieures et cela signifiait donc aussi l’exigence de prospérité et de bien-être que nous partageons désormais en Europe. Les USA et la Chine ont repris le rôle qui avait été réservé jusqu’en 1914 aux cinq grandes puissances européennes : tous deux pensent en grands projets territoriaux globaux, et activent ce qu’on caractérisait, dans les années 1850 en Europe, une « real ou Machtpolitik ». L’Europe, au lieu de cela, revient à ses anciennes racines enfouies sous le désert de mille ans d’une évolution compliquée et entortillée ; elle redevient lentement une Europe des régions.

Le caractère régional est la racine de l’élément européen. L’État universel, territorial, qui « met en caisse » [vereinnahmende] vers l’intérieur et « fait des projets à longue portée » [ausgreifende] vers l’extérieur, fut toujours quelque chose d’étranger à l’Europe, un octroi oriental, contre lequel les Grecs se sont défendus 100 ans durant, jusqu’à ce qu’Alexandre le Grand importât, dans sa méditerranée natale, l’idée d’un empire universel, dans le cadre d’une entreprise géniale, aventurière et nonobstant démentielle. De la Grèce, qui devint tout à coup la région-mère des monarchies modernes,  — Alexandre Demandt  y fait très récemment allusion dans son ouvrage brillant sur Alexandre7 —, cette idée passa par Rome, dont l’empire se forma en ne se groupant pas tout autour d’une région, mais au contraire, tout autour d’une seule et unique et superbe ville (Qui cela étonne-t-il aujourd’hui que c’est là, en Italie et en Allemagne que le régionalisme est particulièrement perceptible ?), pour se perdre ensuite dans le grouillement des grandes invasions. Charles le Grand/Charlemagne, dont se réclament les deux nations-mères de l’Europe post-moderne, la France et l’Allemagne, en tant qu’identité fondatrice, restaure de nouveau l’empire, non pas originellement politique, mais au contraire bien plus comme une unité-souche d’origine. La charge nationale, politique, ne vint que se rajouter après ; depuis que chacun de ses successeurs se crut devoir, à partir de sa nationalité propre, instituer l’Europe en tant qu’État d’ensemble. L’idée archétype de l’Europe — une libre vie ensemble, les uns avec les autres, de « tribus » et avec cela aussi, de régions diverses — est tombée dans l’oubli. Elle fut revendiquée, arrondie, dérobée et de nouveau enlevée[f], 1000 ans durant.

En 1914, le château de cartes du nationalisme européen s’effondra finalement sur lui-même. Avec la première Guerre mondiale, à vrai dire, la chose n’était pas faite ; il y fallut encore des évolutions beaucoup plus épouvantables, tout au long de ce continuum de 1914 à 1945, jusqu’à ce que l’Europe martiale y épuisât enfin ses énergies autodestructrices. Mais en 1914, ce fut la première lueur, la première détonation évidente, que les peuples de l’Europe étaient sommés par le fait qu’ils sont  frères, et non pas concurrents et que l’époque de la guerre fratricide touchait à sa fin.

Aussi n’est-ce pas un hasard — comme d’ailleurs principalement rien n’est « fortuit » dans le grand arc du temps que nous avons coutume d’appeler « histoire », — que cette « grande guerre », comme l’appellent toujours et encore Français et Anglais, avec une clairvoyance pathétique, se déroula principalement sur des champs de bataille de cette bande des régions qui s’étendent d’Ostende aux Alpes ; entre la Belgique, le plus jeune, et la Suisse, le plus ancien État neutre en Europe du Centre, dont le second devint, après la première Guerre, le Siège de la SDN, tandis que dans le premier, après une seconde Guerre encore bien pire, siégea l’Union Européenne. L’idée européenne — l’éloignement du national, l’atténuation du politique, la cession à l’individu de l’idéal d’unité centrale et d’unité, de la totalité : sur les champs arrosés de sang de la première Guerre mondiale, qui révéla au grand jour toute la barbarie et toute l’absurdité de la guerre dans son aveuglante absence de fioritures, cet idéal entama sa métamorphose en chrysalide, au milieu des peines et des convulsions.

Le rôle double que l’Allemagne y joua ici n’est pas étonnant, mais au contraire, conséquent. Quoique formellement — c’est ce qu’a montré d’une manière impressionnante la recherche des années passées — l’Allemagne n’a ni plus ni moins de culpabilité que les autres participants dans le déclenchement de la guerre (et avait nonobstant elle-même la moindre raison pour cela) ce fut pourtant la « question allemande », celle qui remontait au moyen-âge, voire en effet déjà au temps des Romains, à laquelle dut se décider l’avenir de l’Europe. L’Allemagne prit sur elle le fardeau de la culpabilité historique avec un aveuglement funeste, puéril et en même temps brutal : se laisser aller à cette guerre la plus dépourvue de sens de toutes les guerres, à en faire d’abord ce qu’elle devint : à savoir les « derniers jours de l’humanité » (Karl Kraus). Au point qu’à la fin, se trouve seulement désormais devant ses peuples, sans autre alternative, l’idée d’une Europe sans états, apolitique, l’Europe des régions, l’Europe de la fraternité, comme seule l’expérience de cette guerre a pu l’imprégner dans les esprits.

La fausse forme dut être brisée avec violence, pour que la bonne forme intérieure, la pure matière, en vint à se déployer ; l’idée archétype mythique de la Pax Europaea, de la paix européenne.

© Konstantin Sakkkas

Le texte précédant a paru dans le numéro 10/2013 du journal Die Drei.

Traduction française: Dr. Daniel Kmiecik, Paris

Header: Parade des troupes grècques lors de la fête de victoire alliée, Paris, 14 juillet 1919.

 

Notes :

  • Christian Compte de Krockow : La décision. Une investigation sur Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger (Thèse 1954, Stuttgart 1958.
  • Le traité de Locarno, que Gustave Stresemann et Aristide Briand signèrent en 1935, ne compte pas ici, car l’atmosphère fondamentale de revanche entre les deux nations en resta intact.
  • Francis Fukuyama : La fin de l’histoire. Où nous trouvons-nous ? Munich 1992.  Il se peut qu’on rétorque que l’époque de la Guerre froide était une moment d’extrême charge politique et fut bel et bien politique avec cela ; nonobstant, l’atmosphère fondamentale en Europe occidentale, en particulier depuis l’apparition de la culture pop moderne, dans les années 50 et 60, de décennie en décennie plus impolitique.
  • Une anecdote illustre très joliment cela de l’époque impériale. Guillaume II se laissa coiffer par un barbier alsacien, à l’occasion d’une manœuvre. L’empereur fut très satisfait du travail de cet homme et lui dit qu’il pouvait exprimer un vœu. Le coiffeur rétorqua, dans une attitude militaire et comme sous la menace d’un pistolet : « Majesté, rendez-nous l’Alsace-Lorraine ! »
  • Sébastien Haffner : Remarques au sujet d’Hitler, Francfort sur le Main 1978.
  • Fritz Fischer : Revendication à la puissance mondiale. L’objectif politique de guerre de l’Allemagne impériale 1917/1918, Düsseldorf 1961, 2009.
  • Alexander Demandt : Alexandre le Grand, Munich 2013.

 

Griechenland gehört zu Europa

Griechenland war einst die Wiege Europas und das Land der Götter, heute gilt es als Land der Staatsverschuldung im Epizentrum der Finanzkrise. Insbesondere deutschen Konservativen und Neoliberalen sind die Beihilfen für Griechenland wie auch die übrigen südeuropäischen Staaten ein Dorn im Auge. Denn Deutschland war einst das Land einer absurden Staatsvergottung, heute beten die Deutschen das Wirtschaftliche an.Zwar ist nicht davon auszugehen, dass politische Kräfte wie die AfD in absehbarer Zeit in Regierungsverantwortung gelangen werden. Doch die Ignoranz oder Unkenntnis der historischen und politischen Bedingungen, die die Währungsunion und die finanzielle Solidarität innerhalb Europas notwendig machen, greift um sich.

Immer wieder hört man, auch von gebildeten Leuten, sie wollten nicht mit „ihrem Geld“ die Schulden anderer, insbesondere Griechenlands, bezahlen. Was für ein Märchen. Niemand wurde im reichsten Land Europas wegen der Eurokrise enteignet. Es wurden Garantien abgegeben, weiter nichts. Und um das Vermögen von Großanlegern und Spekulanten müssen wir uns erst recht keine Sorgen machen.

Worum wir uns sorgen sollten, ist Europa. Natürlich ist Europa eine Transferunion! Natürlich brauchen wir einen europäischen Finanzausgleich! Ein Austritt oder gar Rauswurf Griechenlands aus der Eurozone wäre fatal. Denn der Euro ist ein politisches Instrument, das dem europäischen Kultur- und Werteraum eine Klammer gibt. Er dient der Einigung Europas – das sonst eine zerfallende Region wäre.

Die EU erinnert territorial an das alte Römische Reich, in dem sich griechisch-christliche Kultur und römisch-fränkische Infrastruktur miteinander segensreich verbanden, bevor das Reich zerfiel. Die heutige EU reicht vom Hadrianswall in Schottland bis nach Bulgarien, ans Schwarze Meer. Doch die Europäische Union ist nicht mehr monarchisch-imperial geprägt wie seinerzeit das Römische Reich, sondern demokratisch-föderal. Diese heutige Union, dieses Europäische Reich ist ein gemeinsamer Kultur- und Werteraum, den es zusammenzuhalten und zu verteidigen gilt, heute, im Zeitalter des Wirtschaftlichen, eben auf wirtschaftlichem Wege.

Als Adenauer und De Gaulle die europäische Einigung ins Leben riefen, hatten sie genau dies im Sinn: ein Europa als „Dritten Weg“, zwischen den USA und Asien. Die europäische Währungs- und Solidarunion soll die Integrität dieser einzigartigen Kultur- und Wertegemeinschaft namens Europa gewährleisten, um die wir zweitausend Jahre lang gerungen haben. Im Angesicht von Putins Expansionskurs in der Ukraine, Erdogans reaktionärer Religionspolitik in der Türkei und des IS-Terrors in Vorderasien ist ein europäisches Zusammenhalten dringender nötig denn je.

Griechenland symbolisiert diese Kultur- und Wertegemeinschaft wie kein zweites europäisches Land. Nicht nur als Wiege des europäischen und später christlichen Erbes, sondern auch als geografischer Außenposten, der dieses Erbe, immer wieder verteidigt hat. Es aus kurzsichtigem ökonomischem Kalkül heraus aufs Spiel zu setzen, wäre das Todesurteil für die europäische Idee. Darüber sollten auch wir Deutschen uns endlich klar werden, wenn wir über griechische Staatsschulden sprechen.

© Konstantin Sakkas

Dieser Text wurde am 28. Oktober 2014, dem griechischen Nationalfeiertag („Ochi-Tag“), auf Deutschlandradio Kultur gesendet. 

Header: Zeus entführt Europa. Mosaik, Byblos (heutiger Libanon), 3. Jh. v. Chr. 

Die Somme-Schlacht

Am 1. Juli 1916 begannen die Briten unter ihrem Oberbefehlshaber, General Douglas Haig, ihre große Entlastungsoffensive an der Somme. Seit Februar tobte die Schlacht um Verdun. Die Franzosen hatten dort bereits zahlreiche wichtige Stellungen aufgeben müssen und brauchten dringend Hilfe. Ende Juni begannen die Briten ein siebentägiges Bombardement an dem Fluss Somme nordwestlich von Verdun, um die deutschen Stellungen sturmreif zu schießen. Die britische Führung wollte so erreichen, dass ihre Infanteristen am Tag des Angriffs das Niemandsland „nur mit dem Spazierstock bewaffnet“ würden überqueren können. Entscheidender Nachteil dieses Dauerfeuers war allerdings, dass es den Deutschen den Ort des bevorstehenden Angriffs verriet.Im Vorfeld des Angriffs wurden auch erstmals in diesem Krieg gigantische Sprengungen vorgenommen. In monatelanger Arbeit hatten britische Pioniere die deutsche Stellung „Schwabenhöhe“ bei dem Weiler La Boisselle unterminiert und Sprengstoff im Umfang von 27 Tonnen angebracht. Am 1. Juli um 7 Uhr 28 brachten sie die Höhe zur Explosion. Erdbrocken und Trümmerteile wurden einen Kilometer und höher in die Luft geschleudert, es gab Hunderte von Toten. Der Knall der Explosion war so laut, dass er noch in London zu hören gewesen sein soll. Die Briten gaben dem entstandenen Krater den Namen „Lochnagar-Krater“, in Anlehnung an die schottischen Regimenter, die hier lagen.

Zwei Minuten später traten dann 120.000 britische Soldaten zum Sturm auf die deutschen Stellungen an. Sie wurden sofort von heftigem MG-Feuer empfangen. Entgegen der Annahme der englischen Führung waren die deutschen Gräben nämlich zwar stark beschädigt, aber dennoch intakt geblieben. Es kam zu einem furchtbaren Blutbad: 20.000 britische Soldaten starben an diesem Tag, allein achttausend in der ersten halben Stunde. Es war der verlustreichste Tag in der britischen Militärgeschichte.

Besonders schlimm traf es die „Ulster Division“, in der nordirische Soldaten dem Vereinigten Königreich dienten. Bis heute gilt für sie der 1. Juli 1916 als Opfergang für Großbritannien. Um halb acht Uhr morgens griffen sie bei dem Dörfchen Thiepval an und stießen auf den fanatischen Widerstand württembergischer Truppen. Die Division verlor mehr als die Hälfte ihrer Männer.

Aus der Entlastungsoffensive wurde schnell ein eigener Kampfplatz, der bis dahin ungekannte Mengen an Menschen und Material verschlang. Bis in den November hinein rangen Deutsche und Briten, unterstützt von der 6. Französischen Armee unter General Fayolle, und verwandelten die idyllische Landschaft in eine Trichterwüste. Den britischen Hauptstoß führte die 4. Armee unter General Rawlinson. Haig, der Oberbefehlshaber, versteifte sich so wie auf deutscher Seite ein halbes Jahr zuvor Falkenhayn auf eine Strategie der „Abnutzung“ und des „Weißblutens“. Tatsächlich kam dabei aber, wie der britische Militärhistoriker Basil Lidell Hart, der selber an der Schlacht teilnahm, später festhielt, nur „dummes, massenweises gegenseitiges Abschlachten“ heraus.

Einen weiteren Einschnitt in dieser Schlacht stellte der erstmalige Einsatz von Panzern dar. Am 15. September griffen die Engländer mit 32 „Tanks“ bei Flers nahe der Stadt Bapaume an. Der Name war bewusst gewählt, um den Gegner über den wahren Zweck der neuartigen, gepanzerten Fahrzeuge irrezuführen. Tatsächlich war die Verwirrung unter den Deutschen groß, entscheidende Wirkung konnte die Panzerwaffe aber noch nicht erzielen, zudem verspielten die Engländer durch den beschränkten Einsatz das Überraschungsmoment. Die Hauptlast des Angriffs lag nach wie vor bei der Infanterie, das Nahziel der alliierten Offensive, die Einnahme von Bapaume, wurde nicht erreicht. Auch bei Verdun wurde die deutsche Linie gehalten. Am 18. November wurde die Offensive eingestellt.

Die Schlacht an der Somme war neben Verdun die blutigste des ganzen Krieges. Gemessen an ihrer Dauer war sie die verlustreichste. Haig wurde zwar Anfang 1917 zum Feldmarschall befördert, doch der Ruf als „Schlächter von der Somme“, der einem veralteten Schlachtplan Hunderttausende Soldaten blind opferte, blieb an ihm haften. Der Historiker Jörn Leonhard schreibt: „Nach der Somme-Schlacht war das Missverhältnis zwischen Raumgewinn und Opferzahlen unübersehbar. In etwa 150 Tagen hatten die deutschen Truppen auf 35 Kilometern Frontbreite etwa zehn Kilometer Gelände eingebüßt. Mit dem Rückzug auf die stark befestigte Siegfried-Linie Anfang 1917 konnten sie aber die Front insgesamt stabilisieren. Die Briten und die Empire-Truppen verloren insgesamt 420.000 Mann, die Franzosen 204.000 Mann, insgesamt hatten die Alliierten 146.000 Tote oder Vermisste zu beklagen. Dem standen 465.000 Mann deutsche Verluste gegenüber, darunter 164.000 Tote und Vermisste.“

© Konstantin Sakkas

Header: „Blackadder and his men before going over the top“. Szenenfoto, BBC 1989.  

