Der Erste Weltkrieg im Nahen Osten

Der Erste Weltkrieg war ein Weltkrieg im buchstäblichen Sinne. Er wurde nicht nur auf dem europäischen Kriegsschauplatz ausgetragen, sondern auch auf allen Weltmeeren, in Afrika – und im Nahen Osten.

Auf Seiten der Mittelmächte kämpfte seit August 1914 auch das Osmanische Reich. Der „kranke Mann am Bosporus“ war ein Vielvölkerstaat, das islamische Pendant zum katholischen Österreich-Ungarn, mit dem gemeinsam es im fünfzehnten Jahrhundert die Nachfolge des gefallenen Oströmischen Reiches, die Nachfolge von Byzanz angetreten hatte. Der Sultan in Konstantinopel, wie die frühere Hauptstadt des griechisch-römischen Kaiserreiches nach wie vor hieß, herrschte nicht nur über die Türkei, sondern über den gesamten Nahen Osten unter Einschluss von Mesopotamien und Teilen der arabischen Halbinsel.Im Innern rückschrittlich und nach westlichen Standards desorganisiert, gewährleistete dieses Reich seinen Bewohnern dennoch Ruhe, Ordnung und eine gewisse Toleranz.

Gleichwohl fand die arabische Bevölkerung, in der seit dem späten achtzehnten Jahrhundert der Wahabitismus, eine besonders aggressive und missionarische Strömung innerhalb des sunnitischen Islam, blühte, im Zeitalter des Nationalismus nach und nach Gefallen am Gedanken der Unabhängigkeit. Bei Kriegsausbruch sah sie ihre Stunde gekommen: Arabische Führer schlossen mit den Briten, die über Ägypten – einst eine byzantinische, dann eine arabische und schließlich eine osmanische Provinz – als Vizekönigreich herrschten, ein Abkommen, das ihnen im Falle eines Sieges die Unabhängigkeit zusicherte. Eine besondere Rolle spielte hier der englische Abenteurer Thomas Edward Lawrence, der als „Lawrence of Arabia“ in die Geschichte einging.

Der Nahe Osten wird heute eher als Nebenkriegsschauplatz wahrgenommen. Doch in Wahrheit liegt im Ersten Weltkrieg der Schlüssel zum Nahostkonflikt unserer Tage, so wie im Orientkonflikt der Schlüssel zu den großen europäischen Kriegen und schließlich zum atlantisch-eurasischen Gegensatz seit Beginn der Neuzeit liegt. So schreibt auch der US-amerikanische Historiker David Fromkin:

 

„Alle heutigen Konflikte des Nahen Ostens gehen zurück auf den Ersten Weltkrieg.“

 

Im 19. Jahrhundert stützen die Westmächte noch das Osmanische Reich, um ein Vordringen Russlands dort zu verhindern. Seit dem Berliner Kongress 1879 jedoch wurde das Deutsche Reich zum stärksten Verbündeten des Sultans. Projekte wie der Bau der Bagdadbahn und die türkische Militärmission unter den preußischen Generalen Colmar Graf v. der Goltz und Otto Liman v. Sanders festigten das Band zwischen Berlin und Konstantinopel.

Als der Krieg 1914 ausbrach, fürchtete der Sultan den definitiven Verlust des Nahen Ostens an die Westmächte, während Kaiser Nikolaus II. von Russland die jahrhundertealte Vision seiner Dynastie, die griechischen Glaubensbrüder in Ionien und an der Schwarzmeerküste zu befreien und sich in Konstantinopel zum Kaiser des neuerstandenen Byzantinischen Reiches zu krönen, auf einmal Wirklichkeit werden sah. In der Tat war es

 

„seit Jahrhunderten der russische Traum gewesen, Konstantinopel zu erobern, zum neuen Byzanz und zur Seemacht im Mittelmeer aufzusteigen, ja schließlich zu einer Weltmacht zu werden.“

 

Seit der Hussein-McMahon-Korrespondenz von 1915/16 zwischen dem osmanischen Scherifen (Statthalter) von Arabien, Hussein ibn Ali, der die Herrschaft des Sultans abschütteln wollte, und dem britischen Hochkommissar von Ägypten, Sir Henry McMahon,betrieben England und Frankreich die Zersetzung des muslimischen Großreichs. Grundlage hierfür wurde das Sykes-Picot-Abkommen vom Mai 1916, unter russischer Billigung geschlossen zwischen zwei Spitzendiplomaten der beiden Entente-Staaten, das „heute in arabischen Ländern immer noch als Synonym für koloniale Willkür gilt“ (Fromkin).Den arabischen Völkern im Nahen Osten versprachen sie für die Zeit nach Kriegsende eigene Staaten, Russland hingegen sollte Konstantinopel und damit einen Teil der Türkei erhalten.

