Der Vorposten der Freien Welt. Griechenlands Rolle in Europa

Vor siebzig Jahren, am 12. Oktober 1944, wurde Athen von deutscher Besatzung befreit. Unmittelbar darauf begannen die Alliierten, das Land zum Vorposten der freien Welt gegen den Ostblock aufzubauen. Doch das Bild Griechenlands bei seinen westlichen Partnern ist immer noch unklar – insbesondere in Deutschland. Die Zeit ist reif für eine Standortbestimmung.

Das Bild Griechenlands in der Öffentlichkeit ist denkbar verschwommen. Während die Geschichte des klassischen Griechenland zum unangefochtenen Wissenskanon gehört und der Altgriechischunterricht immer noch als ultimativer Ausweis einer höheren Bildung gilt, ist über die Geschichte des Landes seit dem Ende der Antike kaum etwas in die Allgemeinbildung gedrungen – insbesondere nicht in Deutschland.

Doch das liegt weniger an der griechischen, als an der deutschen Geschichte. Die begann nämlich im nationalstaatlichen Sinne erst im Jahr 1867, als mit dem Norddeutschen Bund unter der Leitung Preußens der erste deutsche Gesamtstaat neuzeitlicher Prägung ins Leben gerufen wurde. Das moderne Griechenland existierte da schon mehr als dreißig Jahre lang, seine Geschichte aber war über zweitausend Jahre alt. Es brauchte und braucht sich, anders als die „verspätete Nation“ Deutschland, seine historische Legitimität nicht erst zu beweisen.
Vermutlich aber gerade deshalb werfen insbesondere die Deutschen den Griechen gern vor, sie hätten in den letzten fünfhundert Jahren „nichts geleistet“ – und vergessen dabei geflissentlich, dass Griechenland seit der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 unter türkischer Herrschaft stand und sich erst in einem heroischen Freiheitskampf in den 1820er Jahren vom osmanischen Joch befreite.

Davor aber hatte Griechenland, als Zentrum des byzantinischen Reiches, eintausend Jahre lang die Einheit und Stabilität Europas gegen die Bedrohung durch Perser, Araber und dann Türken garantiert. Das schloss freilich nicht aus, dass sich Griechenland stets in erster Linie als Kulturnation und Bewahrerin des geistigen Erbes Europas verstand, was zugleich heidnische Tradition wie christlichen Glauben meinte. Nach dem Fall Roms unter dem Ansturm der Goten im 5. Jahrhundert nach Christus übernahm Konstantinopel die Rolle als alleinige Verteidigerin Europas und wurde für ein Jahrtausend zur wichtigsten und größten Stadt in unserem Erdteil. Und der griechischen Sprache konnten auch vierhundert Jahre Fremdherrschaft nichts anhaben – sie ist die am längsten durchgehend gesprochene indoeuropäische Sprache.

Seit seinem Bestehen war Griechenland der Außenposten Europas – von den Perserkriegen vor zweieinhalbtausend Jahren bis 1944, als Winston Churchill unmittelbar nach dem Abzug der Deutschen nach Athen reiste und dort für das Containment, also den Zusammenhalt der freien westlichen Welt warb, noch ehe der Begriff durch die amerikanische Truman-Regierung 1947 offiziell geprägt wurde. Überhaupt hatten die Westmächte England und Frankreich, die 1832 die territoriale Integrität Griechenlands international garantierten und auf deren Seite das Land 1917 in den Ersten Weltkrieg eintrat, stets ein besseres Verständnis für die Bedeutung Griechenlands als die Deutschen in ihrer Mittellage.

Eigentlich sollte dies anders sein. Schließlich war es der deutsche Kaiser Karl der Große, der vor tausendzweihundert Jahren den byzantinischen Kaisertitel usurpierte, als der konstantinopolitanische Thron gerade vakant war. Durch diese „Translatio imperii“ übernahm der fränkische Herrscher zugleich die Verantwortung für die Integrität und Stabilität Europas – das Römische Reich nicht mehr griechischer, sondern deutscher Nation war geboren. Währenddessen zerbrach Byzanz, das sich ursprünglich bis in den Nahen Osten und nach Ägypten erstreckte, immer mehr unter dem Ansturm der Türken, im Stich gelassen vom fränkischen Reich und seinen Nachfolgestaaten, und als der Westen, im Spätmittelalter, endlich die Gefahr erkannte, war es zu spät. In der Folgezeit rückten die Türken, 1529 und 1683, zweimal bis auf Wien vor, dem Sitz des deutschen Kaisers.
1944 beziehungsweise 45 war es dann nicht mehr das Osmanische Reich, sondern der Ostblock, von dem die Gefahr ausging. So erklärt sich Churchills und später Trumans Unterstützung der Antikommunisten im griechischen Bürgerkrieg.

Wiederum siebzig Jahre danach, also heute, gibt es zwar keinen Ostblock mehr, dafür aber eine bedrohliche islamistische Bewegung im Nahen Osten, vor den Toren Europas. Auch der frisch gewählte türkische Staatspräsident Erdogan pflegt radikalislamische Tendenzen, womit er nicht zuletzt viele im eigenen Land verschreckt. Und zur gleichen Zeit schickt sich Wladimir Putin an, in Nachfolge der Zaren ein russisches Protektorat über den Schwarzmeerraum zu installieren – ein Gebiet, das, wie der Balkan, bis ins Mittelalter hinein griechisch und damit westlich dominiert war.
Auch im Jahr 2014 ist Griechenland der Vorposten des freien Europas. Wer immer zur aktuellen Schuldenproblematik Griechenlands Stellung nimmt, sollte sich über diese Zusammenhänge im Klaren sein – sonst ist er unseriös.

