Macht und Masse

Die Miniserie „Helgoland 513“ ist die letzte Eigenproduktion von Sky Deutschland. Es ist eine Parabel auf politische Radikalisierung im Gewand einer Dystopie

Die Idee zu ihrer Serie sei Florian Wentsch und ihr schon 2014 gekommen, sagt Produzentin Veronica Priefer bei der Premiere von „Helgoland 513“ in der Berliner Kulturbrauerei: Nach Ausbruch einer Virusepidemie retten sich einige Hundert Menschen auf die Insel Helgoland, wo sich alsbald ein totalitäres Gesellschaftssystem à la „1984“ etabliert. Nicht die Covid-19-Pandemie gab also den Anstoß, vielmehr ging hier die Serienidee der Realität voraus wie der Blitz dem Donner. SARS, Ebola, das habe es ja schon gegeben, und tatsächlich wird unter Fachleuten seit Jahrzehnten vor einem Bioerror oder Bioterror (also einer versehentlich oder absichtlich ausgelösten Epidemie) gewarnt. Auch die filmischen Vorlagen, die die Serie überreich zitiert, gab es zumeist damals schon: The Walking Dead, Game of Thrones, Hunger Games, aber auch den Postapokalypse-Film „Snowpiercer“ (2013) und „Jugend ohne Gott“ (2017).

Wieso „513“? Die insulare Enklave könne nur 513 Menschen ausreichend unterhalten; kommt ein neuer, etwa durch Geburt (eine „genehmigte“ wohlgemerkt), hinzu, muss ein anderer sterben. Malthusianismus plus Sozialkreditsystem, denn wer sterben muss, richtet sich nach seiner Stellung im Punktesystem, auf dem man nach äußeren Eigenschaften und Sozialverhalten eingruppiert wird, alles schön basisdemokratisch abgestimmt, was aber natürlich eine Farce ist, denn die eigentliche Macht liegt beim Inselrat und seiner diktatorischen Vorsitzenden Beatrice (Martina Gedeck).

Beatrices Rolle ist deutlich angelehnt an die der Präsidentin in „Hunger Games“, Regie (Robert Schwentke) und Drehbuch lieben geradezu das Spiel mit den Anspielungen. Wenn vorzugsweise junge Frauen und Männer zur Strandpatrouille eingeteilt werden, wo sie auf sich vom verseuchten Festland nähernde Schiffe schießen, erinnert das an die Nachtwache in Game of Thrones, auch die Rolle der Propagandistin Lola (Kathrin Angerer), die die Selektionsverfahren süßlich-zynisch kommentiert, kennt man aus „Hunger Games“. Man habe „keine typische Virus-Serie“ machen wollen, sondern „ein schwarzhumoriges Gesellschaftsdrama“, sagt Priefer.

Und so liegt der Reiz dieser siebenteiligen Miniserie – mehrere Staffeln sind geplant, aber noch nicht finanziert, für Sky Deutschland ist dies Stand jetzt die letzte Eigenproduktion – in der politischen Botschaft. Freilich kommt sie deshalb allzu sehr wie ein Kammerspiel, stellenweise auch wie Schultheater daher, die alte Crux intellektuell ambitionierter deutscher Produktionen. 

Trotzdem überzeugt der Cast, etwa Samuel Finzi als schmieriger Mobster, der in Hamburg die Überlebenden, die in Ruinen hausen und sich teils gegenseitig auffressen, unter der Knute hält, oder Alexander Fehling als Arzt Marek, die moralische Lichtgestalt, die aber, natürlich, auch schuldig geworden ist. 

Die Beschränkung auf 513 Einwohner ist natürlich ein Hoax, ursprünglich waren es neunhundert, aber Beatrice lässt am Beginn der Pandemie gleich mal vierhundert von ihnen heimlich infizieren und dann von der Insel deportieren. Von dieser fünfzehn Jahre vor der Haupthandlung angesiedelten Vorgeschichte erfahren wir erst in Folge 7, in der die Errichtung dieses totalen Inselstaates, dieser insularen Dystopie abgehandelt wird.

Hier erst kann das Drehbuch seine Gelehrtheit richtig ausspielen. Denn so platt und durchsichtig, wie die Machtübernahme abläuft und wie sie ideologisch flankiert wird, vollzieht und vollzog sich Radikalisierung schon immer. „Die Welt, wie wir sie kannten, diese Welt gibt es nicht mehr“, mit solchen Phrasen beginnt es, dann kommen schon Sätze wie „ihr müsst bereit sein, jemandem den Schädel einzuschlagen“, die gewiss nicht zufällig an den Satz Heinrich Himmlers in „Aus einem deutschen Leben“ erinnern, ein SS-Mann müsse „bereit sein, seine eigene Mutter hinzurichten“. „Ihr alle wartet doch auf den Moment, dass etwas in eurem Leben geschieht, und dieser Moment ist jetzt“ – ein Satz aus dem Playbook der rechten Revolte. So stumpf, so billig läuft Radikalisierung, ja.

Wissenschaftsfeindlichkeit, kleinbürgerliches Ressentiment, Massenhysterie, aber auch künstliche Verknappung und Pseudoselektion, legitimiert durch gezielte Fake News, Festungsdenken (beschossene Flüchtlingsboote), Leistungsideologie („ich will diesen Job unbedingt“ im Angesicht des Virustodes) und über allem die Schmalheit des Grates zwischen Zivilität und Gewalt: diesen Themenkomplex in knapp sechs Stunden abzuhandeln, ist keine leichte Aufgabe. Man kann nicht sagen, dass sie den Machern und Macherinnen von Helgoland 513 nicht gelungen sei. 

© Konstantin Johannes Sakkas, 2024

Helgoland 513 ist am 15. März auf Sky Deutschland erschienen. Idee: Veronica Priefer, Florian Wentsch. Regie: Robert Schwentke. Buch: Yves Hensel, Veronica Priefer, Florian Wentsch, Robert Schwentke, Matthew Wilder. Produktion: UFA Fiction, Johannes Kunkel, Veronica Priefer

Header: Wohl nicht zufällig ähnelt die Anmutung der abgeschotteten Insel Helgoland in der Serie sehr der Darstellung von Böcklins „Toteninsel“. Zwar ist „Helgoland“ eine Insel der Lebenden, doch der Tod ist auf ihr andauernd präsent: nicht nur als drohendes Szenario „von außen“, sondern weil das totalitäre Regime, das auf ihr herrscht, einen Tod ganz anderer Art verheißt: den des Menschen als moralisches Subjekt. Bildquelle: Arnold Böcklin (1827-1901): Die Toteninsel III (1883), Neue Nationalgalerie Berlin. Quelle: Wikimedia Commons (https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Arnold_Böcklin_-_Die_Toteninsel_III_%28Alte_Nationalgalerie,_Berlin%29.jpg)

Krüppel in Rüschenblusen

Nach „Jackie“ widmet sich Pablo Larraín mit seinem intimen Diana-Portrait „Spencer“ der nächsten Ikone des 20. Jahrhunderts

2022 wird ein Diana-Jahr. Zwar hätte die einstige Princess of Wales ihren sechzigsten Geburtstag 2021 gefeiert; doch 2022 jährt sich ihr Tod zum 25. Mal. Passend dazu erscheint nicht nur die fünfte Staffel der Netflix-Serie The Crown mit Dianas Ehekrise und Unfalltod im Zentrum, sondern auch ein neues Biopic.