Die letzten Tage der Neuzeit. Der Erste Weltkrieg und die eigentliche Idee von Europa

Vor bald hundert Jahren brach der Erste Weltkrieg aus, und mit ihm endete nicht nur eine Epoche, sondern ein Zeitalter. Was danach kam, so schrieb Christian Graf von Krockow in seiner vielbeachteten Studie „Die Entscheidung“ von 1954, ist noch neu, unbekannt und unbenannt. Wir Heutigen blicken auf diese hundert Jahre zurück als auf das erste vollbürtige Jahrhundert einer neuen Zeit, eines neuen Zeitalters.

Die kanonische Dreiteilung der Weltgeschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit war dabei ein vergleichsweise junger Topos. Erst im Jahr 1702 führte ihn der Hallenser Gelehrte Christoph Martin Keller („Cellarius“) in die Wissenschaft ein; zuvor hatte man die Geschichte – von der Erde selbst nahm man damals an, sie bestünde seit sechstausend Jahren – eingeteilt nach den so genannten vier großen Reichen: dem assyrischen, dem persischen, dem griechischen und dem römischen. Den Brückenschlag vom römischen Reich, das 476 n. Chr. mit der zweiten Einnahme Roms durch Odoaker und den Sturz des letzten Kaisers Romulus unterging, vollzog man mittels der Denkfigur der „translatio imperii“: der (geistigen) Übergabe der (Kaiser-)Reichsidee von Rom an die Franken, deren Staat sich im 8. Jahrhundert als europäisches Großreich, von der Bretagne bis nach Mittelitalien, von den Pyrenäen bis nach Ostsachsen zu etablieren begann; mit der Kaiserkrönung Karls des Großen am Weihnachtstage des Jahres 800 als eindrücklichem Höhepunkt.

Der Gedanke, sich nicht mehr im Mittelalter, sondern in einer andren, eben der „neuen“ Zeit zu befinden, tauchte freilich schon früh in den Köpfen der Menschen auf; Jacob Burckhadt datierte in seinem kanonischen Werk „Die Kultur der Renaissance in Italien“ ebenderen Beginn aufs frühe 14. Jahrhundert, und in der Geschichtswissenschaft gelten die geistes-, rechts- und wirtschaftsgeschichtlichen Strömungen, die über Europa seit der Stauferzeit, seit dem 12., Jahrhundert hereingebrochen waren, seit Langem als eindeutige Vorboten der Neuzeit („Renaissance des 12. Jahrhunderts“ ist hier zum Beispiel ein gängiges Schlagwort). Das Gefühl freilich, Neuzeit zu sein, war auch im Jahre noch 1914 ein recht junges – trotzdem ging in ebendiesem Jahr diese Neuzeit, wie es neben Graf Krockow Denker auch wie Martin Heidegger, Hannah Arendt und Hans Blumenberg sehen sollten, schon wieder zu Ende.

Um dies zu verstehen, lohnt es sich, einen Blick auf die geistig-politischen Konstellationen zu werfen, die dem Ausbruch des Krieges vorausgegangen waren. Der Krieg fand statt zwischen den fünf europäischen Großmächten; diese waren seit dem 18. Jahrhundert England, Frankreich, Russland, Österreich (seit 1867 in Realunion: Österreich-Ungarn) und das Deutsche Reich, das 1871 quasi aus dem Königreich Preußen hervorgegangen war. Man sprach hiervon auch als von der „europäischen Pentarchie“. Hinzugekommen als stiller Konkurrent auf dem Feld der Weltwirtschaft waren mit der Unabhängigkeitserklärung 1776 bzw. mit seiner definitiven inneren politischen Einigung 1865 die Vereinigten Staaten von Amerika; eine veritable weltpolitische Rolle spielen sollten sie allerdings erst mit ihrem Eintritt in den Krieg, 1917.

Wir haben es also beim Ersten Weltkrieg konstellativ im Ausgang vorerst mit nichts anderem zu tun als mit einer Neuauflage des uralten europäischen Motivs des Bruderkrieges. Seine Wesensdimensionen konnten religiös, territorial, wirtschaftlich oder allgemein geistig sein; 1914 waren sie vordergründig wirtschaftlich-territorial, aber auf gewisse, unbestimmte Weise auch geistig. Man kann sagen, dass alle europäischen Erschütterungen seit der karolinigschen Zeit, also seit der Zeit Karls des Großen, darauf zurückzuführen sind, dass das von jenem angestrebte und für kurze Zeit auch realisierte Großreich in lauter kleine Einzelstaaten zerfiel, die seit etwa der ersten Jahrtausendwende nach Christus mit Macht nach ihrer politischen, wirtschaftlichen und später auch religiösen und ideologischen Selbstentfaltung strebten.

Besonders deutlich wurde diese Tendenz seit dem Beginn der Neuzeit, der nämlich zugleich der Beginn der so genannten deutsch-französischen Erbfeindschaft ist. Sie begann mit dem Italienfeldzug des Königs Karl VIII. von Frankreich 1494 und endete mit dem deutsch-französischen Freundschaftsvertrag, dem so genannten Élysée-Vertrag, am 22. Januar 1963, dieses letztere ein recht junges Datum, wenn man bedenkt, dass die Mehrheit der Bevölkerung heute es noch erlebt hat (50 Jahre). Sie ging aus vom Kampf um die Vorherrschaft in jenem Teil des alten Karlischen Reiches, der in der Reichsteilung, nach dem Tod seines Sohnes, Ludwig des Frommen († 840), im Vertrag von Verdun 843 als Mittelreich hervorgegangen war. Er erstreckte sich im Groben von der heute niederländischen Nordseeküste über Lothringen, Burgund und die Provence bis nach Norditalien, Mailand und die Lombardei, und von dort aus bis nach Rom, das politisch seit der Einnahme durch die Goten im Fünften Jahrhundert nicht mehr zur Ruhe gekommen war.

Es ist genau dieser Länderschlauch von Norden nach Süden, von Mediävisten spöttisch auch gern als „Kegelbahn“ bezeichnet, in und um den im Ersten Weltkrieg in der Hauptsache gekämpft werden sollte. Der deutsche Feldzugsplan, vom späteren Generalfeldmarschall Alfred Graf von Schlieffen bereits in den 1890er Jahren entworfen, sollte sich genau an diesem territorialen Szenario orientieren: die Masse der deutschen Armeen sollte das französische Heer in einer gewaltigen Umfassung von „rechts“ nach „links“, also von Norden nach Süden drücken und an der Schweizerischen Grenze „zerquetschen“ (daher das bekannte Schlagwort, das der todkranke Schlieffen im Fieberwahn gebraucht haben soll: „macht mir den rechten Flügel stark!“). Der Frontbogen im Westen reichte von Belgien, dessen völkerrechtlich garantierte Neutralität die deutsche Reichsleitung unseligerweise brach (und damit England auf den Plan lief, das ansonsten sehr wahrscheinlich neutral geblieben wäre; aber Belgien, und damit eine Zähmung unsinniger deutscher Annexionswünsche hatte es nun einmal garantiert!), durch Flandern, Vogesen, die Champagne und das alte Herzogtum Burgund (so hatte früher das gesamte Mittelreich zwischen West- und Ostfranken geheißen) bis nach Pontarlier an die Schweizer Grenze.

1915 zerfiel der Dreibund, ein wackliges Bündniskonstrukt aus den 1880er Jahren zwischen den in „Nibelungentreue“ verbundenen Reichen Deutschland und Österreich einerseits und dem jungen Königreich Italien andererseits, und es wurde, und zwar direkt in den Alpen, eine neue Front eröffnet, diesmal zwischen Österreich und Italien, das den Habsburgern noch lange nicht vergessen hatte, dass ihre Sekundo- und Tertiogenituren, ihre Vizekönige und Militärgouverneure einst drei Viertel des Landes beherrscht hatten. Der Krieg erstreckte sich also ziemlich genau in dem Länderschlauch von der flandrischen Nordseeküste bis hinunter in die Lombardei und an die Adriaküste, um dessen Besitz sich nicht nur die Enkel Karls des Großen im Neunten Jahrhundert gerissen hatten; sondern um den noch in der gesamten frühen Neuzeit, von den so genannten Italienkriegen (1494-1558) über die „Raubkriege“ Ludwigs XIV. und den Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) bis zu den so genannten Koalitionskriegen zwischen dem revolutionären Frankreich und den alten europäischen Monarchien (1792-1814) gerungen wurde. Rein territorial und rein europäisch betrachtet, war es das Erbe Karls des Großen, um das die fünf europäischen Großmächte 1914 bis 1919 stritten.

Anders betrachtet ging es freilich um viel, viel mehr. 1814, als Napoleon in der Schlacht bei der Stadt Arcis-sur-Aube durch den österreichischen Fürsten Schwarzenberg geschlagen wurde und ein paar Wochen Paris die weiße Fahne hisste, befand Europa strukturell sich noch tief im Mittelalter. Es gab keine Elektrizität, keine Mobilität auf der Schiene, keine Aviatik. 1914 dagegen steht Europa tief in der Moderne. In keinem Jahrhundert wurden so viele wegweisende Erfindungen und Entdeckungen gemacht wie im 19. Quantitativ sind ihm das 20. und 21. sicher überlegen, aber qualitativ ist der Abstand zwischen 1814 und 1914 viel größer als der zwischen 1914 und 1963 es war, oder der zwischen 1963 und 2013. Die Informationstechnologien und die Verteilungsstrukturen des Wohlstandes haben sich zum Teil radikal verändert; aber mentalitär steht Europa seit der „Stunde Null“, seit 1945 in einer Art positiver Schockstarre, einem Gefühl des Nicht-mehr-beteiligt-seins, der Entpolitisierung, das dann 1992, als auch der Kalte Krieg Geschichte war, Francis Fukuyama mit dem Schlagwort vom „Ende der Geschichte“ auf den Punkt bringen sollte.

Winston Churchill sah bekanntlich die Zeit von 1914 bis 1945 als einen zweiten „europäischen Dreißigjährigen Krieg“ an, in dem alles durcheinandergewirbelt wurde. Zwei unmittelbare Konsequenzen hatte dieser Dreißigjährige Krieg: erstens: er rief die USA auf den Plan, die sich binnen Kurzem als den europäischen Vorstellungen von Wirtschaftlichkeit und militärischer Schlagkraft heillos überlegen entpuppten. Zweitens: er holte den Orient und mit ihm den Islam auf die Bühne des weltpolitischen Theaters.

Seit dem Kreuzzugszeitalter hatte sich das Türkische Reich, das sich später nach seinem dynastischen Gründer osmanisch nennen sollte, klandestin als heimliche Ordnungsmacht herauspräpariert, die, zwar dem Anschein nach gegen Europa gerichtet, in Wahrheit durch äußeren Druck immer wieder dafür sorgt, dass Europa zusammenbleibt. Letztmalig manifestierte sich dies in jener Klausel der Wiener Gründungsakte der Heiligen Allianz, die den Sultan in Konstantinopel vom Beitritt ausschloss, da er eben kein Christ sei.

Das ganze 19. Jahrhundert dann drehte sich machtpolitisch um die Erhaltung der Türkei, des „kranken Mannes am Bosporus“. Hatten die Türken noch 1683 „vor Wien“ gestanden und als der Schrecken der zivilisierten Welt gegolten, so wurden sie nun von der europäischen Diplomatie auf einmal geradezu liebevoll gepflegt. Die große Angst, die alle umtrieb, war nämlich: dass im Nahen Osten, der alten geographischen Schlüsselregion Europas, die beiden großen Gegenspieler im Kampf um die „Aufteilung der Welt“ einmal blutig zusammenstoßen würden: England und Russland.

Noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts war die große Angst des gebildeten Europäers, dass es zu einem „Weltkrieg“ zwischen diesen beiden Mächten kommen könnte. England, das Mutterland des Kolonialismus, damals Herrscherin über ein Viertel der Erdoberfläche, und Russland, der spätberufene Neuzugang ins europäische Mächtekonzert, der sich seine Rolle als heimlich Schutzmacht Preußens zwischen 1763 und 1871 erarbeitet hatte und nun nicht nur als Schutzpatron der panslawistischen Freiheitsbewegung im österreichisch regierten Osteuropa auftrat, sondern zugleich die „Befreiung“ der orthodoxen Glaubensbrüder auf dem Balkan und im Kaukasus im Schilde führte, was auf nichts anderes hinauslief als auf eine Expansion in den Nahen und Mittleren Osten, nach Syrien und Persien, an die Grenzen Indiens, das britische Kronkolonie war, seit 1876 mit dem Status eines Titularkaisertums. Hier, sowie auf den Weltmeeren – die Kriegsmarine galt als Teilstreitkraft der Zukunft – erwartete man den großen Zusammenstoß von Bär und Walfisch, von Russland und England.

Vergleichsweise unbedeutend nahm sich daneben der andere Konflikt aus, der das europäische politische Geschehen seit 1871 dominierte. Der deutsch-französische Gegensatz schien dadurch, wenn auch gewaltsam, gelöst, dass es Deutschland unter „Führung“ Preußens und Otto von Bismarcks gelungen war, sich politisch zu einigen und dabei die linksrheinischen Gebiete zu verteidigen. Einziger Stachel im Fleische: die neuen „Reichslande“ Elsass-Lothringen, die die Sieger 1871 sich gleichsam als Kriegsbeute ausbedungen hatten – Land, das zwar vor Jahrhunderten einmal deutsch gewesen, seit Ludwig XIV. aber nun einmal französisch war, dessen Bevölkerung mehrheitlich französisch dachte und fühlte und, auch der wohlwollendsten Behandlung durch die deutschen Behörden trotzend, im Traum nicht daran dachte, seine eigentliche, innere Nationalidentität aufzugeben. Hier lag die Keimzelle des französischen Revanchismus seit 1871, und der Grund, warum in den vierzig Jahren bis zum Ausbruch des Weltkrieges Deutschland und Frankreich schlechterdings nie ein Bündnis miteinander eingegangen sind.

Durch die Reichseinigung und das durch sie freigesetzte wirtschaftliche und militärische Potenzial aber – Deutschland war um 1900 hinter den USA und vor England die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt – war Deutschland zum Zünglein an der Waage geworden; es war de facto, wie Sebastian Haffner festhielt, die stärkste Macht des Kontinents geworden, und – man bedenke! – dies aus dem Nichts! 1866 gab es noch den alten Deutschen Bund, verfassungsrechtlich eine Art Blinddarm des Heiligen Römischen Reiches, mit einer fürstenrepublikanischen Verfassung und zeitweise 39 Mitgliedsstaaten; fünf Jahre später gab es ein Deutsches Reich. Jeder, mit Ausnahme Frankreichs natürlich, wollte mit diesem Deutschen Reich verbündet sein, um seine jeweiligen Ziele durchzusetzen. Nur Deutschland selber, das hatte sein Gründer Bismarck erstaunlich aufrichtig eingeräumt, hatte kein wirkliches außenpolitisches Ziel mehr; es war gesättigt, „saturiert“.

Kritiker Deutschlands, d.h. Preußens, warfen und werfen Bismarck, dem „Barbaren von Genie“, denn auch bis heute vor, er sei ein Unruhestifter gewesen, der das alte europäische Gleichgewicht zerstört habe. Fakt ist, dass Bismarck selber um die Labilität seines machtpolitischen Konstrukts am besten wusste: der sprichwörtliche „Alptraum der Koalitionen“ (cauchemar des coalitions) sollte ihn bis an sein Lebensende nicht mehr verlassen.

