Mehr Passivität wagen

Wie der Zwang, etwas werden zu wollen, unsere Seele und unsere Welt zerstört

Wieder geht ein Jahr zu Ende, und wieder bin ich nicht so viel weitergekommen, wie ich wollte. Wer kennt es nicht, dieses Gefühl? Bilanzen fallen meistens enttäuschend aus, denn das Bilanzieren bezieht sich auf genau terminierte starre Zeiträume, die wir dann mit konkretem, flüssigem Inhalt füllen wollen, und das klappt meistens nicht. Das meinte der Dichter Charles Baudelaire mit der „Bürde der Zeit“: die Zeit als Zeitstrahl, als Strecke, innerhalb derer etwas zu bewältigen sei, eine Anordnung, auf der unsere ganze Existenz fußt, die aber zutiefst irrational und auch unmoralisch ist; denn diese zeiträumliche Abstraktion lässt ja alles Kontingente, Zufällige, nicht Einberechnete unberücksichtigt. 

Das Fußballspiel dauert neunzig Minuten. Was, wenn meine Mannschaft nur fünf Minuten mehr gehabt hätte? Dann wären wir richtig wach gewesen und hätten das Spiel gewonnen. So aber fehlten uns, wie man so sagt, entscheidende fünf Minuten. Den Halbmarathon in unter 90 Minuten schaffen? Wenn ich dieses Jahr nicht an einem Virus erkrankt wäre, dann, ja, dann hätte ich dieses Ziel erreicht. Die so vielversprechende neue Liebe? Ja, wenn wir uns unter anderen Umständen kennengelernt hätten… „Unter anderen Umständen“. Und so weiter, und so weiter. Aber wir haben es nicht geschafft, und zwar nicht „in der gegebenen Zeit“.

Als so einen Zeitstrahl betrachten wir das abgelaufene Jahr, betrachten wir das ganze Leben, auch wenn es eigentlich irrsinnig ist. Das ist es, was Rilke meint, wenn er in seiner großen achten Duineser Elegie sagt, wir Menschen sähen stets den Tod, „das freie Tier“ aber habe seinen Untergang stets schon hinter und nicht vor sich. 

Dass wir Tiere so lieben, liegt daran, dass aus ihnen eine eigentümliche Zeit- und Entwicklungslosigkeit zu uns spricht. Wo keine Entwicklung, da auch keine Brüche, kein Es-nicht-geschafft-haben, jedenfalls nichts als solches Erfahrenes. Dem Menschen hingegen und auch der von ihm bewirtschafteten und manipulierten Umwelt sieht man die innere Auseinandersetzung mit ihrer Entwicklung an. Das gilt für Gesichter wie für Stadtbilder. Das Tier aber wirkt auf uns süß, weil es ewig jung bleibt, weil es nichts weiß von einem Strom der Zeit, einem Zeitstrahl, weil es nicht erst etwas werden will, sondern immer schon ist. Aus der Ewigkeit, in der kein Zeitfluss, kein Kommen und Vergehen herrscht, ist es in gewisser Weise nie hinabgestiegen in den Abgrund der zeitlichen Linearität.

Das Denken in Linearität, in Zeitstrecken, innerhalb derer etwas zu bewältigen, ein Fortschritt zu erzielen sei, zerstört die Seele und das Leben, aber es ist konstitutiv für den Menschen und für unsere Epoche. Umweltzerstörung und Klimawandel sind ein direktes Produkt der Angst, „es“ nicht zu schaffen, sich nicht versorgen zu können, ohne technische Hilfsmittel der Willkür der Natur auf ewig ausgeliefert zu sein. Also begann der Mensch, von der Natur zu lernen und sie zu manipulieren, von der Seefahrt bis zum Smartphone, von der Viehhaltung bis zum Hybridsamen. Es war nicht böse Absicht; es waren Hektik und Angst, in einem gegebenen Zeitraum nicht weiterzukommen, nach kurzem Aufflackern wieder abzutauchen in ein unbekanntes Jenseits. Hiervon, von diesem Abtauchen kauft sich der Mensch Aufschub durch den Prozess der Zivilisation, aber die Zivilisation ist selbst ein Abgrund. Aus dem rasenden Ehrgeiz, „etwas“ zu werden, aus der Angst, „es“ nicht rechtzeitig zu schaffen, zerstören wir unsere Weltbezüge, wie der Soziologe Hartmut Rosa sie nennt, und unsere Welt.

„Wer aber verzweifelt stirbt, dessen ganzes Leben war umsonst“, schreibt Adorno in seinem düsteren Minimum Morale 106, einem Urtext des Negativismus. Wir alle sind Verzweifelte, denn unser aller Prämissen stimmen nicht. Wir alle sind „im falschen Leben“, unser aller Leben war umsonst. Unser aller Geschichte müsste man, wie die Geschichte schlechthin, abbrechen und nochmal von vorn beginnen. „Unter anderen Umständen…“

Ein Jahr ist nun vorüber, ein Lebensjahr, ein Lebensjahrzehnt, und manche stehen vor ihrem letzten Lebensjahr: war das Jahr, war das Leben umsonst, weil man dieses oder jenes „in der Zeit“ nicht geschafft hat, „etwas“ Bestimmtes nicht geworden ist? Für manche Menschen endet das Leben kaum, dass es begonnen hat, sie sterben als Säuglinge oder Kinder; andere nehmen früh Schaden am Körper oder an der Seele und erlangen nie die innere und auch nicht die äußere Freiheit, in der die anderen scheinbar stehen. Ist ihr Leben umsonst, weil es in dieses oder jenes Stück Zeit gefallen ist? 

Es ist banal, für weniger Hektik zu plädieren. Aber vielleicht können wir vom Tier lernen, das nicht in Zeitstrecken denkt; das keine To-do-Listen hat, die abgehakt werden müssen, sondern das in einer eigentümlichen, für uns niedlichen Passivität in sein Leben hineinlebt. Kann man überhaupt etwas „nicht geschafft“ haben? In der Antwort auf diese Frage liegt auch ein Stück weit die Antwort auf die Frage, warum wir unsere Umwelt so beschädigt haben.

Titelfoto: In der Vision des Ezechiel im Alten Testament sind es Engel und Tiere, die Gott am jüngsten Tag an seine Seite ruft. – Raffael: Visione di Ezechiele, Öl auf Leinwand, ca. 1518, Florenz/Palazzo Pitti

Eine kürzere Fassung dieses Textes erschien am 1. Januar 2023 auf http://www.nzz.ch

© Konstantin Johannes Sakkas, 2023