Pablo Larraín und einsame, zerbrechliche und starke Frauen: das passt. Schon seine Jackie ging unglaublich in die Tiefe, und wäre Emma Stone nicht ihre Konkurrentin gewesen, so wäre Natalie Portman der Oscar für ihre Jacqueline Kennedy wohl sicher gewesen. Eine heiße Kandidatin für den diesjährigen Academy Award als beste Hauptdarstellerin dürfte nun Kristen Stewart sein: Der Twilight-Star spielt in Larraíns Spencer die Lady Di, den Kopf ewig schräg gelegt, fein und fragil wie Michelle Williams in Ridley Scotts Alles Geld der Welt, wo es auch um das Empowerment einer von tyrannischen Familienstrukturen erstickten Frau geht. 

An Scotts Getty-Epos erinnern auch die fabelhaften, gedämpft kolorierten englischen Panoramen (sie wurden großenteils in Brandenburg und Hessen gedreht), auch denkt man an Stanley Kubricks Barockoper Barry Lyndon, an Brideshead Revisited, The Favourite. Die Schönheit und Scheußlichkeit des Englischen weiß der Chilene Larraín zu inszenieren wie kaum ein anderer. Dazu bei trägt, wie schon in Jackie, auch hier ein perfekter Soundtack, für den er sich diesmal die Hilfe von Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood geholt hat. Dessen Musik changiert zwischen fiebrigem Jazz, der an die Serie Homeland und seine, ebenfalls missverstandene, Heroine Carrie Mathison denken lässt, und depressiver barocker Streichmusik. 

Eingeengt noch durch die hier streng observierte Einheit von Zeit, Ort und Handlung spielt der Film an den drei Weihnachtstagen 1991 auf Schloss Sandringham, durch Stacheldraht abgeschottet von der Außenwelt. Wie sehen, wie die bulimische Diana über der Kloschüssel hängt und sich nachts in die Küche stiehlt; wie sie sich – auch hier grüßt Jackie – mit dem Personal wie dem bärbeißig-fürsorglichen Chefkoch Darren (Sean Harris) verbrüdert, um wenigstens ein bisschen Menschlichkeit zu erfahren; wie sie mit William und Harry kleine Inseln der Flucht vor der gefühlsgestörten Familie baut, deren fiese Reglements ihr das Leben zur Hölle machen: so lässt der Haushofmeister mit seinem festgefrorenen Fischgesicht (Timothy Spall) gar die Vorhänge ihres Gemachs zunähen, „aus Schutz vor Paparazzi“. Brutal ehrlich, nicht idealisierend wie in The Crown ist hier Stella Gonets Portrait der Queen. Krüppel in Ringelsöckchen, so sah die Adelsaussteigerin Elisabeth Plessen sich und ihre Geschwister unter der väterlichen Zucht; hier sind es Krüppel in Lodenmänteln und Rüschenblusen. Der einzige freie Mensch unter ihnen, nicht die Medienhure, die sie bis heute gescholten wird – Diana.

Der begegnet in Visionen immer wieder der Geist Anne Boleyns (Amy Manson), während Holbeins fleischiges Portrait ihres mörderischen Gatten Heinrich VIII. über der Familientafel lauert. Ihre einzige Vertraute ist ihre Kammerzofe Maggie (Sally Hawkins), die ihr in einer Sanddüne offenbart: „Ma‘am, ich bin verliebt in Sie. Wenn ich daran denke, wie oft ich Sie nackt gesehen habe“, worauf die beiden loslachen und schäkern wie gute, alte Freundinnen. In der Schlussszene im rettenden London – im Radio läuft Mike Rutherfords All I need is a miracle – bestellt Diana aus dem ikonischen Porsche 964 heraus bei KFC Burger und Cola für sich und ihre Söhne. „Auf welchen Namen?“ „Spencer“. 

© Konstantin Johannes Sakkas, 2022

„Spencer“ (Regie: Pablo Larraín, Drehbuch: Steven Knight, 111 min.) hatte im September 2021 bei den Filmfestspielen Venedig Premiere und kommt am 27. Januar 2022 in die deutschen Kinos.

Bild: Diana (Kristen Stewart) am Steuer. © Pablo Larraín/DCM

Eine Liebe in Berlin

Und wieder eine Romanverfilmung aus der Weimarer Zeit: Dominik Grafs schöne Kästner-Adaption „Fabian“ erzählt von Glanz und Elend des Gutseinwollens

Tom Schilling und Saskia Rosendahl sind das neue Leinwandtraumpaar des deutschen Films. Standen sie in Florian Henckel-Donnersmarcks Werk ohne Autor als Neffe und Tante vor der Kamera, brillieren sie nun in Dominik Grafs Fabian oder der Gang vor die Hunde (nach Erich Kästners Fabian. Die Geschichte eines Moralisten) als Liebespaar, das um seinen Idealismus kämpft. 

Der Film ist eine Mischung aus Fear and Loathing in Las Vegas und La La Land, der Routinier Graf (Hotte im ParadiesGeliebte Schwestern) beherrscht beide Genres: Roadmovie und Romanze. Zugute kommt ihm hier, dass die weibliche Hauptrolle mit der deutschen Emma Stone besetzt ist: die herrliche Saskia Rosendahl braucht in der Rolle der Cornelia Battenberg die Berlin-Mitte-Schnitte nicht zu spielen, sie ist eine, und zwar nicht rotzig, sondern ätherisch.

Wie Burhan Qurbanis Berlin Alexanderplatz (2020) nimmt der Film (auch er eine Hymne an den „Steinhaufen“ Berlin) einen Klassiker der Weimarer Republik zur Vorlage, allerdings ohne ihn – bis auf die Eröffnungssequenz, in der der U-Bahnhof Heidelberger Platz gleichsam als Zeitschleuse fungiert – in die Gegenwart zu transponieren. Glücklich widersteht Graf auch der Versuchung, bloßen 20er-Jahre-Klamauk zu liefern wie die Serie Babylon Berlin. Seine Inszenierung ist zwar durchaus radikal, gerade in den sexuellen Details; doch sein Grundton ist romantisch, das Pornographische nur Koloratur.

Fürs Politische genügen Graf dezente Andeutungen: hier und da SA-Männer, ein Kommilitone mit Nazi-Schnitt an der Friedrich-Wilhelms-Universität, der Fabians (Schilling) Freund Labude (herrlich sensibel und endlich mal kein Bösewicht Albrecht Schuch), durch eine Lüge in den Selbstmord treibt; in der Schlussszene tönt aus dem Rundfunkgerät der Bericht über die Kurfürstendammkrawalle, eine von Goebbels orchestrierte antisemitische Attacke im Herbst 1931, während das Szenenbild in die spätere Bücherverbrennung übergeht. 

Fabian ist Liebesfilm, kein politisches Drama. Sein Horizont ist nicht so sehr der konkrete Sturz in die Barbarei, der sich im Jahr der Handlung 1931 bereits unübersehbar ankündigte (so auch im Film), als die Kaputtheit des sozialen In-der-Welt-seins schlechthin. Die Frage, ob und wie ihr beizukommen sei, erzeugt das intellektuelle Knistern zwischen dem linksliberalen Idealisten Labude, der über Lessing promoviert, und dem abgeklärten Lebemann Fabian, dessen Zynismus man dem sanften Tom Schilling freilich nur mit viel Wohlwollen abnimmt: „Das Zeitalter der Menschenwürde bricht an“, schwärmt der großbürgerliche Labude. „Wenn man das System erst vernünftig gestaltet hat, werden sich auch die Menschen anpassen.“ Der illusionslose Aufsteiger Fabian hält zwar dagegen: „Was nützt dein göttliches System, wenn der Mensch ein Schwein ist?“ – gleichviel, Moralisten sind sie beide.