Dass der alte Fürst Bismarck 1890 durch eine Hofintrige und mit Wissen und Wollen des jungen, juvenilen Kaisers Wilhelm II. gestürzt wurde, wird bis heute bei Laien und Fachpublikum als schwerer Fehler angesehen und als πρῶτον ψεῦδος, als erster Fehler, der schließlich 24 Jahre später zum Ausbruch des Weltkrieges geführt habe. Erst in den letzten zehn Jahren wurde das ehedem fast schon kanonische Verdammungsurteil über den letzten Deutschen Kaiser behutsam korrigiert, unter anderem von Christopher Clark und Eberhard Straub, nachdem bereits in den Neunziger Jahren der Berliner Essayist Nicolaus Sombart einen ingeniösen Vorstoß in diese Richtung unternommen hatte.

Tatsache ist, dass sich Deutschland 1890 bündnispolitisch in einer unentscheidbaren Situation befand. Es konnte es nur falsch machen, wäre es nun mit Russland (wie zu Bismarcks Zeiten) oder mit England gegangen (wie es von der englischen Politik vor und nach Edward VII., der von 1901 bis 1910 regierte, immer wieder favorisiert wurde). Deutschland war zum ersten Mal in seiner Geschichte, um im Jargon der Bismarckzeit zu reden, vom „Amboss“ zum „Hammer“ geworden – aber es wusste mit diesem Hammer nichts anzufangen. Deutschland, nicht England, wählte mit dem Regierungsantritt Wilhelms II. 1888 die splendid isolation – in die weltpolitischen Konjekturen Englands und Russlands sinnvoll eingreifen konnte es nicht.

So kam es 1907 zu dem diplomatischen Ereignis, das niemand für möglich gehalten hätte: England und Russland, die auch ideologisch denkbar weit voneinander entfernt waren (England, eine parlamentarische Monarchie und hochindustrialisiert, Russland, ein autokratischer Agrarstaat, bei dem die große Revolution nur eine Frage der Zeit war), schlossen ein Bündnis miteinander, da beide jeweils schon mit Frankreich separat verbündet waren, gab es nun offiziell die „Tripleentente“. Der Ring der „Einkreisung“ um Deutschland war geschlossen.

Als am 28. Juni 1914 der Thronfolger der k. u. k. Monarchie, Erzherzog Franz Ferdinand, bei einem Manöverbesuch in Sarajewo von serbischen Nationalisten ermordet wurde, dauerte es noch fünf Wochen, bis sich ganz Europa im Krieg befand. Bosnien und die Herzegowina waren 1908 unter internationaler Duldung von Österreich besetzt worden, unter Missbilligung Russlands, das den Balkan seit den Tagen Katharinas der Großen als seine Hegemonialsphäre betrachtet hatte. Russlands Schutzmacht war Serbien, Serbien machte alle Anstalten, es der national empörten österreichischen Bevölkerung recht zu machen, aber es half nichts: unter den 26 Punkten des österreichischen Ultimatums an die königlich-serbische Regierung in Belgrad befanden sich jene berüchtigten zwei, die keine Regierung der Welt hätte annehmen können, ohne die Souveränität ihres Staates zu blamieren. Die Teilablehnung und damit der casus belli war von der österreichischen Kriegspartei eingeplant.

Unmittelbar darauf schaltete sich erwartungsgemäß Russland ein, das ein österreichisches Vorgehen gegen Serbien nicht dulden mochte; Russlands Vorstoß rief das Deutsche Reich auf den Plan, das sich mit Österreich auf Leben und Tod verbündet und der Regierung in Wien eine unbeschränkte Vollmacht (der berühmte „Blankoscheck“) für ihr Vorgehen gegen Serbien ausgestellt hatte (denn nur mit dem mächtigen, wirtschaftlich potenten und militärisch hochgerüsteten Deutschland im Rücken konnte das altmodische, zurückgebliebene Österreich einen Waffengang überhaupt wagen). „Unter Tränen“, wie es heißt, überreichte der deutsche Botschafter in St. Petersburg, Friedrich Graf v. Pourtalès, am 1. August die deutsche Kriegserklärung (noch vierzig Jahre zuvor waren Russland, das eine deutsche Dynastie, die Schleswig-Holstein-Gottorf, regiert, und Preußen eng Freunde gewesen). Da aber zwischen Russland und Frankreich seit 1894 ein Offensiv- und Defensivbündnis besteht, erklärt Deutschland vorauseilend am 3. August auch Frankreich den Krieg. Denn auf diesen, eigentlich unsinnigen, Konflikt hat man sich eingestellt, und das schon seit zwanzig Jahren.

Hier vollends wird der Hergang dieses Kriegsausbruches vollends unbegreiflich. Der Konflikt auf dem Balkan (der vier Jahre später im Übrigen erwartungsgemäß mit dem Auseinanderbrechen der beiden verbliebenen Vielvölkerreiche in Südosteuropa enden wird: Österreich-Ungarn und Osmanisches Reich) erweist sich als bloßer Seitenschlich, um den uralten Konflikt Frankreich-Deutschland wieder aufleben zu lassen. Die vielbeschworene Gefahr der „russischen Dampfwalze“ (tatsächlich ist die russische Armee kaum moderner als die österreichische, zudem ist die Kampfmoral der unter dem zaristischen System leidenden Rekruten miserabel) wird durch die Schlachten bei Tannenberg und an den Masurischen Seen noch im Herbst durch die deutsche 8. Armee unter ihrem Generaloberst von Hindenburg, dem späteren Reichspräsidenten, aufgehalten. Dagegen beißen sich die sieben deutschen Armeen, die in einem hektischen Vorstoß Paris einzunehmen gehofft hatten und der französischen Hauptstadt auch schon auf hundert Kilometer nahegekommen waren, im September an der Marne fest („Wunder an der Marne“). Damit ist der Krieg im Westen für beide Seiten an den strategischen Nullpunkt gestoßen, bevor er richtig angefangen hat. Vier Jahre lang wird das jetzt so gehen: mal verbuchen die Franzosen, mal die Deutschen minimale Gebietsgewinne. Aber es bleibt ein Patt.

Entscheidend dafür ist allerdings, dass sich seit dem 4. August auch Großbritannien im Krieg mit Deutschland befindet. Die deutsche Oberste Heeresleitung hatte aus puren aufmarschtaktischen Gründen das neutrale Belgien überrennen lassen – und damit Englands ultimative Bedingung verletzt, unter der es in den Krieg im Westen nicht eingegriffen hätte (wodurch dieser vielleicht wirklich nach wenigen Wochen für Deutschland entschieden worden wäre). Und die vielen hunderttausend britischen Soldaten, die nun auf französischer Seite zum Einsatz kommen, verschieben das Kräftegleichgewicht natürlich zuungunsten Deutschlands.

Deutschlands ganzes Verhalten in diesem Krieg weist selbstzerstörerische Züge auf: vom unbedingten, aber gar nicht nötigen Eintreten für Österreich und seine verheerende Expansionspolitik auf dem Balkan über die fatale Verletzung der Neutralität, die Eröffnung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges im Jahr 1917, wodurch die USA auf Seiten der Entente in den Krieg gerufen werden, bis hin zu den unverschämten Friedensbedingungen von Brest-Litowsk im März 1918, wodurch faktisch ein osteuropäisches Kolonialreich unter deutscher Führung geschaffen werden soll – ein Gewaltakt, als dessen umgehende, gerechte Strafe man den Diktatfrieden von Versailles ein Jahr darauf mittlerweile auch in der Forschung auffasst. Unter allen beteiligten Mächten hatte das Deutsche Reich am wenigsten Grund zum Kriege, und unter allen Kriegszielen waren seine am wenigsten gedeckt, sei es durch Logik, sei es durch Emotion.

Die Frage nach der Kriegsschuld ist seit dem Krieg selber oft gestellt worden, und mit einer Insistenz wie sonst bei keinem Krieg in der Geschichte. Der Erste Weltkrieg brach aus, der zweite wurde entfesselt – über diese Formel herrscht in Forschung und Publikum seit Langem Einigkeit, und auch jüngere, meinungsstarke Beiträge aus der Literatur haben daran nichts geändert. Die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, als die George F. Kennan den Weltkrieg in einer berühmten Wendung bezeichnete, ist in ihrer Genese heute so sehr ein Faszinosum wie vor einhundert Jahren.

Freilich folgt in der Geschichte alles einer inneren, und wiederum auch überzeitlichen, seinsmäßigen Logik. Und nach dieser Logik hatte das europäische Zeitalter politisch ausgedient. Fünfzehnhundert Jahre lang, seit dem Untergang Roms, hatten die europäischen Mächte das Politische in seiner territorialen Praxis ausgelotet in alle Richtungen; 1914 stießen sie endgültig an ihre Grenzen, und es war nur folgerichtig, dass sich die Bevölkerung Mitteleuropas mit der Niederlage 1918 zugleich ihrer Monarchen – allein in Deutschland waren dies zwanzig regierende Herren – entledigte; denn das abrahamitische Prinzip, wonach der Fürst Hirte seiner Völker ist und sie sicher durchs Ungewisse führt, hatte seine historische Legitimität verloren. Dass sich die Deutschen um ihr historisches Heldenepos betrogen fühlen sollten; dass der Verlust des Kaisers einen tief in der Volksseele verwurzelten Vaterkomplex aktivieren sollte, stand dabei auf einem anderen Blatt.

Vielleicht begreifen wir das Phänomen dieses Krieges, der aus seiner eigenen Tradition so sinnlos und fremd hervorragt, besser, wenn wir ihn aus der zukünftigen Perspektive heraus betrachten. Keine hundert Jahre sind seither vergangen, und das Antlitz Europas und der Welt hat sich vollständig geändert. Die klassische Machtpolitik ist, im Modus ihrer erratischen, infernalischen Überspitzung durch das Deutsche Reich in zwei Weltkriegen, aus dem Repertoire der europäischen Politik verschwunden; wir sind vollends ins Zeitalter des Wirtschaftlichen eingetreten, und das heißt auch: der konsequenten Wohlfahrts- und Wohlstandsförderung. Die USA und China haben die Rolle übernommen, die bis 1914 den fünf Großmächten vorbehalten gewesen; Europa kehrt stattdessen langsam zu seinen alten, unter dem Wust einer tausendjährigen Ver- und Entwicklung verschütteten Wurzeln zurück; es wird langsam wieder ein Europa der Regionen.

Regionalität ist die Wurzel des Europäischen. Der universelle, territorial nach innen vereinnahmende und nach außen ausgreifende Machtstaat war stets etwas Fremdes, ein orientalischer Oktroy, gegen den sich die Griechen einhundert Jahre lang gewehrt haben, bis der Große Alexander die Idee des Universalreiches im Rahmen eines genialen, abenteuerlichen, und doch wiederum wahnwitzigen Unternehmens in seine mediterrane Heimat importierte. Von Griechenland, das so auf einmal zum Mutterland der modernen Monarchien wurde – Alexander Demandt wies in seinem glänzenden Alexander-Buch, das vor vier Jahren erschien, zuletzt darauf hin –, ging diese Idee über auf Rom, dessen Imperium sich ja nicht um ein Land, sondern um eine einzelne, übermütige Stadt herumscharte (wen wundert es da, dass bis heute der Regionalismus gerade in Italien und Griechenland so besonders spürbar ist?), um sich dann im Gewimmel der Völkerwanderung zu verlieren. Karl der Große-Charlemagne, auf den sich die beiden Mutternationen des postmodernen Europa, Frankreich und Deutschland, als Ideenstifter berufen, stellte das Reich wieder her, aber nicht ursprünglich als politische, sondern vielmehr als Stammeseinheit. Die nationelle, politische Aufladung kam erst durch den Kaisertitel hinzu; seitdem glaubte sich jeder seiner Nachfahren dazu berufen, aus seiner eigenen Nationalität heraus Europa als Gesamtstaat einrichten zu müssen. Der europäische Urgedanke: ein freies Miteinander unterschiedlicher Stämme und damit Regionen zu sein, geriet in Vergessenheit. Es wurde beansprucht, arrondiert, geraubt und wieder zurückgeraubt, eintausend lange Jahre lang.

1914 brach das Kartenhaus des europäischen Nationalismus endlich in sich zusammen. Mit dem ersten Krieg allein war es freilich nicht getan; es bedurfte der noch viel schrecklicheren Entwicklungen über jenes Kontinuum von 1914 bis 1945 hinweg, bis sich Europas martialische, selbstzerstörerische Energien endgültig erschöpft hatten. Aber 1914 war das erste Aufleuchten, der erste laute Knall, der die Völker Europas daran gemahnte, dass sie Brüder sind, nicht Konkurrenten, und dass das Zeitalter der Bruderkriege seinem Ende entgegen geht.

So ist es kein Zufall – wie ohnehin überhaupt nichts in dem großen Zeitbogen, den wir Geschichte zu nennen gewohnt sind, „zufällig“ ist –, dass sich der „Große Krieg“, wie ihn Franzosen und Engländer mit pathetischer Hellsicht immer noch nennen, vorzüglich abspielte auf den Schlachtäckern auf jener Länderbahn zwischen Ostende und den Alpen; zwischen Belgien, dem jüngsten ,und der Schweiz, dem ältesten neutralen Staat in Mitteleuropa, deren einer nach dem ersten Krieg Sitz des Völkerbundes wurde, während der andere nach dem anderen, noch schlimmeren Krieg Sitz der Europäischen Union wurde. Der europäische Gedanke, das heißt: die Abkehr vom Nationalen, die Entschärfung des Politischen, die Übertragung der Ideale von Einheitlichkeit und Einheit vom Ganzen auf das Individuum: auf den Blutfeldern des Ersten Weltkriegs, der alle Grausamkeit und Absurdität des Kriegerischen in greller Schnörkellosigkeit ans Licht brachte, schälte er sich unter Mühen und Konvulsionen aus seiner historischen Verschalung.

Nicht verwunderlich, sondern nur folgerichtig ist die Doppelrolle, die hierbei Deutschland spielte. Wenngleich formell – das haben die Forschungen der vergangenen Jahre eindrücklich gezeigt – nicht mehr und nicht weniger schuld am Kriegsausbruch als die andern Beteiligten (hatte es doch selber am allerwenigsten Grund dazu), so war es doch, wie seit dem Mittelalter, wie schon in der Römerzeit, die „deutsche Frage“, woran sich die Zukunft Europas entscheiden sollte. Deutschland nahm, in unseliger, kindischer und zugleich gewalttätiger Verblendung, die Last der historischen Schuld auf sich: sich auf diesen sinnlosesten aller Kriege eingelassen, ihn erst zu dem gemacht zu haben, was er wurde: nämlich zu den „letzten Tagen der Menschheit“ (Karl Kraus), auf dass am Ende die Idee vom staat-losen, apolitischen Europa: dem Europa der Regionen, dem Europa der Brüderlichkeit, in der unwiderleglichen Alternativlosigkeit vor seinen Völkern stehe, wie sie nur das Erlebnis dieses Krieges in die Geister hat prägen können. Die falsche Form musste mit Gewalt zerbrochen werden, auf dass das gute Innere, die reine Materie zur Entfaltung kam: die uralte, mythische Idee von der Pax Europaea, vom europäischen Frieden.

© Konstantin Sakkas, 2013

Der Text erschien in leicht geänderter Fassung in der Ausgabe Januar 2014 in der Zeitschrift Die Drei.

Titelbild: Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich und seine Frau Sophie am Tag ihrer Ermordung, Sarajevo, 28. Juni 1914.