Titelbild: Titelseite der Athener „Befreiungs-Zeitung“ am 12. Oktober 1944.

„Europas Schande“ und die Ignoranz der Spötter

Nachdem Günter Grass Israel in einem Gedicht Kriegstreiberei vorgeworfen hat und dafür heftig kritisiert wurde, wird nun erneut über seine Reime diskutiert. In „Europas Schande“ kritisiert Grass den Umgang mit Griechenland. Und er erntet Häme. Zu Unrecht, meint Konstantin Sakkas.

Bedenklich ist an all der Häme zweierlei: zum einen der Umgang mit dem Gedicht, zum anderen der mit dem Dichter Günter Grass selbst. In der inhaltlichen Ablehnung ist man sich in den angeblich so „bunten“ Social Media bemerkenswert einig: Der heimliche Subtext etwa auf Twitter lautet immer wieder: „Wie kann man nur den Schuldenstaat Griechenland in Schutz nehmen!“

Auf den historischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund, der sich bei Grass poetisch konzentriert, geht man mit keiner Silbe ein – vermutlich vor allem deshalb, weil er den selbsternannten Meinungsmachern der digitalen Bohème schlicht nicht geläufig ist. Antigone und der Schierlingsbecher dürften für sie ebenso böhmische Dörfer sein wie das Schicksal Griechenlands unter deutscher Besatzung oder die Diktatur der Obristen in den 60er und 70er Jahren.

An Arroganz überboten wird diese Ignoranz dann aber in der gezielten, verletzenden, ja: boshaften Häme, die sich über Grass selbst ergießt. Der Dichter wird als „betagter Mann“ im Altersheim vorgeführt, von „Zivis“, „Schnabeltasse“ und „Reinigungskraft“ ist die Rede, und offenbar sehr spaßige Pointen, die Grass in einen Zusammenhang mit dem Eurovision Song Contest, dem Champions-League-Finale oder der Schlecker-Insolvenz rücken, schwirren durch den virtuellen Raum und werden ausgiebig und mit großem Hallo zitiert und favorisiert.

Das Schlimmste daran: Hier spricht nicht der „Stammtisch“, sondern der durchaus „informierte Leser“. Reihenweise stimmen nämlich die seriösen Medien in den Spottgesang gegen Grass ein, und in säuerlicher Überheblichkeit ergeht sich ein Leitartikler im „Fremdschämen mit Grass und Griechenland“. Kurz: Wer die Reaktionen auf das Gedicht im Internet abfragt, stößt auf eine Einheitsfront der brutalen Häme, die sich selbst als abgeklärte Ironie feiert.

Auf das, was Grass sagt, wollen sich die Spötter dabei nicht so recht einlassen. Auf die Verunglimpfung des Inhalts folgt vielmehr die Verhöhnung der Form. Von „dürren Versen“ und einem „Dichter, der nicht dichtet“, ist auf Twitter zu lesen – dass sich Grass in seinem Gedicht des Versmaßes der asklepiadischen Ode bedient (und dies sehr souverän), dass er sich gleich in der zweiten Strophe elegant auf Goethes Iphigenie bezieht und nebenbei noch mit der deutschnationalen Hölderlin-Rezeption der konservativen Revolution ins Gericht geht: All das entgeht offensichtlich nicht nur den sich betont bildungsfern gebenden Digital Natives.

Auch einer großen deutschen Tageszeitung, die sich selbst als kulturelles Leitmedium der Republik versteht, waren Grass‘ Verse nicht mehr wert als die total witzige Behauptung, es handele sich bei „Europas Schande“ in Wahrheit nicht um ein Gedicht von Günter Grass, sondern um eine Erfindung, die die Satirezeitschrift Titanic geschickt in die seriöse Süddeutsche lanciert habe. Das kann man als kesse Metasatire verstehen – oder als dumm-dreiste Frechheit.

Tatsächlich erweist sich Grass mit seinem Griechenlandgedicht als einer, der im Deutschland Adenauers, Kohls und Merkels stets in der Diaspora lebte: als echter, engagierter Intellektueller. In Frankreich, dem Mutterland der modernen Publizistik, hätte „Europas Schande“ wohl eine große öffentliche Debatte, vielleicht auch einen politischen Richtungswechsel ausgelöst; und sogar noch seine Gegner hätten den Dichter immerhin für sein ästhetisches Können gelobt.

In Deutschland dagegen, dem Mutterland des Biedermeier mit seinem bräsigen Juste-Milieu und seiner großbürgerlich maskierten Kleinkariertheit, reicht es nur zum plumpen, primitiven Schulhofspott. Und das wiederum ist der Skandal um Günter Grass und sein Gedicht „Europas Schande“.

© Konstantin Sakkas

Der Text wurde am 1. Juni 2012 in der Sendung „Politisches Feuilleton“ auf Deutschlandradio Kultur gesendet.

Header: Eugène Delacroix, La Grèce sur les ruines de Missolonghi (1826)