Moralisch ist auch Cornelia, die hoch hinauswill und dafür auch mit ihrem Chef, dem Filmmagnaten Makart (Aljoscha Stadelmann), ins Bett geht, aber trotzdem keine charakterlose Opportunistin ist. Der Vertrag, den sie für Fabian aufsetzt – „ich liebe Cornelia und werde deshalb ihrer Karriere nie im Wege stehen“ – ist so radikalfeministisch, dass es schon wieder charmant ist. Wenn es moralischen Egoismus gibt, dann den des gerechten Empowerments. 

„Hat die Welt überhaupt Talent zur Anständigkeit?“ Cornelias Antwort: „Man kommt nur aus dem Dreck heraus, wenn man sich dreckig macht.“ Sie hat recht: entscheidend ist nicht das sich dreckig Machen; entscheidend ist die Fähigkeit, zwischen Dreck und Nicht-Dreck zu unterscheiden. 

Fabian oder der Gang vor die Hunde (Regie: Dominik Graf, Buch: ders., Constantin Lieb) kommt am 5. August in die deutschen Kinos. Der Film war auf der diesjährigen Berlinale für den Goldenen Bären nominiert und ist in der Vorauswahl für den Deutschen Filmpreis 2021.

Header: Saskia Rosendahl in „Fabian“. © Lupa Film, Hanno Lentz, DCM

In Auschwitz gab es kein Happy End

László Nemes‘ „Son of Saul“, ausgezeichnet mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film 2016

Die brutalste Szene spielt sich gleich zu Anfang ab. Die Gaskammer in Auschwitz-Birkenau. Gerade wurde ein ungarischer Transport vergast. Die Türen springen auf, das Sonderkommando macht sich an die Arbeit. Blut, Kot und Urin überall, man sieht die nackten, blutverschmierten Brüste von Frauen. Zum Sonderkommando gehört auch Saul Ausländer (dass er so heißt erfahren wir erst später im Film). Auf einmal hört er ein Röcheln. Was unmöglich scheint, und doch durch die Akten der Lager-SS selbst historisch verbürgt ist (auch Rolf Hochhuth erwähnt diese Vorkommnisse im Schlussakt seines 1962 uraufgeführten Stellvertreters): ein Junge, vielleicht gerade in die Pubertät gekommen, hat die Vergasung überlebt, erwacht, schwer atmend, gerade aus seiner Bewusstlosigkeit.

Schon ist der SS-Arzt zur Stelle. Der Junge wird auf eine Bahre gelegt. Der SSler tastet ihn erst ab, überprüft die Vitalfunktionen. Er setzt beide Hände auf den Leib des Jungen auf. Dann erstickt er ihn, leise, „fachmännisch“, unaufgeregt. Die Männer des Sonderkommandos, unter ihnen der jüdische Arzt, stehen neben ihm. Es gibt keine Emotionen, kein Geschrei, keinen expliziten Gewaltexzess. Der SSler tötet den Jungen, wie man seine Schnürsenkel bindet, wie man ein Auto betankt oder eine Klingel drückt. Dem jüdischen Arzt neben ihm sagt er am Ende nur trocken: „aufschneiden“. Der dem Tod vergeblich entronnene Knabe soll in die Autopsie, physiologisch interessant ist das Phänomen ja allemal.

Auschwitz: ein Arbeitsplatz des Grauens

„Son of Saul“, erst mit dem Grand Prix von Cannes, dann mit zahlreichen weiteren internationalen Filmpreisen, darunter dem Golden Globe und dem Critics Choice Award, und schließlich mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film 2016 ausgezeichnet, ist eine einzige Vergewaltigung, Hundertsieben Minuten lang. Er zeigt kein Erbarmen, er zeigt aber auch keinen offenen Hass, weder bei den Tätern noch bei den Opfern. Er zeigt nur pure, nackte, kalte Gewalt. Unaufgeregt, weil selbstverständlich. „Son of Saul“ zeigt Auschwitz als das, was es wirklich und vor allem anderen war: als einen Arbeitsplatz des Grauens.

Beklemmung beherrscht den Zuschauer von der ersten bis zur letzten Minute an diesem Abend im „Delphi Filmpalast“ in Berlin-Charlottenburg. Mit Bedacht hat die ausrichtende Jewish Claims Conference den Vorabend des internationalen Holocaustgedenktags für die in Fachkreisen langersehnte Voraufführung des Films ausgewählt. Es gibt keine Höhepunkte und keine Tiefpunkte. Alles ist in einen schmutzigen grau-braunen Schimmer getaucht. Eine farblose Farbe, weltlos wie die Farben eines Alptraums. Es gibt keine Hoffnung, keine Entspannung, keinen Lichtblick. Schmutz, Dreck, überall. Der biographische Horizont des Films sind die wenigen Wochen und Monate, die den Männern des Sonderkommandos zum Überleben bleiben, bis sie selber ermordet werden, aber es ist ein biologischer Horizont, kein existenzieller. Die Negativität dieses Auschwitz‘ ist absolut, so sehr, dass die Absolutheit zur Abstraktheit wird.

Papst Johannes Paul II. soll, als man ihm Gibsons „Passion of the Christ“ zeigte, gesagt haben: „It is, as it was.“ Dieselben Worte lassen sich über „Son of Saul“ sagen. Kein Spielberg, kein Polanski, auch kein Theodor Kotulla („Aus einem deutschen Leben“) oder Stefan Rutzowitzky, dessen „Fälscher“ 2008 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhielten, haben das, was Auschwitz und die Shoa wirklich waren, so brutal ehrlich eingefangen wie dieser Film, mit dem sich der nicht einmal vierzigjährige Regisseur László Nemes als wahrhafter Zauberlehrling entpuppt hat.

Blick in die Hölle durchs Schlüsselloch

Der Film ist auf 35 Millimeter gedreht, die Sprachen historisch original und unsynchronisiert (jiddisch und deutsch, seltener ungarisch und polnisch), die Kamera filmt permanent aus Sauls Blickwinkel, wenn sie nicht ihn selbst zeigt. Wir schauen in die Hölle durchs Schlüsselloch. Das zischende Ankommen der Deportationszüge, das Ausziehen in der Umkleide, begleitet teils durch aufmunternde Lügen („wir brauchen Handwerker hier“, „nach dem Bad gibt es erstmal eine warme Suppe“, „merken Sie sich Ihren Kleiderhaken“), teils durch Drohungen und offene Gewalt. Das Hineinpressen der Häftlinge, einer steht auf den Füßen des andern, in die Gaskammer, das Zuschnappen der eisernen Türriegel. Sofort beginnen die Männer des Sonderkommandos – „stoisch“ wäre das falsche Wort hierfür – mit dem Einsammeln der Kleidungsstücke. Dann das Schreien und Trommeln der Deportierten in der Kammer. Nichts ist so gewaltsam wie dieses Schreien, dieses Trommeln, denn man weiß, während man im Kinosessel sitzt, dass dieses Schreien und Trommeln vergeblich, sinnlos, ja: lächerlich ist. Sie sollen ja sterben, sie sollen ja ausgeliefert und hilflos sein. Ihnen wird niemand helfen, ihr Schicksal ist beschlossene Sache. Das ist Gewalt: Auslieferung. Keinen-Ausweg-lassen. Ver-nichtung: jemanden ins Nichts stellen, in die – wie fehl am Platz ein solch hochgestochener Ausdruck hier – Aporie, die Ausweglosigkeit.