Europas verlorener Sohn. Das Schicksal Friedrichs des Großen

Eine politische Geschichte ist immer auch eine Lebensgeschichte. Doch kein politisches Schicksal war so sehr vom persönlichen bestimmt wie das König Friedrichs II. von Preußen. Das wussten schon die Zeitgenossen, und der bekannte Vierzeiler, den die Flugblätter bei seinem Tod, am 17. August 1786, als Nachruf druckten, sagt eigentlich schon alles Wesentliche über diesen merkwürdigsten unter allen großen Monarchen der europäischen Neuzeit aus:

„Es sagen, Friedrich zu erhöhn,
Geschichte und Nachruhm viel zu wenig.
Von allen Menschen kann man hier den größten König,
Von allen Königen den größten Menschen sehn.“[1]

Der Nachwelt, unserer heutigen abgeklärten zumal, mögen diese Verse als einfältige Hagiographie erscheinen; beim genauen Lesen aber entbirgt sich gerade in ihnen das Geheimnis, das Friedrich bis heute umgibt und das schon Goethe zu der nachdenklichen Feststellung brachte, es sei „was Einziges um diesen Menschen“[2]: Denn Friedrich, ohne Zweifel einer der schärfsten und klügsten Geister seiner Epoche, blieb zeitlebens, und gerade im politischen Handeln, doch von seiner Emotionalität bestimmt. Was er dennoch als politisches Erbe hinterließ, blieb Fragment, ideell und territorial; aber das Interesse, das er trotz aller goldener und schwarzer Preußenlegenden bis heute auf sich zieht, galt seit je vor allem seiner Persönlichkeit. Den statuarischen Eindruck eines runden, in sich kohärenten und schlüssigen und dabei recht eindimensionalen Lebens, den uns Caesar und Napoleon vermitteln, hat man bei ihm nie; Friedrich ist ein Zerrissener. Doch eben daher rührt auch jene uralte Friedrich-Faszination: dass ein Mensch seine Zerrissenheit lebt und auslebt, und dies nicht bloß erotisch oder künstlerisch, sondern auf der Weltbühne der großen Politik.

Zur politischen Verantwortung gehörte im ausgehenden ancien régime die Repräsentation des Ganzen; und zwar nicht im postmodernen Sinne medialer Außendarstellung; sondern als ganzheitlicher Ausdruck des Menschseins, und zwar vor und für die Masse der Untertanen. Paradoxerweise hat Friedrichs Königtum, das ja als Prototyp des aufgeklärten Absolutismus gilt, sehr viel von diesem esoterischen Symbolismus der Königsherrschaft, den Thomas Mann einmal glänzend in dem Satz zusammenfasste: „Die Hässlichkeit und Bitternis des Lebens kennt man ganz nur in den Niederungen der Gesellschaft und an ihrer höchsten Spitze.“[3]

Von der Bitternis des Lebens hat Friedrich schon früh gekostet. „Heimsuchung eines Prinzen“[4] nannte Wolfgang Venohr sein Jugendschicksal und traf damit den Kern dessen, was das psychologische Schlagwort vom „Vater-Sohn-Konflikt“ nicht ausreichend umschreibt: In Wahrheit war es eine fortwährende, fast zwanzigjährige Drangsal, eine gründliche körperliche und seelische Vergewaltigung, die dem Heranwachsenden von seinem Vater, dem „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I., angetan wurde und die ihn für sein Leben beschädigte und ruinierte. Seiner Schwester Wilhelmine – der einzigen Frau, die er im tieferen Sinne in seinem Leben wohl „geliebt“ hat – beschrieb der Siebzehnjährige sein Martyrium so:

„Ich bin in der größten Verzweiflung. […] Der König hat gänzlich vergessen, dass ich sein Sohn bin. […] Ich trat heute morgen wie gewöhnlich in sein Zimmer. Kaum hatte er mich erblickt, als er mich am Kragen packte und in der grausamsten Weise mit dem Stocke auf mich losschlug. Ich suchte vergeblich, mich zu wehren; er war in einem so schrecklichen Zorn, dass er sich nicht mehr beherrschte, und er hielt erst inne, als sein Arm vor Müdigkeit erlahmte.“[5]

Körperliche Gewalt, mehr noch aber seelische Erniedrigung und der perverse Zwang zur Selbstverleugnung haben den Prinzen für sein Leben traumatisiert. Bei einem Manöver in Kursachsen 1728 schlägt ihn der Vater in aller Öffentlichkeit mit dem Stock blutig. Als Friedrich auf dem Höhepunkt des Konflikts 1730 bei einer Inspektionsreise am Rhein einen Fluchtversuch unternimmt und damit scheitert, kommt es zu einer weiteren Eskalation: Der Vater stürzt sich mit gezogenem Degen auf den Sohn und will ihn erstechen; nur das Dazwischentreten des Kommandanten der Festung Wesel, wo man sich gerade aufhält, verhindert einen Sohnesmord. Leutnant von Katte, der geliebte Jugendfreund des Prinzen, der ihm zur Flucht nach England verhelfen wollte, wird vor ein Kriegsgericht gestellt; man erkennt auf lebenslange Haft, aber der König persönlich ändert das Urteil ab und verurteilt Katte zum Tode. Der Hinrichtung muss Friedrich, der selber unter strenger Bewachung steht, zusehen. Und auch der Sohn soll sterben. Kaiser Karl VI. und der greise Prinz Eugen intervenieren persönlich für den preußischen Kronprinzen; Fürst Leopold von Anhalt-Dessau, der erste Feldherr Preußens, fällt vor dem König auf die Knie und bittet um Gnade; das rettet dem Jungen das Leben.

Friedrich ist achtzehn Jahre alt, als dies über ihn hereinbricht. Das sind die Jugenderinnerungen, mit denen ein junger Mann, der den Thron erben soll, ins Erwachsenenleben tritt.

Man darf diese Vorgeschichte nie vergessen, wenn man das politische Schicksal Friedrichs des Großen voll begreifen will. Ihre Schatten haben ihn nie verlassen; der Schatten des gewalttätigen Vaters, der den Knaben aus heiterem Himmel mit der Vorhangskordel erdrosseln will. Hierher rührt jene „vergewaltigte Kindlichkeit, die hinter physischer Kraftleistung, Hochspannung, schallender Aktivität fühlbar wurde“[6] und die bei aller Genialität, bei aller hinreißenden Liebenswürdigkeit und Schneidigkeit nie ganz von ihm wich.

Vorerst freilich freute sich der Achtundzwanzigjährige, der 1740 den Thron bestieg, seiner neu gewonnenen Freiheit. Schnell erkennt er, dass Preußen, ein armer Agrarstaat von gerade zwei Millionen Einwohnern und noch deutlich vom Aderlass des Dreißigjährigen Krieges gezeichnet, nur bestehen kann, wenn er expandiert. Er entschließt sich zu einem folgenschweren Schritt und annektiert Schlesien, eine der reichsten Provinzen Österreichs. Diese schlesische Annexion wird nach dem Vater sein zweites Schicksal.

Europas politisches Gedächtnis hat Friedrich den Überfall auf Schlesien, den George P. Gooch recht gouvernantenhaft „eines der sensationellsten Verbrechen der neueren Geschichte“[7] nannte, bis heute nicht verziehen – wegen seines sensiblen Charakters, dessen Feinheit man mit Weichheit verwechselte und dem man kriegerische Ambitionen nicht zutraute; vor allem aber wegen der geistesgeschichtlichen Situation. Hätte Friedrich seinen so genannten schlesischen Raub ein halbes Jahrhundert früher begangen, spräche heute kein Mensch mehr davon; ebenso wenig wie von den Reunionen Ludwigs XIV., der Verwüstung der Pfalz und dem anschließenden Weltenbrand, den Frankreich und Habsburg im Jahr 1701 um die spanische Thronfolge entfachten. Aber 1740 lagen die Dinge anders. Die Philosophie der Aufklärung hielt langsam Einzug ins kollektive Bewusstsein; vor allem aber hatte niemand damit gerechnet, dass gerade Friedrich von Preußen die Vorstellungen von politischer Moral, die sich ja gerade erst herausbildeten, so fundamental infrage stellen würde. Denn 1739, nur ein Jahr zuvor, hatte er, noch als Kronprinz, jene Schrift veröffentlicht, an der sein Leben lang, und darüber hinaus, gemessen werden sollte: den Anti-Machiavel.

„Der ‚Antimachiavell‘“, so urteilte Joachim Fest, „ist häufig als ein Dokument unverbindlicher, literatenhafter Schwärmerei gedeutet worden. In Wirklichkeit traten in der Streitschrift Überzeugungen hervor, die mit [Friedrichs] innersten Wesen zu tun hatten. Doch hat er den Widerspruch zwischen humanitärem Ehrgeiz und den Zwängen der Staatsräson nie aufgelöst: er hat der Macht seine Träume, seine Maximen und, wie er selber geäußert hat, sein Leben geopfert – und sie doch illusionslos verachtet; er hat Kriege geführt – und darunter gelitten. Man verfehlt das Wesen der Erscheinung, Friedrichs lebenslangen Konflikt mit dem, was er für seine Schuldigkeit hielt, wen man darin nur den Ausdruck jener sentimentalen Cäsarenpose sieht, die auf Eroberungszügen die Tragik beklagt, dem Glück der Untertanen nicht auf andere, menschenfreundlichere Weise dienen zu können.

Die Bereitschaft zur Selbstverleugnung, die Neigung, alle sanfteren Bedürfnisse als Wehleidigkeit abzutun, hat schließlich typenbildend gewirkt und den Kern dessen hervorgebracht, was man den preußischen Charakter nennt. Nie zeigte er sich gelöst, nie frei, sondern immer überwach, nervös, immer auf dem Quivive, in […] ‚fürchterlicher Überspanntheit’ […].“[8]

Diese Überspanntheit war das Erbe seiner Jugend, das er, wenn auch modifiziert, ins Mannesalter mit hinüber nahm. Die verzehrende Angst vor Vernichtung war die eine, der brennende Ehrgeiz zur Selbstbewährung die andere Konstante seines Charakters. Mit dem schlesischen Raub, der freilich Preußen in der Tat territorial und machtpolitisch erst „eine Figur gab“[9], wie Friedrich es ausdrückte, wollte er sich bewähren, wollte der Welt zeigen, dass er es locker mit den royalen Vettern im Reich, in Frankreich, England und Österreich aufnehmen konnte. Doch Friedrich geriet an Maria Theresia. Für die blutjunge Erzherzogin wird das Jahr 1740, als halb Europa über ihr österreichisches Erbe herfällt, zum bleibenden Trauma; den Traum von der Rückgewinnung Schlesiens gibt sie bis an ihr Lebensende nicht mehr auf. Die Geister, die er hier rief, sollte Friedrich nicht mehr loswerden. Sein Biograph Johannes Kunisch schreibt:

„Schon hier fällt auf, wie sehr Friedrich dazu neigte, in Extremen zu denken, und dass er als Möglichkeiten seines Handelns nur die Katastrophe oder den Triumph zu erkennen glaubte. Es ist jenes Prinzip des alles oder nichts, das dann besonders in den Krisen des Siebenjährigen Krieges seinen Selbstbehauptungswillen ins Heroische zu steigern vermochte. […] Anzeichen für dieses aus einer traumatisch erfahrenen Bedrohung erwachsene Lebensgefühl hatte es auch während der Kronprinzenzeit gegeben. […] Seit dem Schlesienabenteuer jedoch gewann die innere Spannung zwischen einem elementaren Durchsetzungswillen auf der einen und einem bis in tiefe Depressionen reichenden Fatalismus auf der anderen Seite eine politische Dimension, die dann für die gesamte Regierungszeit des Königs prägend blieb,“[10]

Freilich: in den ersten Jahren gelingt dem jungen König Friedrich alles. Er erobert Schlesien im Handstreich, verteidigt die neugewonnene Provinz in einem zweiten schnellen Krieg und erwirbt sich Meriten als Reformer im Innern. Die Folter wird abgeschafft, die Zensur gelockert und strikte religiöse Toleranz geübt. Schloss Sanssouci wird errichtet, und die Freundschaft mit Voltaire, der sich 1752 für eine zeitlang in Potsdam niederlässt, verleiht dem frankophilen König, der Deutsch nur „wie ein Kutscher“[11] spricht, aber sechs Bände französischer Poesie hinterlassen hat, den legitimen Nimbus europäischer Geistesgröße.

In jenem zweiten Schlesischen Krieg von 1744 bis 45 bildet sich auch sein Feldherrntalent heraus, und beim Einzug im winterlichen Berlin Ende 1745 akklamiert man ihn, der bei Hohenfriedeberg seinen ersten selbständigen Sieg erfochten hat, schon als „Fridericus magnus“, als „Friedrich den Großen“[12]. Sekurität aber, das Gefühl, „angekommen zu sein“, will sich bei allem ernstgemeinten Verzicht auf weitere Eroberungen nicht einstellen. Die Preußen, so schreibt der König, müssten „toujours en vedette“ sein, ‚immer auf Posten’ und „stets mit gespanntem Ohr auf der Wacht gegen ihre Nachbarn stehen und jeden Augenblick bereit sein, die verderblichen Absichten ihrer Feinde abzuwehren“[13]. Dass das kein Grundsatz gesicherter Staatlichkeit ist, weiß Friedrich selber am besten; die Einverleibung Schlesiens stempelt ihn, der es den europäischen Großmächten doch nur gleichtun, sein Preußen von einer dritt- zur zweitklassigen Macht erheben wollte, zum „Aggressor und Friedensbrecher“[14]:

„Ich hoffe, die Nachwelt, für die ich schreibe, wird bei mir den Philosophen vom Fürsten und den Ehrenmann vom Politiker zu scheiden wissen. Ich muss gestehen: wer in das Getriebe der großen europäischen Politik hineingerissen wird, für den ist es sehr schwer, seinen Charakter lauter und ehrlich zu bewahren. Immerfort schwebt er in Gefahr, von seinen Verbündeten verraten, von seinen Freunden im Stich gelassen, von Neid und Eifersucht erdrückt zu werden“ [15]

Das waren ehrliche Worte, aber sie wurden nicht gehört. Seit dem Dresdner Frieden 1745 arbeitet Maria Theresia, die ihren lothringischen Gemahl Franz Stephan nun endlich auf dem Thron Karls des Großen placiert hat, an der Revanche, und 1756 ist es soweit. Friedrich, den seine Agenten in Dresden über die geheimen Bündnisverhandlungen zwischen Österreich, Sachsen und Russland auf dem Laufenden halten, entschließt sich zum Präventivschlag und marschiert in Sachsen ein. Wieder steht er als Rechtsbrecher da, wieder kommt zur existenziellen Bedrohung der Ruch des Verbrechertums und der Verworfenheit.