Nach der Oktoberrevolution 1917 wurden die russischen Pläne zwar hinfällig, in der Türkei übernahm nach dem Sturz des Sultans Mustafa Kemal „Atatürk“ die Macht. Doch die neuen nahöstlichen Staaten kamen unter westliches Mandat: der Irak unter britisches, Syrien unter französisches.Ihre Grenzen wurden willkürlich gezogen, Muslime und Juden aber, die unter dem Sultan noch relativ ungestört nebeneinander gelebt hatten, fanden von nun an zu keiner friedlichen Koexistenz mehr, immer öfter kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Voll souverän wurden alle diese Staaten erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Westmächte hatten auf dem Rücken der Bevölkerung neue Provinzen gewonnen.Fromkin schreibt:

 

„Großbritannien und, in geringerem Maße, Frankreich [waren] die prägenden Mächte der Region. Mit der Beseitigung des Osmanischen Reiches radierten sie die Landkarte des alten Mittleren Ostens aus und entwarfen eine neue. Der Irak, Jordanien und Israel sind britische Kreaturen, Syrien und der Libanon sind französische – mit verheerenden Folgen. Seit 1919 herrschen im Mittleren Osten Wirrwarr und Blutvergießen.“

 

Im März 1916 stellte die Oberste Heeresleitung ein eigenes Asien-Korps auf, das der Heeresgruppe F („Yildirim“) angegliedert wurde. Die Heeresgruppe selbst bestand aus drei osmanischen Armeen, hatte aber bis 1918 deutsche Oberbefehlshaber: erst General Erich v. Falkenhayn (den man nach seiner Entlassung als Chef der 2. OHL im August 1916 auf diesen Posten abschob), dann Liman v. Sanders.

Der Heeresgruppe Yildirim gegenüber stand die britische Egyptian Expeditionary Force mit drei Armeekorps, erst unter Generalleutnant Archibald Murray, dann (ab 1917) unter General Edmund Allenby als Kommandierendem General. Im Dezember 1917 nahmen die Briten nach mehrwöchigen Kämpfen Jerusalem ein.

Am 9. Dezember fiel die Stadt, zwei Tage darauf zog Allenby mit seinem Stab in die Heilige Stadt ein. Als er das Stadttor erreichte, stieg er vom Pferd und betrat so, bis dahin einmalig in der Kriegsgeschichte, zu Fuß die eroberte Stadt – aus Respekt vor der Heiligkeit dieser Kultstätte dreier Weltreligionen.

Die Palästinaschlacht im September 1918, die sich über mehrere Tage hinzog und deren Höhepunkt die Einnahme von Damaskus durch die Briten war, beendete schließlich das Kapitel der deutschen Intervention im Nahen Osten, besiegelte aber auch das geopolitische Schicksal der nahöstlichen Erbmasse des Osmanischen Reiches bis in die heutige Zeit, also für ein volles Jahrhundert.

Die Türkei kapitulierte am 30. Oktober, Deutsche und Österreicher kehrten in ihre Heimatländer zurück. Den Oberbefehl über die Heeresgruppe übernahm Atatürk, der sie auf türkischen Boden zurückführte, wo sie alsbald den Kampf gegen die siegreichen griechischen Truppen aufnahm, die sich anschickten, in ihren kleinasiatischen Feldzug aufzubrechen, Konstantinopel zu befreien und altes griechisch-byzantinisches Gebiet wiederzuerobern.

Im deutschen Asienkorps, zu dem auch Soldaten Österreich-Ungarns gehörten, kämpften Bodentruppen und Fliegereinheiten. Anders als in den afrikanischen oder ostasiatischen Kolonien hielten sie sich erstaunlich lange. Anders auch als in Europa spielten Graben- und Stellungskrieg hier keine Rolle. Die Kämpfe in Wüstensand und Orienthitze wurden ähnlich kameradschaftlich geführt wie später im II. Weltkrieg der Afrikafeldzug.

Der moralisch und geopolitisch fragwürdige, aber aus seiner Haltung als „verspätete Nation“ (Helmuth Plessner) heraus verständliche Einsatz des kaiserlichen Deutschland für die Integrität des Osmanischen Reiches, das im Windschatten der Kriegshandlungen 1915 bis 1923 an den Pontosgriechen und an der armenischen Minderheit, den beiden ältesten christlichen Ethnien auf vorderasiatischem Boden, einen bis heute ungesühnten Völkermord mit mehreren Millionen Opfern verübte, schuf ein freundschaftliches Band zwischen Türken und Deutschen, das für viele Jahrzehnte halten sollte.

Doch immerhin: auch der Gegner erwies den Deutschen im Rückblick seine Reverenz. In seinen berühmten Memoiren Die sieben Säulen der Weisheit schreibt T. E. Lawrence:

 

„Sie waren zweitausend Meilen von ihrer Heimat entfernt, ohne Hoffnung in fremdem unbekannten Land, in einer Lage, verzweifelt genug, um auch die stärksten Nerven zu brechen. Dennoch hielten ihre Trupps fest zusammen, geordnet in Reih und Glied, und steuerten durch das wild wogende Meer von Türken und Arabern wie Panzerschiffe, schweigsam und erhobenen Hauptes. Wurden sie angegriffen, so machten sie halt, gingen in Gefechtsstellung und gaben wohlgezieltes Feuer. Da war keine Hast, kein Geschrei, keine Unsicherheit. Prachtvoll waren sie.“

 

Header: Fieldmarshal Viscount Allenby, der Sieger von Jerusalem, zieht am 11. Dezember 1917 zu Fuß in die Heilige Stadt ein.

Obiger Text erschien in: Ralf-Georg Reuth (mit Konstantin Sakkas), Im Großen Krieg. Leben und Sterben des Leutnants Fritz Rümmelein. München: Piper 2014.

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