Doppelt Opfer: die Männer des jüdischen Sonderkommandos

Ausgeliefert sind auch die Männer da draußen, von denen der Film handelt. Lange Zeit war das Schicksal der Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau und den anderen Vernichtungslagern der blinde Fleck in der Shoa-Forschung, auch im kollektiven Gedächtnis, dem der Täter und auch der Opfer. Einige unglückliche Formulierungen Hannah Arendts ließen es lange Zeit so aussehen, als seien diese Männer Mittäter gewesen. Dabei waren sie nicht nur genauso Opfer wie die anderen, sondern waren es sogar in doppelter Weise.

Die Männer des Sonderkommandos, unter ihnen überdurchschnittlich viele Griechen (wegen deren sowohl in West- als auch in Osteuropa ungeläufiger Sprache schien der SS bei ihnen der Geheimhaltungsaspekt am besten gewahrt), hatten die Opfer, unter Bewachung des SS, in die Gaskammern einzuschleusen, und sie hatten nach jedem Vergasungsvorgang die Leichen aus den Gaskammern zu holen und in den Krematorien zu verbrennen – nicht ohne ihnen vorher Goldzähne aus dem Gebiss zu brechen und etwa mitgeführte Wertgegenstände aus den Körperöffnungen zu holen. Der Ungar Géza Röhrig, dessen schönen, weichen Gesichtszügen man seine 48 Jahre nicht ansieht und der selber zahlreiche Familienangehörige in der Shoa verlor, spielt die Hauptfigur, Saul Ausländer.

Saul, Zeuge der eingangs geschilderten Szene, glaubt in dem Jungen seinen Sohn zu erkennen (später wird sich herausstellen, dass er entweder überhaupt keinen Sohn hat, oder aber dies jedenfalls nicht sein Sohn ist – leiblich nicht ist, denn im Geiste hat er ihn adoptiert in dem Augenblick, da er ihn leben sah inmitten der Toten). Er bedrängt den jüdischen Arzt, die Leiche der Autopsie zu entziehen und vor der SS zu verstecken. Das, und die Vorbereitung und Durchführung des Sonderkommando-Aufstands vom 7. Oktober 1944, sind die Storylines des Films. Sie geben ihm die narrative Halterung – jedoch, Halt geben können, ja: sollen sie nicht.

Die Shoa kannte keine Rationalität

Ausländer gelingt es tatsächlich, den Leichnam vor der Schändung durch das Skalpell zu bewahren. Er will ihn, seinen, Sauls Sohn, rituell bestatten und braucht dazu einen Rabbi, den er mit geradewegs manischer Unbeirrbakeit, aber letztlich erfolglos unter den neuankommenden Deportierten sucht. Immer wieder bringt er damit sein Kommando in Gefahr – und mit ihm den historisch verbürgten Plan, sich gegen die SS-Peiniger zu erheben, die Krematorien zu sprengen und aus dem Lager zu fliehen.

Das Kommando: das sind vor allem zwei Männer: Abraham (Levente Molnár) und Biedermann, letzterer Oberkapo und damit Leiter des Sonderkommandos. Es sind ungleiche Brüder, dieser der aktive, jener der passive Part, der eine versonnen und auf sein Ziel fixiert, der andere illusionslos, aber voll heimlichen Mitleids. Biedermann, verkörpert von Urs Rechn,  ist die unausgesprochene Vaterfigur, für Saul wie für das ganze Kommando. Er leitet, so weit Leitung und damit Verantwortung möglich ist in der Hölle, die kein System ist, sondern blankes Chaos, pure Hässlichkeit.

Vor allem die Figur des Biedermann widerlegt das gängige Klischee, wonach die Kapos – dass dies außerhalb der Sonderkommandos, also in den Arbeitslagern, übrigens niemals Juden waren, sondern in der Regel „arische“ Kriminelle, wird in diesem Diskurs immer noch gern unterschlagen – „schlimmer als die SS“ gewesen seien. Vielmehr waren sie zweifach Verdammte, ausgeliefert der unmöglichen Zwitterposition, Opfer zu sein und zugleich den Tätern zuarbeiten zu müssen. Ums eigene Überleben ging es dabei nur scheinbar, denn die Shoa kannte keine Rationalität, kannte keine kausale Logik. Man war ausgeliefert, so oder so. Die Zuarbeit für die Täter bedeutete tatsächlich Überlebenshilfe: indem der Kapo, die Faust der SS im Nacken, aussortierte, rettete er diejenigen, die er übrig ließ. Das Warum dieses Übriglassens steht in diesem existenziellen Umfeld nicht mehr zur Debatte; das Dass, seine Faktizität allein genügt.

Rechns Stimme ist stets dem Brechen nah, wenn er mit den „Vorgesetzten“ sprechen muss, immer zitternd, wie durchlöchert, vollgesogen mit dem Bewusstsein, es nur falsch machen zu können, keine Sicherheit haben zu können, so wie die Stimme eines missbrauchten Kindes, das sich seinen gewalttätigen Eltern gegenüber zu rechtfertigen hat und doch genau weiß, dass es diesen Dialog nur verlieren kann, weil es einen Dialog, zu dem dem Worte nach stets zwei gehören, hier nicht gibt. Die Szene, in der der wurstige Oberscharführer Voss, gespielt von Uwe Lauer, ihm befiehlt, eine Liste mit siebzig Männern seines Kommandos, „die er entbehren kann“, zusammenzustellen, gehört zu den furchtbarsten Bildern des ganzen Films. Gegen Ende, kurz bevor der Aufstand dann tatsächlich losbricht, wird auch er zur Vergasung wegselektiert, und der entsetzte Schrei seiner Männer „Das gehörte Biedermann!“, als sie wieder einmal die Habseligkeiten der Vergasten in der Umkleide aufzusammeln haben, ist das Startsignal zur Revolte.

Jeder Versuch zum Untergang verurteilt

Auch die Geschichte dieser Revolte ist eine Geschichte des Scheiterns. Die Gruppe um Saul, der kein Kämpfertyp ist und von den sowjetischen Kriegsgefangenen unter den Kommandoleuten gleichsam zum Gefecht getragen werden muss, bricht zwar aus dem Lager aus, fügt auch der SS Verluste zu. Doch das Krematorium bleibt intakt, hat doch Saul zuvor das Bündel Sprengstoff, das er von einem weiblichen Mithäftling hatte abholen sollen, auf dem Rückweg zu seinem Kommando verloren. Wie immer war er auch hier auf der Suche nach einem Rabbi, der dem toten Jungen, der immer noch im Kühlraum liegt, das Kaddisch sprechen soll.

Am Ende – die Gruppe verschnauft gerade in einem Holzverschlag in den Wäldern um Auschwitz – werden auch sie aufgespürt von einem SS-Trupp. Ein kleiner polnischer Junge, vielleicht zehn Jahre alt, hat sie entdeckt, visiert sie ein paar Augenblicke lang unsicher an – der einzige retardierende Moment im Film. Vielleicht eine halbe Minute lang weiß der Zuschauer nicht, wie es weitergeht. Gehört der Junge zu den Häftlingen? Ist er Jude? Wird er den Flüchtigen helfen? Saul schaut ihn an, lächelt zum ersten Mal im ganzen Film, es ist das erste Lächeln überhaupt in dieser brutalen, weltlosen Welt. Man weiß nicht, wieso, aber etwas wie Entspannung macht sich breit.