Freilich begründet dieser dritte Schlesische Krieg, der sieben Jahre dauern soll, auch den Ruhm des Großen Königs – und mit ihm den ersten deutschen Nationalmythos seit dem Dreißigjährigen Krieg, seit Gustav Adolf. „Und so war ich denn auch preußisch, oder um richtiger zu reden, Fritzisch gesinnt“, bekannte später Goethe, der als kleiner Junge im Frankfurter Elternhaus begierig die Neuigkeiten von der Front aufgesogen hatte, setzte aber hinzu: „Denn was ging uns Preußen an. Es war die Persönlichkeit des großen Königs, die auf alle Gemüther wirkte.“[16] Preußen: das war ein Phantom, das die Gestalt Friedrichs erst mit Leben füllte, dies allerdings so gründlich, dass auch der notorisch anti-nationale Goethe bekennen musste:

„Der erste wahre und höhere eigentliche Lebensgehalt kam durch Friedrich den Großen und die Thaten des siebenjährigen Krieges in die deutsche Poesie. Jede Nationaldichtung muß schal sein oder schal werden, die nicht auf dem Menschlich-Ersten ruht, auf den Ereignissen der Völker und ihrer Hirten, wenn beide für Einen Mann stehn. Könige sind darzustellen in Krieg und Gefahr, wo sie eben dadurch als die Ersten erscheinen, weil sie das Schicksal des Allerletzten bestimmen und theilen, und dadurch viel interessanter werden als die Götter selbst, die, wenn sie Schicksale bestimmt haben, sich der Theilnahme derselben entziehen.“[17]

Das ‚Schicksal des Allerletzten’ hat Friedrich allerdings geteilt, und wenn irgendetwas, dann machte ihn dies zum ‚Großen’ – nicht das im Überblick doch recht unkomplette, wenn auch im epochalen Durchschnitt sicher imposante innenpolitische Reformwerk. Der innere Wert der zahllosen Anekdotenblättchen, die seit damals generationenlang produziert wurden, liegt in ihrer auratischen Authentizität. Denn jenen König, der nach der schmerzlichen Niederlage von Kolin 1757 gedankenverloren auf einem Baumstamm sitzt und aus dem Dreispitz eines einfachen Kürassiers trinkt; der im Schneetreiben von Leuthen den Fahnenträger der Avantgarde zur Schlacht einweist und der auf den Stufen einer Dorfkirche und bei Kerzenschein den Tagesbefehl nach dem schweren, blutigen Sieg von Torgau 1760 schreibt, gab es wirklich. Und es war auch nicht Pose, sondern ehrliche Anklage eines brutalen Geschicks, wenn er, der Hochbegabte, der ein strahlender Sonnenkönig hätte werden können, aber nur der erste Grenadier seiner Armee sein durfte, im Feldlager die Verse Voltaires zitierte:

„Ich bin bloß ein Mensch, dem Leide geweiht,
Mein Schutzschild ist nur die Standhaftigkeit.“[18]

Die Jahre von 1757 bis 1761 wurden zu einer beispiellosen Belastungsprobe für Preußen und seinen König; physisch und psychisch. Mit dem österreichischen Sieg beim böhmischen Kolin im Juni 1757 zerbrach nicht nur der militärische Nimbus des bis dahin unbesiegten roi connétable, der, für seine Zeit unüblich, die Strapazen des Feldzuges persönlich mit seinen Truppen teilte; hier zerbrach auch seine Hoffung auf einen schnellen Frieden mit Österreich und damit, wie Venohr schrieb, seine „heitre, optimistische Seele“[19]. Der Krieg, in den sich Kaiserin Elisabeth von Russland mit eindeutigen Eroberungsabsichten eingeschaltet hat, ist ein Zweifrontenkrieg, die numerische Übermacht der antipreußischen Koalition erdrückend; Friedrichs einziger nennenswerter Verbündeter ist England, das, ebenso wie Frankreich, im „Umsturz der Koalitionen“ 1756 die Seiten gewechselt hatte. Die, später übermäßig glorifizierten, Siege der Jahre 1757 und 58: Roßbach, Leuthen, Zorndorf, sind nur Atempausen; die Niederlage bei Kunersdorf an der Oder 1759 dagegen eine Katastrophe: Der König verliert die Hälfte seiner Armee, denkt, wie so oft, an Selbstmord und ist tagelang nicht ansprechbar.

Dann geschieht das erste „Wunder des Hauses Brandenburg“[20]: Die verbündeten österreichischen und russischen Truppen können sich auf keine gemeinsame Strategie einigen und ziehen ab, Friedrich hat, trotz einiger weiterer Rückschläge, bis zum Winter Ruhe. Das nächste Jahr bringt dann zwei Entlastungssiege, während ihm sein Schwager Ferdinand von Braunschweig auf dem westlichen Kriegsschauplatz gegen die schlecht geführten und unmotivierten Franzosen den Rücken freihält. 1761 steht Friedrich abermals am Rande des Abgrunds: Im August schließen ihn die Alliierten im Lager Bunzelwitz in Schlesien ein, 150.000 Mann gegen 50.000. Doch auch diesmal rettet den „bösen Mann aus Berlin“[21], wie ihn die zornige Maria Theresia nur nennt, die Uneinigkeit seiner Gegner.

Als dann nur wenige Monate später Zarin Elisabeth, seine verbissene Feindin, aus dem gewohnten Vollrausch endlich nicht mehr aufwacht, lichtet sich der Horizont. Auf den Thron folgt ihr Neffe Peter von Schleswig-Holstein – ein jugendlicher Enthusiast, der den Preußenkönig glühend verehrt, mit ihm sofort Frieden schließt und seine russische Heeresgruppe, die gerade noch Berlin besetzt hatte, preußischem Kommando unterstellt. Ein Jahr noch schleppen sich die Kampfhandlungen dahin, doch auch ein erneuter russischer Thronwechsel und die unveränderte Zähigkeit der Kaiserin in Wien können am Status quo nichts mehr ändern: Im Februar 1763 wird der Friede von Hubertusburg geschlossen. Schlesien bleibt preußisch.

Der Siebenjährige Krieg war Friedrichs Heldenepos; daran hat keine kritische Geschichtsschreibung etwas ändern können, ja, sie wollte es auch gar nicht. „Seit Alexander“, so sah es auch Rudolf Augstein, sicher sein luzidester Kritiker, „hatte kein Erbkönig sich dem Gedächtnis der Zeitgenossen so eingeschrieben wie Friedrich. Er war der letzte legitime Monarch, der seine Schlachten selber schlug.“[22] Aber der Siebenjährige Krieg, der das jugendzeitliche Trauma seines Königs endgültig ins Politische übersetzte, befestigte auch die geistige Gestalt Preußens als „abgerissener, immer ächzend verausgabter, von Zerbrechlichkeitsängsten heimgesuchter“[23] Staat, der seine Aufnahme in den Zirkel der europäischen Großmächte kaum realer Kraft und Stellung verdankte, sondern dem unheimlichen Mythos, der sich um seinen Fürsten gebildet hatte.

Nichts drückt vielleicht diesen Mythos authentischer aus als das Bild, das Adolph Menzel ein Jahrhundert später vom Zusammentreffen Friedrichs mit dem jungen Kaiser Joseph II. in Neiße 1769 gemalt hat: Hier der durch viele Leiden früh vergreiste, schon altersmilde lächelnde König; da der juvenile, feuerköpfige Kaiser, der dem einst vielgehassten Widersacher seiner Mutter nun mit der trunkenen Begeisterung eines Fans entgegentritt, der seinen angebeteten Star hinter der Bühne besuchen darf. Es ist die letzte große „ecce homo“-Szene des Absolutismus: die staunende Reverenz des tatendurstigen Jünglings vor dem weiß gewordenen Heroen, der in seiner Person nochmals das ganze Panoptikum menschlicher Größe und menschlicher Tragik wie in einem jener prächtigen Barockporträts hatte Gestalt werden lassen: die bravourösen Handstreiche und die dramatischen Abstürze; den Jammer der Untertanen und den Spott der Gegner; aber auch die seltsamen, zauberhaften Fügungen, das hans-im-Glück-hafte, so gar nicht rationalistische oder protestantische, aber wundersame und dabei allzumenschliche Dem-Tod-von-der-Schippe-Springen, das Friedrich so oft und so glücklich widerfahren war: von den fürstlichen Fürsprechern nach seinem Fluchtversuch über all die tüchtigen Generale, die seine genialischen, aber oft ungestümen und deshalb falschen Entscheidungen korrigierten und ihn aus dem Abgrund rissen, bis zu jenem wunderlichsten Requisit der Weltgeschichte: der Schnupftabakdose von Kunersdorf, die ihm im Kugelhagel das Leben rettete. Sie ist heute noch auf Burg Hohenzollern zu bewundern, samt Einschussstelle.

Seit 1763 gehörte Preußen zur europäischen Pentarchie; aber es war nur eine „Großmacht cum grano salis“[24], wie später Bismarck zugab, und das Problem seiner fehlenden historischen Legitimität, seines buchstäblichen Auf-die-Landkarte-Geworfenseins, in einem Wort: den Makel seiner mühseligen Konstruiertheit wurde es nie los, auch wenn es 1786, beim Tod des Königs, diplomatisch respektiert und militärisch potent, wirtschaftlich stabil und mit fünf Millionen Einwohnern einigermaßen gut besiedelt dastand. Zu Recht sah Heinrich Mann, an politischem Scharfsinn seinem Bruder keineswegs unterlegen, in Friedrichs Person

„das vorweggenommene Preußen – Deutschland wie es eines späten Endes werden sollte. Die Überspannung der Kräfte, das ist er. Das ‚gefährliche Leben’ für alle Tage, die herausgeforderte Entzweiung des einzelnen Landes mit der europäischen Ordnung, man erkennt ihn.“[25]

Diese Entzweiung war in seinem Lebensweg, vielleicht in seinem Charakter angelegt. Ob je ein Mensch sich ihrer Kraft hätte entziehen können, ist fraglich; Friedrich wenigstens konnte es nicht. Die Flucht vor der Peinigung, die sein Vater ihm angetan hatte, trieb ihn dem Abenteuer in die Arme; er, der ein talentvoller Beau auf dem Thron hätte sein können, der vielleicht auch einen wahren Musenhof, ein preußisches Weimar hätte errichten können, fügte sich stattdessen in die Rolle des gekrönten Schmerzensmannes, die ihm das Schicksal zugedacht hatte. Gerade die genauen Kenner seiner Geschichte hatten – mehr als die plumpen, bloß dilettierenden Vergötterer und Verteufeler – an dieser Relation zwischen Politischem und Privatem nie einen Zweifel. So ist auch für Kunisch nicht abwegig,

„den Zugriff auf Schlesien und dann die jahrzehntelange, gerade im Siebenjährigen Krieg immer wieder existenzbedrohende Auseinandersetzung mit dem Hause Habsburg als grandiose ‚Externalisation eines ursprünglich verinnerlichten traumatischen Konflikts’ zu betrachten. Es bestehe bei Persönlichkeiten wie Friedrich offensichtlich ein Zwang, schreibt der Psychoanalytiker Ernst Lürßen, die Bedrohungskonstellation ‚in der Inszenierung des eigenen Schicksals immer neu zu wiederholen’, ja diese geradezu heraufzubeschwören, um den eigenen Überlebenswillen immer wieder von Neuem unter Beweis zu stellen. Vor diesem Hintergrund könnte jenes ‚provokante Risikoverhalten’ zu erklären sein, das von Friedrichs Fluchtversuch bis zu den Schlachten von Kolin und Hochkirch so handgreiflich in Erscheinung tritt.“[26]

Friedrichs politische Aufgeklärtheit hinterließ, außerhalb des Mentalitären, jenseits der Verwaltungsorganisation nur wenige Spuren – bekanntlich auch, weil sein religiös schwärmerischer Nachfolger die alte Toleranzpolitik nicht weiterführte, und weil das heraufziehende Napoleonische Zeitalter mit seinem aggressiven Nationalismus keinen Raum mehr ließ für den nonchalanten royalen Internationalismus des ancien régime. Das Los der Leibeigenen hat er, wo er konnte, gemildert, einige Exempel an gar zu mittelalterlich auftretenden Gutsbesitzern statuiert, die königlichen Domanialbauern aus der Erbuntertänigkeit befreit; doch die feudale Gesellschaftsordnung im Ganzen ließ er unangetastet, und die große Rechtsreform blieb unvollständig. Wer Friedrichs zahlreiche Schriften aber – er wirkte als Philosoph, Historiker, Lyriker, Memorialist und nicht zuletzt als leidenschaftlicher Briefeschreiber – unvoreingenommen liest, kann sich über die Aufrichtigkeit seiner Ideen schwer täuschen. An die verwitwete Kurfürstin Maria Antonia von Sachsen schrieb er 1766:

Alle Menschen sollten von selber im Einvernehmen leben. Die Erde ist weit genug, um sie alle zu beherbergen, zu ernähren und zu beschäftigen. Zwei unselige Worte, mein und dein, haben alles verdorben. So entstanden Eigennutz, Missgunst, Ungerechtigkeit, Gewalttat und alle Verbrechen.“[27]

Der real existierende erleuchtete Despotismus, den Friedrich beispielhaft durchexerzierte, kam an dieses Ideal nicht heran; doch das war nicht seine Schuld. Eine Wirtschaftsordnung, die so alt ist wie die Weltgeschichte, wirft auch ein Schriftsteller auf dem Thron nicht in einem Menschenalter um. Und dennoch hat Friedrich auch als Politiker Erstaunliches geleistet; weniger durch praktische Innovationen, aber durch das Lehrstück seines politischen Schicksals: dass es am Ende besser sei, die Ruhe und damit den Frieden zu bewahren, als in Eroberung, in Revolution, ob auf oder gegen den Thron, sich zu verwirklichen. Wer einen Siebenjährigen Krieg durchgemacht hat, ist vom Furor des Politikmachens gründlich geheilt. Was Kunisch ihm, einig mit einem frühen Kenner, dem Grafen Mirabeau, für die preußische Monarchie attestiert, hätte durchaus ausstrahlen können auf ganz Alt-Europa: nämlich die Botschaft des Friedens, nicht aus verschwärmtem Idealismus, aber aus Besinnung und Selbstzurücknahme:

„Über den hemmungslosen, durchaus persönlich motivierten Expansionsdrang seiner ersten Regierungsjahre hinaus ist er schließlich in eine Herrschaftsauffassung hineingewachsen, die sich hingebungsvoll und uneigennützig an den Erfordernissen der preußischen Monarchie orientierte – eines Machtgebildes, das zu seinen Lebzeiten ununterbrochen bedroht und angefochten blieb. […] Je mehr ihm in den Feldzügen der Schlesischen Kriege bewusst wurde, welche weitreichenden Konsequenzen mit dem Zugriff auf Schlesien verbunden waren, desto entschiedener begriff er sein Herrscheramt als eine Aufgabe, die ihm harte Pflichten und ein hohes Maß an Selbstentäußerung auferlegte. Sein Handeln galt nun nicht mehr persönlicher Ruhmbegierde, sondern nur noch der Bewahrung des mühsam und unter hohen Opfern Erreichten.“[28]

Das ist zweifellos richtig, und hier liegt auch der Grund, warum selbst Leopold von Ranke, der Erzhistoriker der Bismarckzeit, „zu den Eroberern, welche die Welt mit ihrem Kriegsruhm zu erfüllen streben und nur immer weiter um sich greifen“[29], Friedrich gar nicht zählen wollte. Friedrich war kein Karl XII. von Schweden, schon gar kein Napoleon, und seine politischen Ziele waren im Grunde erstaunlich bescheiden. Der kämpferische Grundzug seines König-, aber vor allem seines Feldherrntums war defensiv, nicht offensiv; er gab seinem Leben die Tönung des Schwermütigen, Vergeblichen und Gescheiterten. Joachim Fest:

„Das Bewusstsein der Zerbrechlichkeit hat den preußischen Charakter im Ganzen geprägt und ihm den angestrengten Zug zur Härte gegeben, das häufig Verbogene, Malträtierte oder sogar Gebrochene, das am auffälligsten an seinen beiden großen Königen zutage tritt: der eine im Grunde ein leutseliger, gutmütiger Mann, aber Sklave einer tyrannischen Idee, unter der er selber zum Tyrannen wurde; der andere ein empfindsamer Schöngeist, weich, nervös, hochherzig, dekadentes 18. Jahrhundert, ein Flötenspieler und Menschheitsbeglücker.“[30]

Der Wahrheit am nächsten kommt vielleicht wirklich, was Thomas Mann in seiner Friedrich-Apologie schrieb, die – entgegen einem beliebten Vorurteil – Schönfärberei kaum nötig hatte, weil es an diesem traurigen Leben so wenig schönzufärben gab: „Er war ein Opfer. Er musste unrecht tun und ein Leben gegen den Gedanken führen, er durfte nicht Philosoph, sondern musste König sein.“[31] Da er dies nun aber, offenbar, sein „musste“, entschloss er sich, es auch voll und ganz zu sein, im Leiden und im Gelingen, in Pose und Ernst, in seiner Donquichotterie und in seiner Epopöe – der einzigen, die eine deutsche Dynastie hervorgebracht hat und mit der sich höchstens noch Karl V. und Wallenstein, beide ihm vielfach verwandt, vergleichen lassen. Er war kein Ritter ohne Fehl und Tadel, aber er war ein menschliches Gesamtkunstwerk. Ein rex tragicus, den man kaum lieben, aber immer liebhaben konnte. War Kaspar Hauser das Kind von Europa, so war Friedrich von Preußen sein verlorener Sohn.