Dann freilich, und nur zu vorhersehbar, beginnt der Junge zu laufen, direkt in die Arme des SS-Trupps, der ihn vermutlich ausgesandt hat. Ein Mann hält dem Kleinen den Mund zu, nicht brutal, das ist auch gar nicht nötig in dieser Welt, in der die Rollen von Beherrscher und Beherrschtem so klar und unerbittlich verteilt sind, nur so lange, bis seine Kameraden an dem Holzverschlag sind. Gleich hört man Karabiner- und Maschinenpistolenfeuer, während der SSler den Jungen davonlaufen lässt. Und da läuft und hüpft er tatsächlich davon, über Stock und Stein, während das Gewehrfeuer im Hintergrund knattert.

Erniedrigung und Demütigung sind allgegenwärtig in „Son of Saul“

Nie war der Kinobesucher dem Grauen von Auschwitz so nah wie hier. Im Saal ist es totenstill, immer wieder gehen einige Zuschauer hinaus, weil sie es nicht mehr ertragen. Wir sehen weibliche Häftlinge im „Effektenlager Kanada“, angetrieben und beschimpft von Aufseherinnen. „Komm her, Du Schlampe.“ Gewalt, Erniedrigung und Demütigung sind allgegenwärtig in „Son of Saul“. Es muss nicht geschossen oder getötet werden, um die Seele zu töten. Es gibt keine Action, es gibt keinen positiven story twist, kein love interest wie in „Schindlers Liste“, kein glückliches Entkommen wie in „Das Leben ist schön“Kein Oberscharführer Holst, der, trotzdem er die ganzen „Fälscher“ hindurch mordet, doch hier und da ein brutal-„nettes“ Wort für „seine“ Häftlinge hat. Kein Amon Göth, der in einer existenzialistischen Pointe aus der Laune heraus einer Schindler-Jüdin das Leben rettet („Du bist gesund. Du kannst arbeiten.“). Hier ist, wie es bei Kavafis heißt, wirklich „jeder Deiner Versuche zum Untergang verurteilt“.

Und doch gibt es einen heimlichen Pulsschlag, der diese Handlung, die ja bewusst als Nicht-Handlung inszeniert ist (was bereits manche Kritiker im Blätterwald hermeneutisch spürbar überfordert), antreibt. Es ist das pure Überlebenwollen, sich vermeintlich nicht scherend um die Hässlichkeit, die es Minute für Minute peinigt und bedroht. Da schleicht sich Saul einmal ins „Krankenrevier“, um nach dem Leichnam seines Sohnes zu sehen, und gerät in eine Besprechung der SS-Sanitätsoffiziere. Was er hier wolle, wird er mit gespielter Höflichkeit gefragt. „Putzen“ antwortet er und gestikuliert gespielt linkisch mit den Händen, um davon abzulenken, dass er gar kein Putzzeug bei sich hat, und der SSler macht seine Sprache und seine Gestik höhnisch nach: „Put-zen, put-zen“. Der Jude will sein Leben retten in diesem Moment, und noch dafür wird er ausgelacht von den Bestien, die ihn in diesem Moment zwar leben lassen, aber nur deshalb, weil er in ihren Augen schon gar nicht mehr zu den Lebenden gehört, sein physisches Ende ohnehin von vorneherein festgeschrieben ist. Aber das Ausgelachtwerden hat Saul mit einberechnet. Es gibt keine Tortur, nicht körperlich und nicht seelisch, der er sich nicht unterzöge, um weiterzuleben und – um sein Ziel, den Leichnam des Jungen würdig zu bestatten, zu erreichen.

Das Überlebenwollen ist der heimliche Pulsschlag des Films

Zwar gelingt auch dies am Ende nicht – aber: auch die SS bekommt die Leiche des Jungen nicht zu fassen. Mit auf die Flucht aus dem Lager am Tag des Aufstands schleppt Saul auf den Körper des Toten, den er als seinen Sohn ansieht und den er aus der Autopsie geschmuggelt hat. Am Fluss angelangt, will er ihn bestatten, ein französischer Jude soll das Kaddisch sprechen, weiß aber nach ein paar Worten nicht weiter – es wird klar: er ist gar kein Rabbi. Also nimmt Saul den Jungen wieder auf seine Schultern und wirft sich in den Fluss. Da entreißt die Strömung ihm das Bündel. der eingewickelte Tote wird fortgetragen von den Wellen, während Saul ans Ufer, von dem er losgeschwommen, zurückkehrt. Die letzten Bilder zeigen ihn mit den Kameraden in jenem Holzverschlag. Biedermann und Abraham sind da schon tot, und Saul wird ihnen gleich nachfolgen.

Das Schicksal des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz wurde lange Zeit vom kulturellen Gedächtnis in Deutschland ignoriert. Mit dieser hässlichen omertà bricht der Film endgültig – anschließend an eine Tendenz der vergangenen zwanzig Jahre, die dieses Kapitel endlich gebührend und auch öffentlich resonant „aufarbeitete“. Der Einsatz im Sonderkommando mag die, die ihn überlebten (tatsächlich konnten sich einige der Aufständischen vom 7. Oktober 1944 anschließend unter die normalen Häftlinge mischen und bis zur Befreiung des Lagers durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 durchhalten), gerettet haben; ihre Seelen hat er nachhaltig beschädigt. Die Bilder und Erlebnisse in den Gaskammern und Krematorien wurden die Betroffenen ihr Leben lang nicht mehr los.

Als letzter Überlebender des Sonderkommandos gilt Dario Gabbai, ein sephardischer Jude aus Thessaloniki, das über Jahrhunderte, unter byzantinischer, türkischer und dann wieder griechischer Herrschaft, eine der größten jüdischen Diaspora-Gemeinden beherbergte, ehe die Nazis aus der Vielvölkerstadt eine „city of ghosts“ (Mark Mazower) machten. Sein Name – der Dreiundneunzigjährige lebt in Kalifornien – fällt mehrmals an diesem Abend im „Delphi“, und ihm verdanken wir auch eines der bewegendsten Zeugnisse dessen, wozu der Mensch noch im schlimmsten Leid fähig ist:

„Unter den an diesem Tag vergasten Opfern waren auch zehn Bekannte von uns und Familienangehörige aus Griechenland. Als wir da mit dem Verbrennen der 390 Körper fertig waren, verbrannten wir von unseren Freunden und Bekannten jeden einzeln, nahmen die Asche eines jeden und taten sie in eine Büchse, schrieben den Namen drauf, das Geburtsdatum und den Todestag. Wir begruben sie und sagten sogar Kaddisch.“

(Zit. n. Gideon Greif, Wir weinten tränenlos. Augenzeugenberichte des jüdischen „Sonderkommandos“ in Auschwitz. Dt.: Köln 1995.)

Das Schweigen der Medien

„Son of Saul“ hat in den deutschen Medien, anders als im Rest der Welt, bislang kaum beachtenswerte Resonanz gefunden. Die großen Zeitungen und Anstalten drückten sich mit wenigen Ausnahmen an einer großflächigen Berichterstattung bislang konsequent vorbei. Eine Rolle spielt sicherlich, dass der Film den beliebten Mythos von den „bösen Sonderkommandos“ gründlich zerstört, mit dem viele Deutsche sich bzw. ihre Vorfahren immer noch von der Schuld der Shoa heimlich exkulpieren.

Und natürlich spielt die künstlerische Qualität des Films eine Rolle, die deutsche Sehgewohnheiten überfordern mag: die Schonungslosigkeit der Darstellung und vor allem der Erzählung. Das deutsche Geschichtskino, das seit Eichingers „Untergang“ auf den Spuren einer klandestinen positiven Wiederaneignung seiner jüngsten Vergangenheit wandelt, als deren stilistisch und moralisch bedenklichstes Zeugnis Nico Hofmanns „Unsere Mütter, unsere Väter“ gelten dürfte, möchte schlicht nicht mehr an die „Moralkeule Auschwitz“ erinnert werden. Und in den großen Blättern von der ZEIT bis zur FAZ, die sich ihre intellektuelle credibility einst genau durch die Auseinandersetzung mit solchen Stoffen erwarben, diskutiert man derweil lieber, ob man Flüchtlinge vom Besuch öffentlicher Schwimmbäder ausschließen soll, als sich mit den genozidalen Konsequenzen auseinanderzusetzen, die ein real existierender Rassismus im Handumdrehen haben kann.

Den Finger in diese Wunde legt dafür Géza Röhrig, der an diesem Abend in Berlin gleichsam spokesperson für Cast und Crew ist (Regisseur Nemes ist nicht dabei). Emphatisch und aufrüttelnd erinnert er an die massiven Repressionen, denen Sinti und Roma im heutigen Ungarn ausgesetzt sind. Aber seine mahnenden Worte gelten beileibe nicht allein seiner Heimat Ungarn und der Rechtsregierung unter Viktor Orbán. Immerhin wurde der Film, mit angeblich 900.000 Euro denkbar knapp budgetiert, neben dem Sponsoring durch die Jewish Claims Conference auch durch staatliche ungarische Gelder gefördert.

Doch ausgerechnet Deutschland wollte sich an seiner Realisierung nicht beteiligen – obwohl es das Land der Täter ist, obwohl vier Deutsche in „Son of Saul“ in Haupt- und Nebenrollen zu sehen sind, neben Rechn und Lauer Björn Freiberg und Christian Harting, der als süßlich-sadistischer Oberscharführer Busch christophwaltzsches Format beweist. Die deutsche Filmbranche und, bislang zumindest, auch die deutsche Medienbranche müssen sich die Frage gefallen lassen, wieso ihnen anspruchslos-gefällige (und oftmals nicht einmal mehr das) TV-Unterhaltung immer noch wichtiger ist als ein solches Meisterwerk.

Géza Röhrig: This didn’t start with Hitler

Auf dem Podium im Anschluss an die Vorführung fällt auch der entscheidende Satz des Abends: „This didn’t start with Hitler. It started with the middle ages.“ Unverdautes Mittelalter, ein passiv-aggressives Zurückscheuen vor der Moderne grassieren immer noch im kollektiven Bewusstsein des alten Europas, in Deutschland insbesondere, verbunden mit einer gleichsam staatlich geförderten Unklarheit über den eigenen historischen Standort. „Son of Saul“ wird, wenn er am 10. März in die deutschen Kinos kommt, für Aufregung sorgen – und, so ist zu hoffen, vielleicht auch für Besinnung.

© Konstantin Sakkas, 2016. Abdruck und Zweitverwertung, auch auszugsweise, nur nach vorheriger Genehmigung des Autors. 

 

„Saul fia / Son of Saul“. Ungarn 2014. Regie: László Nemes. Drehbuch: László Nemes, Clara Royer. Mit: Géza Röhrig, Urs Rechn, Levente Molnár. Produktion: Gábor Rajna, Gábor Sipos. Rechte: Sony Pictures Releasing GmbH, Berlin. Filmstart in Deutschland: 10. März 2016. Grand Prix de Cannes 2015, Golden Globe 2016, Critics Choice Award 2016, Academy Award 2016.

 

Header: Christian Harting und Geza Röhrig in Son of Saul. Szenenfoto. Rechte: Sony Pictures Releasing GmbH.

„Son of Saul“ in der Internet Movie Database

Tatort-Nachlese: Der große Schmerz Teil 1 mit Til Schweiger, Neujahr 2016

Alle seine unerledigten Triebe, so scheint es, legt das öffentliche Bewusstsein dieses Landes in den Tatort. Regiert von Merkel-Mutti, schafft man sich eine russische Catwoman, die sich nicht hat „totficken“ lassen (wie es bei solcher Wortwahl wohl um das Sexualleben der Drehbuchautoren ausschaut?), sondern „hart“ geworden ist, der nuschelnde Hauptdarsteller Typ Hamburger Werbefuzzi darf wie die Ghostbusters um sich knallen und am Ende gar noch Gespür fürs Tragische zeigen, als wäre er ein ernstzunehmender Schauspieler, und die deutsche Polizei, eine der bräsigsten und unbeliebtesten Behörden überhaupt, wird glorifiziert, als handele es sich um den Stab Eisenhowers kurz vor der Landung in der Normandie, während Scheckbuch-Deutschland selber bei jedem internationalen Konflikt die klassische Wegduck-Strategie fährt (offizielle Nicht-Teilnahme, aber „heimlich“ Drohnen und Folterhäftlinge durchfliegen lassen – Hauptsache keine Farbe bekennen, keine stringente Haltung zeigen). Die einzige politische Figur in der Personnage, der schneidige, koksende und verboten gutaussehende Hamburger Senator wiederum von einer weltläufigen Coolness, mit der kein Politiker es heutzutage auch nur zum OV-Vorsitz in der westdeutschen Provinz bringen würde. Hier verstecken die Autoren ihre heimlichen politischen Sehnsüchte.

Die offene politische Aussage dabei ein einziger Seitenhieb auf den Liberalismus (der Senator eben, als der ein bekannter FDP-Politiker nu notdürftig verschlüsselt ist) und auf „die Russen“, die offenbar nur Mädchenhandel und Waffenschmuggel kennen (Moment… hatten wir das nicht schon mal…?).

Um es mit Bruno Ganz in seiner Paraderolle als „böhmischer“ Gefreiter zu sagen: Man müsste die ganze ARD-Unterhaltungsabteilung sofort in die HKL nach Aleppo schicken, anstatt dass sie ihren Thanatos-Trieb in so billig-präpubertär aufgemachtem und dabei sündhaft teurem (Helene Fischer war wahrscheinlich so teuer wie der restliche Cast zusammen) TV-Klamauk ausleben, den wir dann noch bezahlen dürfen („dank Ihrer Gebühren“)!

Header: Til Schweiger und Arnd Klawitter in „Der große Schmerz“, Szenenfoto. Rechte: ARD/Das Erste

Hitlers Marschall Vorwärts

Erwin Rommel im Lichte seiner Filmbiographie von 2012.

„Wir werden fechten, wo wir stehen, keinen Fußbreit Boden ohne Kampf aufgeben. Und wenn wir einen Fußbreit aufgeben, sofort wieder vorstoßen. Und wir sind ja so glücklich, es seit gestern zu wissen, dass unser Generaloberst Rommel …“

Weiter kommt Hitler in seiner Rede zum neunten Jahrestag der „Machtergreifung“ am 30. Januar 1942 im Berliner Sportpalast nicht. Tosender Beifall unterbricht den „Führer“. Der Name des hochdekorierten Truppenführers, der mit seiner Panzerarmee seit einem Dreivierteljahr die britischen Truppen in Nordafrika in Schach hält, reißt die Zuschauer zu Jubelstürmen hin. Rommel ist nicht nur ein General, er ist ein Phänomen, ein Mythos, der NS-Ritter ohne Fehl und Tadel, ein schwäbischer Biedermann in Epauletten und Schirmmütze, mit Pourle- Mérite und Ritterkreuz. Glühende Nationalsozialisten können sich ebenso mit ihm identifizieren wie nüchterne, „unpolitische“ Militärs und heimliche Gegner Hitlers.