Und doch bleibt ein Vorwurf: Mit seinem stoizistischen Postulat eines Lebens im Verborgenen[32], einer echten vita contemplativa nicht ernst gemacht zu haben. Hatte er nicht gedichtet:

„Als ich geboren ward, ward ich der Kunst geboren,
Die heiligen neun Schwestern reichten mir die Brust,
Und für des Herrschers Hochmut schien dies Herz verloren,
Das voller Mitleid war und kindlich unbewusst.“[33]

Natürlich ließ sich das für einen Souverän, der in seine öffentliche Verantwortlichkeit hineingeboren wird, nicht ohne Weiteres verwirklichen; doch hätte Friedrich sich nicht wirklich größeren, saubereren Ruhm erworben, hätte er sein Preußen beim Regierungsantritt in ein humanistisches Utopia umgewandelt, anstatt die eingetretenen Pfade europäischer Großmachtpolitik einzuschlagen, deren stumpfe Phlegmatik er doch gnadenlos durchschaute? Hätte er sich nicht doch dem scheinbar unbezwinglichen Diktat, das ihn einer Imperatorenkarriere entgegen trieb, entziehen und ein wahrer Friedensfürst werden können, zwar nur für sein kleines, armes Preußen, dort aber richtig?

Oder aber er hätte auf den Thron verzichtet, die Erbfolge an seinen Bruder abgetreten und als materiell sorgenloser Privatgelehrter sein Glück gefunden; denn dass ihm dies eigentlich angemessen gewesen wäre, darüber besteht kein Zweifel. Hinter jeder realen Biographie liegt als Schattenriss ihr im Leben verfehltes Ideal: Und wie Friedrich Wilhelm II. als vergnügter Playboy, Friedrich Wilhelm IV. als ein zweiter Schinkel und Kaiser Wilhelm II. als englischer Landedelmann glücklich geworden wären, so eben Friedrich II. als der Philosoph von Sanssouci: eine Mischung aus Voltaire und Prince de Ligne, ewig wissbegierig, ein Liebhaber nicht der schönen Frauen, aber des schönen Stils, vor allem mit genügend Zeit, sich die ihm in der Jugend geschlagenen Seelen-Wunden zu lecken. Er wäre seinen so geliebten Stoikern nachgefolgt, und zugleich vielleicht ein Prototyp des postmodernen Europäers geworden, der nicht mehr nach der Chimäre der Macht greift, sondern nach Selbsterkenntnis fragt.

Doch es sollte nicht sein. Friedrich wählte den Weg, der ihm schon leiblich als Sohn eines Königs vorgeschrieben war. Vielleicht war dies die größte Untat des Vaters an seinem Kind: dass er ihn einfach qua seiner Vaterschaft dazu zwang, denselben, unseligen Beruf zu ergreifen wie er; und hatte nicht der Vater selber einst die Regentschaft niederlegen und „aufs Land ziehen“ wollen – ein Wunsch, dessen Unerfüllbarkeit seine psychische Gereiztheit zweifelsohne nicht gemildert haben wird? Also wurde Friedrich König, tat seine so genannte Pflicht und wurde nicht glücklicher damit, als der Vater es geworden war.

Der spätere deutsche Nationalismus hat, bis zu Hitler, um all diese Hintergründe, die die wahre Geschichte ihres für die Propaganda zurechtgeschminkten Schlachtenlenker-Götzen ausmachten, nicht gewusst; oder er wusste darum und hat sie vor sich und dem „Volk“ geleugnet, oder aber, wie der listige Goebbels, sie ins Süßlich-Beschwichtigende umgebogen, getreu dem pseudo-optimistischen Motto aller Hysteriker ‚Davon geht die Welt nicht unter’, hinter dem sich tatsächlich ein seelenloser Fatalismus verbarg. Aber der linksliberale Emigrant Heinrich Mann, der sich als Patriziersohn mit Familienschicksalen und ihrer Wirkung gut auskannte, schrieb dem Philosophen von Sanssouci den ehrlichsten und wahrsten Nachruf, den der sich hätte wünschen können: „Lebt er dereinst mit keinem Staat mehr, dann umso sicherer in der Tragödie, die er sich selbst schrieb. Sein zerrissenes Königreich – vergangen. Übrig – der König von Preußen.“[34]

© Konstantin Sakkas, 2011

Eine gekürzte Fassung erschien im Dezember 2011 anlässlich Friedrichs 300. Geburtstages im Magazin CICERO: https://www.cicero.de/kultur/europas-verlorener-sohn/47624

Header: Carl Röchling: Friedrich der Große in der Schlacht bei Zorndorf (1904).

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[1] Johann Matthias Dreyer, Ueber das in Kupfer gestochene Bild des Preußischen Monarchen, in: Vorzüglichste deutsche Gedichte, Altona 1771.

[2] Brief an Karl Ludwig v. Knebel vom 25. Oktober 1788, in: Weimarer Ausgabe („Sophienausgabe“), Weimar 1887 ff., IV. Abteilung, Bd. 9, S. 44.

[3] Thomas Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Frankfurt/Main 1989, S. 348.

[4] Wolfgang Venohr, Fridericus Rex, Bergisch-Gladbach 1990, S. 51.

[5] Memoiren der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth. Aus dem Frz. von Annette Kolb, Leipzig 1923, S. 123.

[6] So Walther Rathenau über Wilhelm II., Der Kaiser. Eine Betrachtung, in: Samt und Stahl. Kaiser Wilhelm II. im Urteil seiner Zeitgenossen (ed. M. Kohlrausch), S. 267.

[7] Vgl. G. P. Gooch, Frederick the Great, London u.a. 1947, S. 11 (im Orig. engl.).

[8] Joachim Fest, Preußens letzter Untergang, in: Aufgehobene Vergangenheit, München 1983, S. 156 f.

[9] An den Grafen Algarotti am 17.1.1741, in: Œuvres de Frédéric le Grand, hrsg. v. Johann David Erdmann Preuß, 30 Bde., Berlin 1846-56, Bd. 18, S. 28 (im Orig. frz.).

[10] Johannes Kunisch, Friedrich der Große, München 2004, S. 173 f.

[11] Zit. n. Corina Petersilka, Zur Zweisprachigkeit Friedrichs II., in: Brunhilde Wehinger (Hrsg.), Geist und Macht. Friedrich der Große im Kontext der europäischen Kulturgeschichte, Berlin 2005, S. 54.

[12] Vgl. Venohr, Friedrich der Zweite, in: Sebastian Haffner, ders., Preußische Profile, Neuausgabe München 2001, S. 60.

[13] Vgl. Abriß der preußischen Regierung und der Grundsätze, auf denen sie beruht, nebst einigen politischen Betrachtungen (1776), in: Die Werke Friedrichs des Großen in deutscher Übersetzung, hrsg. v. Gustav Bernhard Volz, 10 Bde., Berlin 1913-14, Bd. 7, S. 216.

[14] Vgl. Venohr, Fridericus, S. 314.

[15] Denkwürdigkeiten (1742), in: Werke, Bd. 2, S. 2.

[16] Goethe, Dichtung und Wahrheit, in: Weimarer Ausgabe, I. Abt., Bd. 26, S. 71

[17] Goethe, a.a.O., S. 104.

[18] In einem Brief an Voltaire vom 9. September 1757, in: Œuvres, Bd. 23, S. 14 (dt. nach Venohr).

[19] Venohr, Fridericus, S. 343.

[20] Brief an Prinz Heinrich von Preußen, in: Politische Correspondenz Friedrich’s des Großen, hrsg. v. Johann Gustav Droysen u.a., Bd. 18, Berlin 1891, S. 510 (Nr. 11393).

[21] Vgl. Thomas Mann, Friedrich und die große Koalition, Berlin 1915, S. 60.

[22] Rudolf Augstein, Preußens Friedrich und die Deutschen, Neuausgabe Frankfurt/Main 1981, S. 27.

[23] Vgl. Fest, S. 167.

[24] Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Stuttgart 1959, S. 105.

[25] Heinrich Mann, Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen, Berlin-Weimar 1974, S. 152.

[26] Kunisch, S. 174.

[27] Brief vom 8.2.1766, in: Briefe Friedrichs des Großen, hrsg. v. Max Hein, Berlin 1914, Bd. 2, S. 150.

[28] Kunisch, S. 547.

[29] Leopold v. Ranke, Preußische Geschichte, Wiesbaden 1975, Teil II, S. 173.

[30] Fest, S. 156

[31]Thomas Mann, S. 118.

[32] In einem Gedicht an Charles Étienne Jordan vom 10. Juni 1742, in Werke, Bd. 10, S. 72 (Nr. 21).

[33] Ebd., S. 71.

[34] Heinrich Mann, S. 159.

Napoleon: ein Grieche?

In seinem Meisterwerk „Europe. The struggle for supremacy“, dessen Erzählung im griechischen Schicksalsjahr 1453 beginnt, schreibt Brendan Simms: «Napoleon never had a plan,’ his long-serving foreign minister, Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord, later remarked, ‘it was always what had just happened that told him what to do next.’149 The pursuit of ‘glory’ and ‘destiny’ – two constants in Napoleon’s rhetoric – does not constitute a strategy in itself, beyond that of perpetual motion and conflict.»

Auch ich nannte Napoleon in meinem vor drei Jahren im Magazin „Cicero“ erschienen Essay zum zweihundertjährigen Jubiläum des Russlanfeldzuges die „fleischgewordene Furie des Verschwindens“ (siehe https://misterdarcysblog.wordpress.com/2015/05/05/europa-enges-land-napoleons-russlandfeldzug-1812-und-seine-weltgeschichtliche-dimension/). Nichts, so heißt es dort, liege offen an ihm „als seine schiere Kraft, nichts als die pure Gewalt seiner Wirkung, das ewig Drängende, Vorwärtsstürmende seiner Tätigkeit, die ihn von Feldzug von Feldzug führte, und die ihn doch in aller Tätigkeit, in allem Gestalten und Entwerfen doch merkwürdig geisterhaft, seltsam weltlos und ungreifbar erscheinen lässt.“

Dies sieht freilich anders aus, lässt man sich auf eine Theorie ein, die sich auch heute noch großer Beliebtheit erfreut.

Die Herzogin von Abrantès, Witwe des Generals Junot, erläutert im ersten Band ihrer Mémoiren die These, wonach Napoleon griechischer Abstammung gewesen sei. Tatsächlich lässt sich sein Familienname Buona Parte, also „der/ein gute(r) Teil“, als italianisierte Form des griechischen nomen gentile „Kalomero“ bzw. „Kalomeris“ lesen (kalo meros = der gute Teil).

Die Kalomeri lassen sich in Mani nachweisen, am westlichen Südzipfel der Peloponnes, wo der Widerstand gegen die slawische und später die türkische Landnahme stets besonders zäh gewesen. 1460, sieben Jahre nach der Eroberung Konstantinopels durch Sultan Mehmet II., fiel auch die Morea – so hieß diePeloponnes bis ins 19. Jahrhundert hinein – unter türkische Herrschaft. Doch ganz sicher konnte sich der Sultan der Halbinsel nie sein, die Morea blieb heiß umkämpft: im sechsten venezianisch-osmanischen Krieg errichtete die Serenissima im Jahr 1688 das Königreich Morea, das bis 1715 bestand, 1770 brach hier der Orlow-Aufstand aus, und der griechische Befreiungskrieg nahm 1821 von Patras aus seinen Ausgang.

Die vierhundert Jahre der Turkokratie führten zu einem intensiven kulturellen und demographischen Transfer zwischen Griechenland und Italien. Neben der Kolonisierung griechischen Territoriums durch Venedig, das so der türkischen Herrschaft entging, bedeutete dies vor allem Flucht von Griechen in den christlichen Westen. So emigrierte ein Abkömmling der Kalomeri im 16. Jahrhundert nach Italien und ließ sich unter dem italianisierten Namen Buonaparte erst in der Toskana, dann auf Korsika nieder.

Napoleons Vater Carlo Maria Bonaparte, der Griechisch gesprochen haben soll, könnte selber einen Hinweis auf diese griechische Herkunft im Vornamen seines Sohnes versteckt haben: „Napoleon“ lässt sich nämlich aus den griechischen Wörtern „nápos“, Tal, Einöde, und „léon“, Löwe, herleiten und hieße dann so viel wie „Löwe des Tales“.

Napoleons Drang nach Osten und sein Wunsch, Griechenland von den Türken zu befreien und das römische Reich in den Grenzen des alten griechischen Kulturkreises wiederherzustellen, würden so verständlich. Napoleon war es nämlich, der den ersten unabhängigen modernen griechischen Staat schuf. Nach dem Frieden von Campo Formio im Oktober 1797, der unter anderem die Existenz der Republik Venedig, einst ein Exarchat des griechischen Kaiserreiches, nach eintausendjähriger Geschichte beendete,  wurden die ionischen Inseln, bis dahin venezianisches Territorium, als „Département des îles ioniennes“ Teil der französischen Staates. Dazu gehörten Kephalonia, Kerkyra, Ithaka, Kythira, Lefkada, Zakynthos und Paxoi sowie eine Vielzahl von diesen Hauptinseln abhängiger kleinerer Eiländer. Ein griechisches Bataillon kämpfte im Regiment der Chasseurs de l’orient unter französischer Führung in Ägypten gegen die Truppen Englands und des Sultans. Der griechische Befreiungskampf der 1820er Jahre wurde von der antiosmanischen Politik des frühen Napoleon wesentlich inspiriert.

Wie Jean Savant in seinem einschlägigen Werk „Sous les aigles orientales“ ausführt, wollte Bonaparte das osmanische Reich auflösen und ein selbständiges Griechenland  wiedererrichten. Das führte im Zweiten Koalitionskrieg (1798-1802) zu einem historisch einzigartigen britisch-russisch-osmanischen Bündnis gegen Frankreich. Nach dem Ausscheiden Zar Pauls I. aus der Koalition wurde das Department der ionischen Inseln als „Republik der sieben Inseln“ (griech. Eptanesa“) im Jahr 1800 unabhängig. Der erste freie griechische Staat der europäischen Neuzeit war geboren.

Zunächst unter russischem Protektorat, kamen die Eptanesa im Frieden von Tilsit 1807 unter französische Garantie, bis 1814 nach dem Sturz Napoleons die britische Krone anstelle des Kaisers der Franzosen trat. Fünfzig Jahre später wurden die ionischen Inseln, bis heute untrennbar verbunden mit dem Odysseusmythos, endlich mit dem griechischen Mutterland vereint: Queen Victoria schenkte sie gleichsam dem jungen Prinzen von Dänemark, dem Schwager des Prince of Wales, zu seiner Inthronisation als König Georgios I. von Griechenland.

Obwohl die Bonaparte traditionell ebenso auf Familien gleichen Namens in Sarzana bzw. Treviso zurückgeführt werden, beginnt ihre gesicherte korsische Stammreihe erst im 16. Jahrhundert. Eine griechische Abstammung Napoleons ist unbewiesen, aber nicht unwahrscheinlich. Sein bedingungsloser Drang nach europäischer Harmonie freilich, die unfassbare Spannweite seiner Biographie zwischen titanischer Gewalt und prometheischem Exil, sein brennender Wunsch schließlich, die uralte Einheit von Ost und West wiederherzustellen: sie fänden hier die Erklärung, der sich der große Unergründliche stets entzog.

Titelbild: Napoleon I., Kaiser der Franzosen und König von Italien. Zeitgenössische griechische Darstellung, nach 1805. 