Vor allem um Letztere geht es in den vergangenen Jahren immer wieder. Das Verhältnis von Johannes Eugen Erwin Rommel – letzter Dienstgrad Generalfeldmarschall, geboren am 15. November 1891 in Heidenheim an der Brenz, gestorben am 14. Oktober 1944 auf einer Autofahrt bei Herrlingen nahe Ulm – zum deutschen Widerstand gegen Adolf Hitler gehört zu den letzten ungelösten Rätseln des Dritten Reiches. Ein TV‑Dokudrama, das am 1. November im Abendprogramm der ARD ausgestrahlt wird, versucht nun, im 70. Jahr seines Bestehens, die Annäherung an den „Mythos Rommel“.

Es ist ein großer Film, sicherlich auch dank der umsichtigen Beratung durch den renommierten Widerstandsforscher Peter Steinbach, mittlerweile emeritierter Geschichtsprofessor an der Universität Mannheim. Wäre er in Hollywood gedreht worden, käme er in die Kinos, fürs Fernsehen ist er fast zu schade. Die Dialoge sind, von einigen wenigen offenbar unvermeidlichen Fehlerchen im historischen Detail abgesehen, präzise. Mit Geschick bedient man sich cineastischer Anleihen, vor allem aus dem US‑Epos The Longest Day von 1962, das hier quasi am laufenden Band zitiert wird. Johannes Silberschneider spielt Hitler um Längen besser als der geifernde Bruno Ganz in „Der Untergang“, trifft insbesondere dessen oberösterreichischen Tonfall, ohne dabei ständig wie ein Epileptiker schreien zu müssen, während die rassige Aglaia Szyszkowitz, auch eine Österreicherin, eindeutig die bessere Corinna Harfouch ist.

Den Marschall selber, dessen letzte Monate der Film erzählt und der als deutsche Schlüsselfigur des Jahres 1944 inszeniert wird, stellt Ulrich Tukur dar, der sich hierfür extra de Dialekt der Schwäbischen Alb, freilich in seiner bourgeoisen Version, antrainiert hat, und seine biedere, aber nicht unschneidige und vor allem hochaufgeschossene Gymnasialrektorenstatur bildet den Charakter und das Dilemma des Württemberger Mittelstandskindes Rommel tatsächlich ziemlich ideal ab.

An seiner Seite spielt Benjamin Sadler als Stabschef Hans Speidel den intellektuell soignierten Einflüsterer, gleichsam einen guten Mephisto, wie er ihn schon als Spalatin in „Luther“ an der Seite des unvergessenen Peter Ustinov spielte. Der Generalleutnant – Spiritus Rector der deutschen Küstenverteidigung und nach dem Krieg Viersternegeneral der Bundeswehr und schließlich Oberbefehlshaber der Nato-Landstreitkräfte – ist der zweite Heldentenor in dieser Besetzung, und auch er ist ein gespaltener Charakter. Seinen unentschlossenen Oberbefehlshaber hält er erst aus der Schusslinie der NS‑Verfolger, nach dem Krieg modelt er ihn zum Widerstandshelden um. Er ist es, der beim Feldmarschall Oberstleutnant Cäsar von Hofacker einschleust, Emissär der Widerstandsgruppe um Stauffenberg in Berlin und nach dem 20. Juli verhaftet, gefoltert und schließlich in Berlin-Plötzensee gehenkt, der Rommel wahrscheinlich über die Attentatsplanungen informiert, ohne ihm allerdings eine eindeutige Stellungnahme gegen Hitler abzuringen. Dabei weiß Rommel inzwischen, dass der Krieg mit Hitler an der Spitze nur verloren werden kann; als deutscher Generalfeldmarschall im Jahr 1944 weiß er mit großer Sicherheit auch, dass im Osten Juden ermordet werden.

Auch wenn er mit dem Letzteren nichts zu tun haben will und es als Truppenführer in Frankreich, Nordafrika und Italien auch nicht musste, so hat er qua Amt mit Ersterem so viel zu tun, dass ihn sein nüchternes Tatsachenwissen um die himmelhohe Überlegenheit der Alliierten und den absehbaren Erfolg der Invasion bald in Opposition zu Hitler bringt. Die legendäre Lagebesprechung mit dem „Führer“ kurz nach der alliierten Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 verlässt er als von der Hitler- Kamarilla misstrauisch beäugter Querulant. Vom Bombenattentat Stauffenbergs am 20. Juli erfährt er aus dem Radio, nachdem ihn ein Tieffliegerangriff drei Tage zuvor ans Krankenbett geworfen hat. Den Oberbefehl über die Heeresgruppe verliert er Anfang August, und bei den Verhören, die die Gestapo mit den verhafteten Verschwörern anstellt, fällt immer wieder sein Name als der eines möglichen Mitwissers.

Das genügt Hitler. Er schickt ihm die Generäle Burgdorf und Maisel nach Hause, die dem immer noch angeschlagenen Rommel die Giftampulle mit der Versicherung Hitlers überbringen, dass die Öffentlichkeit über die Umstände seines Todes nichts erfahren und er stattdessen, als „seinen Verletzungen erlegen“, ein Staatsbegräbnis erhalten und in das ehrende Gedächtnis Deutschlands als im Kampf tödlich verwundeter Truppenführer eingehen werde. Am 14. Oktober 1944 nimmt sich Rommel im Dienstwagen der beiden Generäle – SS und Polizei haben derweil sein Grundstück umstellt – das Leben. Es folgt der pompöse Staatsakt in Ulm, mit der Hakenkreuzfahne als Bahrtuch, Ordenskissen und Ehrenwachen im Generalsrang mit gezogenem Degen.

Das, was unmittelbar vor Rommels Tod geschah und was bis heute im Unklaren ist, steht im inhaltlichen Zentrum des Filmes. Hier müssen sich Drehbuch und Regie beweisen, und daran, wie sie das tun, werden sich fraglos heftige Kontroversen entzünden. Im Vorfeld, insbesondere aufseiten der Familie Rommel, haben sie das bereits getan. Rommels letzte Filmworte an Frau und Sohn Manfred Rommel – später der langjährige Oberbürgermeister Stuttgarts und, wie Albert Speer junior, trotz seiner Aszendenz eine feste Größe in der deutschen Hautevolée – lauten: Er sei „unschuldig“, er habe „das Attentat abgelehnt“.

Dieses Schlusswort ist ein eklatanter Bruch mit der gesamten Rommel-Tradition seit der ersten amerikanischen Verfilmung von 1951, als James Mason ihn mit straffer Mimik als geläuterten Helden verkörperte, der sich von Hitler klar distanziert hat. Rommel, war das nicht „unser Rommel“, und zwar nicht im Sinne Hitlers, sondern im Sinne der Hitler-Gegner, die ihn als moralisch lernbereiten, auf sein Gewissen hörenden, korrekten Heerführer erlebt haben wollen? Der zwar erst am Ende, aber dann entschieden auf die Seite des Widerstands getreten war und der sich dem ihm offerierten Hochverratsprozess vor dem Volksgerichtshof nur deshalb entzog, weil man ihm für diesen Fall Sippenhaft für Frau und Sohn angedroht hatte?