Männlichkeit und Melancholie. Zur Aktualität Joseph Roths

Kein deutscher Schriftsteller des 20. Jahrhunderts ist so weit in die Tiefen der männlichen  Seele hinabgestiegen wie Joseph Roth. In der literaturgeschichtlichen Rezeption gern als, bestenfalls charmante, quantité négligeable abgetan – zu den „sieben Wegbereitern“ der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts wollte Marcel Reich-Ranicki ihn nicht zählen –, machte ihn seine Eigenschaft als intimer Kenner und Beschreiber der männlichen Seele im literarischen Diskurs auch nicht interessanter. Vierzig Jahre Emanzipationsdebatte haben ein gleichstarkes Interesse für die emotionale Verfasstheit des anderen, also: des männlichen Geschlechts bislang kaum nach sich ziehen können; auch unsere Belletristik folgt mehr oder weniger bruchlos ihrer uralten Faszination für das Weibliche und die Frau. Männlichkeitsprosa, obgleich in den letzten Jahren verstärkt in den Verlagsprogrammen zu finden, bleibt ein Kuriosum, interessant vielleicht noch fürs Sachbuch, aber nur ausnahmsweise für den Roman (man denke an Uwe Tellkamps schnell gefeierten, aber leider ebenso schnell vergessenen Eisvogel); als Kuriosum aber gilt auch Roth, dessen hoher Rang in der Darstellung und Deutung menschlicher und männlicher Innerlichkeit von der Literatur- und Kulturgeschichte bis heute noch kaum anerkannt worden ist.

Die Männlichkeit und ihre Melancholie sind das Kernthema der Rothschen Prosa. Schon die Formalitäten sprechen hierfür: vom Stationschef Fallmerayer über den heiligen Trinker bis zur biblischen Allusionsfigur Hiob sind es entweder Männer, die seinen Büchern den Namen geben, oder männliche Schicksale in einem jedenfalls explizit männlichen Setting. Eine Emma Bovary, Effi Briest oder Anna Karenina gibt es bei Roth weder als Titelheldin noch als Heldin überhaupt, auch keine Armance oder Salammbo. Entsprechend spielen seine Geschichten auch nicht im Salon von Paris, auf der Strudlhofstiege in Wien oder dem Ball in Sankt Petersburg. Seine Schauplätze sind Kasernen, Caféhäuser und Bauernstuben. Es sind Männerwelten, und es sind Arenen männlicher Weltlosigkeit und männlicher Melancholie.

Seit es sie gibt, wird Melancholie als spezifisch männliche Erscheinung beschrieben. Der einsame Mönch in der Zelle, der vergrübelte Denker in der Studierstube aber auch, wie Dieter Borchmeyer in seiner Studie Macht und Melancholie herausstellte, der trotz seines Ranges bindungslose Fürst und Feldherr in seinem Schlafgemach: Männer sind sie alle, und in ihrer Außergewöhnlichkeit und Atypizität zugleich nur besonders beispielhafte Exponenten ihres Geschlechts. Aber die Melancholie des Mannes ist kein Asservat aus der geschlechterpsychologischen Rumpelkammer vergangener Epochen: sie ist heute, im postheroischen Zeitalter, gerade in unseren westlichen Gesellschaften so präsent wie je. Die archetypischen Topoi des Selbstzweifels, der Orientierungslosigkeit und der Abstiegsangst finden unter den mentalitären und sozialpsychologischen Bedingungen unserer Zeit einen denkbar festen Ankergrund. Selten war die Gefahr des Absturzes in die Schwermut so groß wie heute; selten aber auch die Bereitschaft – und der gesellschaftliche Druck – zu ihrer Verheimlichung und Verleugnung.

Um das Spannungsverhältnis zwischen Melancholie und ihrer Verleugnung, zu der das männliche als vermeintlich „starkes“ Geschlecht sich seit je besonders aufgefordert fühlt, dreht sich als inneren Angelpunkt das Romanwerk Joseph Roth. Unter dem szenischen Mantel des habsburgischen Mythos, seines tatsächlichen Untergangs und seiner fiktionalen Beschwörung, wie sie Claudio Magris beschrieben hat, entfaltet Roth das Panoptikum männlicher Unsicherheit im Leben und männlicher Verweigerung vor dem Leben. Da ist es kein Zufall, wenn viele seiner, in manchmal sehr konzentrierter, aber nie süßlicher oder kitschiger K.-u.-k.-Seligkeit schwelgenden, Werke tatsächlich die Charakterisierung als „Kasernenroman“ verdienen, welche sein großer Konkurrent Robert Musil etwas säuerlich dem Radetzkymarsch verlieh. Denn der Militärdienst, eine kulturgeschichtliche Konstante, die über Jahrhunderte und bis in die deutsche Nachkriegszeit hinein die auratische Selbst- und Fremdwahrnehmung des europäischen Mannes prägte wie keine andere, ist der ideale Schauplatz der sehr realen Inszenierung von existenzieller Unbefriedigung und der, ebenso unbefriedigenden, Flucht aus ihr in die scheinbar klare Welt der festen Regeln, deren pseudonaturalistische Geordnetheit durch den erlaubten Kultus autoaggressiver Übertretungen – Duelle, Alkohol, Glückspiel, Affären – doch bereits immanent widerlegt wird.

Roths Gestalten, allen voran die Protagonisten der großen „Militärromane“: der Leutnant Trotta, der Rittmeister Taittinger, der Oberleutnant Tunda, sind allesamt schon heimatlos, bevor sie ihre reale Heimat durch die Gewalt der historischen Ereignisse einbüßen. Ihr pathologischer Mangel an Selbstreflexion expliziert sich bei ihnen in einem grundsätzlichen Unvermögen, auf das Leben zuzugehen und sich dabei selbst zu finden. Der militärisch-aristokratische Habitus, in dem sie erzogen wurden, macht sie zu deutsch-österreichischen Pendants der ewigen, ewig scheiternden Jünglinge Stendhals und Balzacs und ebenso zu Korrelationsfiguren ihrer literarischen Pendants aus dem  Bürgertum: der Satz Ulrichs aus Musils Mann ohne Eigenschaften: „ich liebe mich einfach selbst nicht“, könnte genauso aus dem Munde von Roths Leutnants und Rittmeistern stammen. Auch die bizarre Erratik von Prousts Gestalten, das vertrackte Sich-nicht-zurecht-Finden der Figuren Doderers, die bis zur Abstraktion versteifte Weltlosigkeit bei Kafka, die norddeutsch-schwerblütige Lebensunfähigkeit bei Thomas Mann reflektieren, jeweils auf ihre Art, die Problematik von nicht vollzogener Selbstfindung und alternativlos vollzogenem Scheitern. Die Verweigerung vor der Freiheit, in der die Sozialpsychologie des 20. Jahrhunderts von Adorno bis Erich Fromm das Hauptmerkmal der Weltkriegsepoche ausmachen sollte, ist das große Thema bei ihnen allen.

Keiner aber hat es so charmant literarisiert wie Roth. Das wahre Pathos, wie Nietzsche wusste, kommt aus der Distanz, und diese Distanz, zwischen Mensch und Mensch wie zwischen dem Menschen und der Welt, die ihn umgibt, ist gerade das Wesen der „dienstlichen Existenz“; die unsichtbare Mauer des Reglements, dem Körper- und Sprachbewegungen unterworfen sind, soll das Hervorbrechen der in jahrelanger Konditionierung unterdrückten Gefühle ex ante verhindern; aber gerade diese denkbar totale Blockade lässt, weil rein formal, die Materie der Gefühle immer wieder und mit unbeschreiblicher Deutlichkeit nach außen treten:

„Endlich sagte der Oberst – und er sprach erstaunlich leise: »Herr Rittmeister, kennen Sie einen Grafen W., Sektionschef im Finanzministerium?« Taittinger fühlte die Knie kalt werden, über dem Rand der Stiefelschäfte begann das Eis, es waren gar keine Knie mehr. Es war schwer, aufrecht zu bleiben, wenn die Schenkel auf Eisklumpen saßen. »Jawohl, Herr Oberst!« – »Und kennen Sie einen, einen, einen gewissen Redakteur Bernhard Lazik?« – »Jawohl, Herr Oberst!« »Wissen sie jetzt, warum Sie hier stehn?« – »Jawohl, Herr Oberst!« – »Ruht!« befahl der Oberst. Der Rittmeister streckte den rechten Stiefel vor. »Sie können sich setzen!« sagte Kovac und zeigte auf den nackten, hölzernen Stuhl. »Danke respektvollst!« sagte Taittinger. Er wartete. »Setzten S‘ sich! hab‘ ich gesagt!« schrie Kovac. Der Rittmeister setzte sich. Der Oberst ging auf und ab, kreuz und quer über den großen Teppich. Von Zeit zu Zeit verschränkte er die Arme, löste sie wieder, ballte die Fäuste, steckte sie in die Hosentaschen, klimperte mit Schlüsseln, zog die Schlüssel hervor, drehte sie im Kreis am Ring um den Daumen, steckte sie wieder ein. Er schien immer schmaler, blasser und unwirklicher zu werden. Der Novembernachmittag warf seine ersten Dämmer in die Kanzlei, und nur der blanke Widerschein des frischen Schnees, der aus dem Hof durch die Fenster drang, konnte sie noch abschwächen. »So reden S‘ doch endlich!« schrie der Oberst auf. “

Szenen wie diese aus der 1002. Nacht sind existenzielle Grenzsituationen, deren Darstellung im Gewande auratischer Sachlichkeit erst ihre volle Eindringlichkeit gewinnt. Der Einbruch des Unbewussten, Ungreifbaren, Abgründigen wird von Roth mit einer erzählerischen Könnerschaft zelebriert wie von keinem andern Schriftsteller. Die scheinbar ermüdende Neutralität der Schilderung des dienstlichen Alttags, das Ausbreiten von Details der Kleidung, des Aussehens, der Szene bewirkt wie bei Proust, Musil oder Doderer die eidetische Abschattung von Realitäten. Doch wo bei diesen die Abschattung zum Selbstzweck gerät, das intentionalistische Postulat des „zu den Sachen“ ins Poetische übersetzt wird: da dient es Roth der Vorbereitung des Lesers auf den existenziellen Schiffbruch, den der umso realistischer miterlebt, je näher, planer und greifbarer ebendiese Realität geschildert wird. Was die Schriftstellerei seit der Frühromantik im Prozess ihrer Emanzipation hin zu Philosophie und Weltanschauung sukzessive verlernte: nämlich den Menschen und sein Scheitern bloß und „nackt“ zu erzählen: Roth hat es in seiner Prosa wieder eingeholt. Wie bei Schiller, so reden auch bei Roth, wie Elfriede Jelinek es ausdrückte, die Menschen buchstäblich „um Leben und Tod“. Doch was bei Schiller im jambischen Monolog geschieht, findet bei Roth in der Wiedergabe von Settings und Stimmungen statt. Nicht was Kaiser Franz Joseph und der alte Trotta in der Audienz sagen, sondern wie sie es tun, gibt der Szene ihre ungeheure Tiefe und macht sie in ihrer Schlichtheit so abgründig.

„»Na, mein lieber Trotta?« fragte er. Denn es war seine kaiserliche Pflicht, seine Besucher verblüffenderweise beim Namen zu kennen. »Majestät!« sagte der Bezirkshauptmann und verbeugte sich noch einmal tief: »Ich bitte um Gnade für meinen Sohn!« »Was für einen Sohn hat Er?« fragte der Kaiser, um Zeit zu gewinnen und nicht sofort zu verraten, daß er in der Familiengeschichte der Trottas nicht bewandert war. »Mein Sohn ist Leutnant bei den Jägern in B.«, sagte Herr von Trotta. »Ah so, ah so!« sagte der Kaiser. »Das ist der junge Mann, den ich bei den letzten Manövern gesehen hab‘! Ein braver Mensch!« Und weil sich seine Gedanken ein wenig verwirrten, fügte er hinzu: »Er hat mir beinah das Leben gerettet. Oder waren Sie es?« »Majestät! Es war mein Vater, der Held von Solferino!« bemerkte der Bezirkshauptmann, indem er sich noch einmal verneigte. »Wie alt ist er jetzt?« fragte der Kaiser. »Die Schlacht bei Solferino. Das war doch der mit dem Lesebuch?« »Jawohl, Majestät!« sagte der Bezirkshauptmann.“

Im scheinbar belanglosen Kreisen um die Äußerlichkeiten der Handlung gewinnt literarisches Erzählen eine Spannung, die weder die pathetische aktionale Aufladung des Historienromans (etwa bei Tolstoi und Victor Hugo) noch die hermetische Weltanschaulichkeit des fin de siècle hervorbringt. Roth beschreibt keine Schlacht bei Waterloo, aber auch keinen Seerosenteich; sondern er will das Innerliche, Unaussprechlich-Verborgene, den tiefen, durchs Bewusstsein nicht einholbaren Weltschmerz ans Licht heben: das aber gelingt nur im formalen Verharren an der Oberfläche. Das stille Wasser ist auch hier tief. Fontanes Stechlinsee, unter dem sich ein Vulkan von Beziehungen zur Welt der Gefühle verbirgt, wird bei ihm aus dem Bereich der Metapher hinausgeholt in die menschliche Rede und ihre vermeintliche, irreführende Simplizität. Es sind stets die Schlüsse solcher Szenen, die in ihrer formellen Erleichterung das Ungeheure der seelischen Anspannung und Verkrampfung endlich offenkundig machen:

„Auf einmal fiel es dem Kaiser ein, daß er vor seiner Abreise nach Ischl noch viel zu erledigen hatte. Und er sagte: »Es ist gut! Es wird alles erledigt! Was hat er denn angestellt? Schulden? Es wird erledigt! Grüßen Sie Ihren Papa!« »Mein Vater ist tot!« sagte der Bezirkshauptmann. »So, tot!« sagte der Kaiser. »Schade, schade!« Und er verlor sich in Erinnerungen an die Schlacht bei Solferino. Und er kehrte an seinen Schreibtisch zurück, setzte sich, drückte den Knopf der Glocke und sah nicht mehr, wie der Bezirkshauptmann hinausging, den Kopf gesenkt, den Degengriff an der linken, den Krappenhut an der rechten Hüfte.“

In den Abgängen bei Roth entlädt sich eine tiefe rein-menschliche Spannung, die so unmittelbar zu Tränen rührt wie die großen Referenzstellen bei Schiller: denken wir an den Abschied der Thekla von Friedland von dem schwedischen Hauptmann, der ihr die Nachricht vom Tode Max Piccolominis bringt. Hier wie dort mischt sich in die weltlose, unbezogene Melancholie ein Rest von Trauer, damit aber von Welthaftigkeit und Weltvertrauen, das, obzwar durch die Erfahrung einer konkreten Negativität, schlussendlich doch beglaubigt und eingeholt wird. In der Schilderung der Rettungs- und der Todeserfahrung mit ihrer schmerzlichen Versöhnlichkeit entbirgt sich das katholische Genie des galizischen Juden Joseph Roth:

„Er ging, im schwarzen Anzug, das schwarze Trauerband um den Ärmel, zu Fräulein Hirschwitz ins Zimmer, blieb an der Tür stehen und sagte: »Mein Sohn ist tot, Gnädigste!« Er schloß schnell die Tür, ging ins Amt, von einer Kanzlei zur andern, steckte nur den wackelnden Kopf durch die Türen und verkündete überall: »Mein Sohn ist tot, Herr Soundso! Mein Sohn ist tot, Herr Soundso!« Dann nahm er Hut und Stock und ging auf die Straße. Alle Leute grüßten ihn und betrachteten verwundert seinen wackelnden Kopf. Den und jenen hielt der Bezirkshauptmann an und sagte: »Mein Sohn ist tot!« Und er wartete nicht die Beileidssprüche der Bestürzten ab, sondern ging weiter, zu Doktor Skowronnek. Doktor Skowronnek war in Uniform, ein Oberarzt, vormittags im Garnisonspital, nachmittags im Kaffeehaus. Er erhob sich, als der Bezirkshauptmann eintrat, sah den wackelnden Kopf des Alten, das Trauerband am Ärmel und wußte alles. Er nahm die Hand des Bezirkshauptmanns und blickte auf den unruhigen Kopf und auf den flatternden Zwicker. »Mein Sohn ist tot!« wiederholte Herr von Trotta. Skowronnek behielt die Hand seines Freundes lange, ein paar Minuten. Beide blieben stehen, Hand in Hand. Der Bezirkshauptmann setzte sich, Skowronnek legte das Schachbrett auf einen anderen Tisch. Als der Kellner kam, sagte der Bezirkshauptmann: »Mein Sohn ist tot, Herr Ober!« Und der Kellner verbeugte sich sehr tief und brachte einen Cognac.“

Das ist große Literatur. Niemand, der diese Zeilen je gelesen hat, kann sich ihrer Eindringlichkeit, ihrer ungeheuren emotionalen Kraft, dem schlichten Zauber entziehen, der hier aus dem kindlichen Urgrund der menschlichen Seele heraufgehoben wird in die glanzlose Helle der realistischen Deskription. Dass Joseph Roth mehr war als K.u.k.-Schwärmer und Kasernenliterat: hier muss es auch dem Kritischen, Nüchternen einleuchten.

Das alles freilich ist nur möglich auf dem Hintergrund der Melancholie, die zwar inhaltsärmer, dafür aber viel gewaltiger ist als die bloße Trauer, weil in ihr der Mensch sich völlig losgesagt hat von jeder Heimatlichkeit. Der Melancholiker ist in der Welt nicht mehr zuhause. Roths Männer sind vaterlose Männer, und wenn sie, wie die Trottas, Väter haben, so ist das Verhältnis zu ihnen doch jeweils gebrochen durch die Weltlosigkeit, in der der jeweilige Vater selbst steht. Die Liebe, die sich doch mit aller Macht zum Ausdruck bringen will, scheitert auch nicht an den äußeren väterlichen Vorbehalten gegenüber dem Sohn; sie sind nur die Camouflage des persönlichen Schicksals, ebenso wie die Vorbehalte der Epoche: das langsame Zerbrechen der Donaumonarchie, der Schwund der durch die Monarchie garantierten politischen Solidität, die Zersplitterung der Gesellschaft, die sich aus der machtvoll fortschreitenden Partikularisierung der Stände und Völker ergibt. Der Abstieg der Trottas ist ja eben kein Abstieg von sozialer Höhe (die die Familie ja jüngst erst erklommen hat), auch kein Abstieg als politisches Individuum, denn Kaisertreue und Österreichertum sind keine natürlichen oder geburtlichen Zuschreibungen, sondern nominale Identitäten, deren Aufgabe nicht zugleich den Selbstverlust bedeuten muss; nein, es ist ein Abstieg von der Höhe des unreflektierten Bei-sich-selbst-seins in die Tiefe der Bewusstwerdung; die erste Wirkung der Bewusstwerdung aber ist der Bruch mit allem und die Entfremdung von allem. Wie Hannah Arendt es ausdrückte: „es stehen nicht mehr einzelne Hindernisse entgegen, wegräumbare; sondern alles, die Welt.“

Das Negativitäts-Problem des frühen 19. Jahrhunderts ist eng verschränkt mit dem Melancholie-Problem des späten. Seine geistesgeschichtliche Wirkung reicht über die Sinnkrise des fin de siècle über die politische Krise des Ersten Weltkrieges bis hin zur moralischen Krise des totalitären Zeitalters. Der Männertypus dieses Zeitraumes lässt sich im Ganzen beschreiben nicht mit den separaten Topoi der autoritären Persönlichkeit, des Staatenlosen oder des Todessehnsüchtigen; sondern mit dem Archetypus des Melancholikers, der jene drei auffängt und einschließt. Auch unser sehr modernes Zeitalter kennt den Typus des Melancholikers: den Mann, der, seiner überkommenen gesellschaftlichen Aufgaben ledig, seiner dominanten Stellung im Privaten beraubt, seiner selbst nicht mehr gewiss und sicher, hinabsteigt in die Gründe der Selbstreflexion, welche zuvörderst je sich als Selbstzweifel eröffnet.

Ent-Zweiung, mit sich selbst und der Welt, Selbst- und Weltlosigkeit sind die wesentlichen Erscheinungsformen der Melancholie. Sie wird wirklich als schleichender Rückzug in sich, der aber ein Scheinrückzug ist, weil man ja eben sich selbst nicht kennt, also gar nicht finden kann, wonach man sucht. Die immanente Erratik dieser Suche tritt bei Roth hervor in der Zerstreuung der Männer in Alkohol und Spiel, in der schwermütigen Beliebigkeit ihres Beziehungsverhaltens, in der grundsätzlichen Ziellosigkeit ihrer Lebenswege. Das Entscheidende: nämlich die klare Auseinandersetzung mit sich selbst fällt schon ihnen unendlich schwer – wie viel schwerer aber noch den Männern heute. Denn nie war die Selbstfindung des Mannes in gleicher Weise Thema des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurses gewesen wie, seit den Tagen der George Sand, die Selbstfindung der Frau.

Der Astralschmerz, keine „historische“ Aufgabe mehr zu haben, ist in der Seele des heutigen Mannes so präsent wie bei den Männern Roths. Der Anspruch, aus seinem privaten Leben, seiner Innerlichkeit „etwas zu machen“: sich zu „entspannen“ und „fallen zu lassen“, hämmert heute, im Jahr 2011, mit unerbittlicher Gewalt gegen die Seele des Mannes. Die Aufforderung zur Erweichung, zur emotionalen Gefälligkeit und Entspanntheit aber hat nun gerade für den Mann etwas viel Gewaltsameres, als jeder Dienst, jeder formale Zwang es je haben könnte: denn er verpflichtet zum Niederreißen der Mauern, die sich in der Geschichte der menschlichen Psyche in mehreren, wohlverwachsenen Schichten um die Seele des Mannes gelegt und ihn durch tausende Jahre des Kampfes, der dauernden, akuten oder latenten agonalen Konfrontation davor bewahrt haben, sich zu verlieren; denn das Risiko, sich, sein Innerstes, seinen Herzensschrein zu verlieren, ist allerdings das Erste und Wesentliche, was es dem Mann a priori und mit aller Raffinesse und aller Schläue zu verhindern gilt, und er hat darin über die Jahrtausende eine Meisterschaft entwickelt, die so beeindruckend wie unheimlich ist. Wie anders auch hätte der Mann die ihm imputierte Rolle, das starke Geschlecht zu sein (was er natürlich genauso wenig ist wie die Frau das schwache), durch die Zeiten hindurch spielen können ohne diesen einen, wesentlichen Vorbehalt, der ihn dagegen abschirmt, sein Tun und Erleiden emtional zu reflektieren und genau in diesem Augenblick untauglich zu werden für dieses Tun und Erleiden, was doch seine Lebensaufgabe, sein Lebenssinn ist und was sich in der militant-violenten Tradition der europäischen Gesellschaft, die ja bis weit ins 20. Jahrhundert hineinreichte, emblematisch verwirklicht hat?

Durch Jahrtausende hindurch war es dem Mann hundertmal lieber, das äußerliche Leben zu verlieren, als sich innerlich eine Blöße zu geben, deren voller Anblick ihn zu Tode schockieren müsste. Immer gehörte es etwa zur Grundverfassung der männlichen Aristokratie, dass das Leben als solches wenig, die „Ehre“ und der „Stolz“ aber alles zählten; dass der klassische Adlige lieber im „Felde bleibt“, bei einer Kavallerieattacke oder einem Infanterieangriff fällt, als sich in seiner Emotionalität auch nur die geringste Blöße zu geben, ist ein psychopathologisches Grundmuster, das sich bei allen Figuren Roths bis ins Detail wiederfindet. Dass man, um sich wirklich und nicht bloß formal-gesellschaftlich, zu finden, zuallererst sich selbst verlieren müsse, ist für den alten Trotta, den Bezirkshauptmann, wie auch für sein stilles Alter Ego, den alten Kaiser Franz Joseph, ein untragbare Zumutung. Seine Unterdrückung beziehungsweise seine kulturelle und militärische Sublimation ist die eigentliche Aufgabe der Dynastie, des Adels, des Beamtenschaft und natürlich und in besonderem Maße der Armee.

Freilich liegen die anthropologischen Wurzeln der männlichen Verweigerung vor dem Gefühl, dem Sich-Öffnen und Sich-Verlieren tiefer. Gilt die Aufforderung zum Sich-Verlieren der Frau, von der sie zumeist erhoben wird, als Anstoß zur Selbstbefreiung und Selbstversicherung, so wirkt sie auf den Mann gerade umgekehrt: als Verpflichtung zu einer zwanghaften Veräußerung seines Innerlichen, das er schlicht nicht veräußern will. Die Furcht vor dem Selbstverlust, welchen die Frau sirenenhaft von ihm fordert, ist für den Mann nichts anderes als die intellektuelle Übersetzung seiner archetypischen Furcht vor der Kastration. Der militärische Kultus der Straffheit, welche bei Roth seine literarische Verewigung gefunden hat und der in der Dienstfertigkeit der männlichen Jobholders von heute eine gewisse Entsprechung hat, ist in seiner Negation des Emotionalen gerade das sicherste Bollwerk gegen die befürchtete soziale und seelische Kastration. Die emotionale Versteinerung des Mannes bewirkt gerade, allerdings nur an der Oberfläche und nur vorübergehend, die emotionale Festigung, welche für die Frauen dagegen unlösbar mit der emotionalen Öffnung verbunden ist; in etwa wie übertriebene Sparsamkeit oft ein Zeichen eben nicht für besondere Armut, sondern für besonderen Reichtum ist – einen Reichtum freilich, der unter der Voraussetzung und um den Preis erworben wird, reell nicht ausgelebt werden zu dürfen. Es ist der uralte, ja: archetypische männliche  Anankasmus der Zurückhaltung, die zwar die Welt in ihrer negativitären Struktur von ihm fordert; die aber zugleich die Menschen, die diese Welt bevölkern, von ihm wegtreibt und ihn isoliert. In diesem circulus vitiosus von Weltabwendung um der eigenen Menschlichkeit willen und Beziehungsverlust aufgrund der eigenen Weltlosigkeit bewegen sich die Figuren Joseph Roths.

Diese Weltlosigkeit verhindert freilich nicht Epiphanien des Geliebtwerdens und Behütetseins. Doch es ist keine reine Liebe und keine reine Hut, denn ihre Epiphanien kommen von außen, in der Art, wie ein Deus ex machina auftritt, und ziehen sich dorthin wieder zurück. Es sind väterliche Topoi, die bei Roth an den emotionalen Höhepunkten der Handlung aktualisiert werden, und Vaterfiguren, an denen sich der Augenblick der Errettung inszeniert; einmal sogar in der Gestalt des Jüngeren, Tumben, Untergebenen:

„Der Leutnant ging die Treppe hinauf. Genau drei Stufen hinter ihm folgte Onufrij. Sie standen im Zimmer. Onufrij, immer noch mit sonnigem Angesicht, meldete: »Herr Leutnant, hier ist Geld!«, und er zog aus Hosen- und Blusentasche alles, was er besaß, trat näher und legte es auf den Tisch. An dem dunkelroten Taschentuch, das die zwanzig goldenen Zehn-Kronen-Dukaten so lange unter der Erde geborgen hatte, klebten noch silbergraue Schlammstückchen. Neben dem Taschentuch lagen die blauen Geldscheine. Trotta zählte sie. Dann knüpfte er das Tuch auf. Er zählte die Goldstücke. Dann legte er die Scheine zu den Goldstücken in das Tuch, schlang den Knoten wieder zusammen und gab Onufrij das Bündel zurück. »Ich darf leider kein Geld von dir nehmen, verstehst du?« sagte Trotta. »Das Reglement verbietet es, verstehst du? Wenn ich das Geld von dir nehme, werde ich aus der Armee entlassen und degradiert, verstehst du?« Onufrij nickte. Der Leutnant stand da, das Bündel in der erhobenen Hand. Onufrij nickte fortwährend mit dem Kopf. Er streckte die Hand aus und ergriff das Bündel. Es schwankte eine Weile in der Luft. »Abtreten!« sagte Trotta, und Onufrij ging mit dem Bündel.“

Die Beschwörung der Väterlichkeit, die hier in der Maske des „ungeschlachten Bauernburschen mit dem goldenen Herzen“ aufscheint, ist die klassische verzweifelte Reaktion des weltlosen Mannes auf seine Ungeborgenheit; der Schrei nach Liebe, also nach absoluter Selbstvergewisserung, der von der eigentlich „befugten“ Seite nicht erhört wird – sei es aus mehrheitlich gesellschaftlichen Gründen, wie damals, oder aus biographisch-individuellen, wie heute –, wird umdirigiert von der Zeitrichtung Zukunft und der Beziehungsrichtung Frau/Partnerschaft auf die Zeitrichtung Vergangenheit und die Beziehungsrichtung Vater/Kindschaft: nicht mehr im Erklimmen einer neuen Lebenshöhe, in der furchtlosen, ausgreifenden Aneignung von Reife, Erfahrung und Selbstsicherheit wird das Ziel, der geeignete Weg zur Erlösung seiner selbst aus der Unbezogenheit erblickt; sondern im Regress ins seinsgeschichtliche Kindesalter, im Rückschritt aus der quälenden Negativität des Bewusstseins in die wärmende Geborgenheit eines urweltlichen Zusammenhangs, in dem mit den Worten Schillers, dessen Leben und Werk eine einzige Paraphrase seines tiefen, schweren Vaterkomplexes war, ein „lieber Vater“ wohnen muss. Roths Männer sind Lieblose, Ungeliebte, Sich-selbst-nicht-Liebende, deren katholisch aufgeladene Vatersehnsucht doch nur eine hilflose Ausflucht aus dem ungelösten Problem ihres ungeklärten Selbst- und Weltverhältnisses ist.

So ist auch der spezifisch „väterliche“, aufopfernde Tod, den der Leutnant Trotta im Radetzkymarsch stirbt, keine eigentliche Vollendung, sondern nur eine weitere, ins Absolut-Ikonische gesteigerte Weise der Flucht vor der Selbstverantwortung, welche zugleich eine Flucht vor der Freiheit ist. Kein simpler Fatalismus, nein; aber auch kein wahrhaft „männliches“, wenn auch nicht pseudo-„mannhaftes“ „Auf-den-Hund-Kommen“ im Sinne Goethes, des Pragmatikers. Es ist ein schöner Tod, den Carl Joseph stirbt; aber eben doch ein Tod und damit ein Abbruch, eine, wie weit auch heroische und zu Tränen rührende, Unterbrechung des Prozesses der Selbstfindung, der durch den Dunst der Melancholie, der Furcht vor der Freiheit schon längst umnebelt worden war.

Genau mit diesen Männern aber schuf Joseph Roth menschliche Parabeln von einer zeitlosen Ausdruckskraft. Der Tod, der in der Schlacht zumal, als Ausflucht ist dem Mann heute als Ausflucht verschlossen. Er muss sich im Leben fangen, kann einen erratischen Lebensgang nicht durch einen ikonenhaften Tod heilen. Aber die schmerzlichen Abgründe der Melancholie: die Trauer über die Abwesenheit des Vaters und über die Vergeblichkeit der Suche nach einer echten Identität im Leben, welche nur die entschlossene Selbstliebe geben kann: sie sind vorhanden in der Seele des Mannes, gestern wie heute, ebenso wie die pathologischen Reaktionen darauf: Alkoholismus, Schwermut, Depression. Gerade in der epochalen Begrenztheit ihrer Aura, in ihrer Unmodernität und Unstylishness sind Roths Männer beispielhaftere, im Wortsinne realistischere literarische Figuren als viele Gestalten der Literatur nach ihm. Ihre historische Aktualität ist erloschen; aber die auratische Wirkung lebt fort im Schicksal des Mannes, dessen Weg zu sich selbst im postheroischen Zeitalter gerade erst in seine spannende Phase getreten ist.

Eine stellenweise abweichende Fassung des Textes wurde am 9.12.2012 in der Sendung „Essay und Diskurs“ im Deutschlandfunk ausgestrahlt.

Titelbild: Dietmar Schönherr und Walter Reyer in Peter Beauvais‘ Verfilmung von Roths letztem Roman, „Die Geschichte von der 1002. Nacht“, Deutschland 1969