Der Film spart, was nicht ganz unproblematisch ist, diese letzte Konfrontation mit dem seiner Familie angedrohten Schicksal aus. Aber hat er damit so sehr Unrecht? Sippenhaft, das war nach dem 20. Juli für die Familien der Widerstandskämpfer und ihrer Mitwisser, wie schon für Millionen Namenlose in ganz Europa, ein alltägliches Schicksal. Natürlich steht es den Nachgeborenen nicht zu, als Unbeteiligte eine moralische Haltung in einer solchen Grenzsituation einzufordern. Aber es ist ein legitimer Zugriff auf das Phänomen Rommel, dass man diese Frage zurücktreten lässt hinter die viel drängendere, gewichtigere Frage, ob Rommel anders hätte handeln können, als er gehandelt hat.

Hannah Arendt, die zum konservativen deutschen Widerstand in ihrem „Eichmann“-Buch von 1963 harte, aber kluge Worte fand, hat das Wesen der Moral in einem Satz zusammengefasst, den sie in der Lehre und im Schicksal des Sokrates vorgefunden hatte: dass es besser sei, Böses zu erleiden, als Böses zu tun. Rommel hat, als General des Massenmörders Hitler, der ihm im Westen die Stange halten sollte und auch bis zuletzt hielt, am Bösen zweifellos mitgewirkt, und je näher das Ende rückte, desto klarer muss ihm dies geworden sein. Wie Ernst Udet, der in den Selbstmord getriebene Chef der Luftwaffenrüstung, war auch er „des Teufels General“. Selbst wenn er sich wie auch Udet weniger zuschulden kommen ließ als seine Generalskameraden, die, wie die Möchtegern-Spätpreußen Gerd von Rundstedt und Erich von Manstein, im Osten die Einsatzgruppen der SS morden ließen oder, wie der Musternazi Walter von Reichenau, zu diesem Morden sogar noch anfeuerten, so verschafft ihm das nicht zugleich mildernde Umstände. Im Gegenteil: Von ihm als einem von den „Guten“, diesem chevalier sans peur et sans reproche, der sich an den Verbrechen des Regimes nie beteiligt hat, erwartet man doch gerade volles Engagement, wenigstens ein klares Bekenntnis für den Widerstand und gegen den Teufel, dessen Marschall er zuletzt ohnehin nur mehr sorgenvoll und voller Zweifel spielte. Von wem denn sonst, wenn nicht von ihm?

Von diesem Rommel dachten wir doch alle, er sei letztendlich doch ein Saubermann und Hitler-Gegner gewesen – und die geduldige Lobbyarbeit der konservativen Widerstandsforschung, mit seinen Nachfahren an der Spitze, hat uns darin stets bestärkt. Und nun soll er, als man ihm auf Befehl Hitlers die Giftkapsel überbrachte – sie wirkte in drei Sekunden, der Volksgerichtshof hätte ihn zu einem qualvollen Tod durch den Strang verurteilt – gesagt haben, er sei „unschuldig“ am Attentat? Ein letztes Bekenntnis zum „Führer“, von ihm, dem „Wüstenfuchs“, den Churchill und Montgomery als ritterlichen Gegner respektierten? Der als Sinnbild eines besseren Deutschen in Uniform ins kollektive Gedächtnis eingegangen war?

Man muss einige hermeneutische Volten schlagen, um diese Unterstellung zu begreifen, um sie nicht zu eng, aber auch nicht zu weit auszulegen. Nur wer sich dieser Mühe – es ist eine – unterwirft, geht mit der nötigen Nachdenklichkeit, aber auch dem ebenso nötigen Gefühl der Befreiung aus diesem Film. Der nämlich sorgt mit dem eindringlichen Narrativ von Rommels quecksilbriger Unverbindlichkeit, Unentschlossenheit und Unverantwortlichkeit, seinem typisch deutschen Für-alles- und-nichts-zu-haben-sein für starke Beklemmungen.

Rommel war in seiner Art ein typischer Deutscher des Jahres 1944, ein Bilderbuchrepräsentant der nivellierten Mittelstandsgesellschaft des Nationalsozialismus. Er konnte sich nicht entscheiden. Man darf seinem Schlusswort nicht allzu viel Gewicht beimessen. Letztlich ist es genauso Kolportage wie die Anti-Hitler-Bekenntnisse, die ihm im Zuge der Reinwaschung der Wehrmacht durch die auf die deutsche Wiederbewaffnung lauernden Westalliierten in der Nachkriegszeit in den Mund gelegt wurden. Als Deutungsversuch aber spiegelt es in denkbar knapper Verdichtung das Dilemma der deutschen Gutbürgerlichkeit wider, die sich mit einem Sturz Hitlers zugleich um ihre Privilegien, ihr protestantisches Wohlleben, ihre Beamtenpensionen, Dividenden und Landhäuser betrogen sah; die mit dem Ende des „Führers“ zugleich das Ende ihres spätromantischen Traumes von Ordnung, Macht und Geborgenheit fürchtete und die ihm auch deshalb bis zuletzt, in kümmerlicher innerer Zerknirschung, die Treue hielt.

Wer heute durchs Schwabenland fährt, begegnet einer Welt der scheinbaren Sekurität, einer Welt der Bausparverträge, der abbezahlten Mittelklassewagen und sorgsam gepflegten Vorgärten; einer Welt, in der die Welt noch in Ordnung zu sein scheint, aber eben nur scheint, wie jeder weiß, der diese Provinz von innen kennt. Aus den Vorläufern dieser Welt stammte Erwin Rommel. Die historischen Ereignisse führten ihn ins Epizentrum einer Entwicklung, die mit mephistophelischer Eindringlichkeit Ruhm versprach, alexandrinische Eroberungszüge, Nennungen im Wehrmachtsbericht, das Ritterkreuz mit Eichenlaub, Schwertern und Brillanten. Doch der Preis, um den dieses Versprechen eingelöst wird, ist die Teilnahme am Verbrechen, die Einweihung in düstere Geheimnisse, der Sturz in den Dreck.

Sein Schlussbekenntnis für Hitler und gegen das Attentat hat eine tiefere Schlüsselfunktion. Denn das eigentlich Schlimme an ihm ist nicht, dass es ein Bekenntnis zu Hitler und gegen die Widerständler war, die bis zuletzt um den „Wüstenfuchs“ als Galionsfigur gebuhlt hatten, sondern dass auch dieses letzte Bekenntnis unaufrichtig und falsch war. Das wissen auch die Macher des Filmes, und auf diese Wirkung haben sie dieses letzte Bekenntnis dramaturgisch berechnet. Rommel war weder ein fanatischer Nazi noch ein überzeugter Widerstandskämpfer. Er war moralisch letztlich ein Niemand, ein Nichts. Am Ende weigerte er sich, wie es bei Hannah Arendt heißt, „Person zu sein“, sich wenigstens zu irgendetwas, und sei es zum Bösen, ehrlich zu bekennen. Er, der große, starke Mann, der mit seinen Panzermännern erst die Franzosen und dann die Engländer vor sich her getrieben hatte, entpuppte sich in seiner letzten Seelenhäutung, im Angesicht des Todes, als zu klein für die Titanenaufgabe, die das Schicksal und das Gewissen ihm am Ende einer so steilen Karriere als Abschlussprüfung gestellt hatten. Freilich: damit stand Erwin Rommel nicht allein.

Header: Adolf Hitler und Generalmajor Erwin Rommel, hier Kommandeur der 7. Panzerdivision. Zwischen Mai 1940 und Februar 1941. 

Obiger Text erschien unter dem Titel „Der Held, der keiner war“ mit leichten Textvarianten im Oktober 2012 im Magazin „Cicero“.