Bedrohung und Heimat

Bild: Ausblick aus meinem Elternhaus, November 2015.

 

Die französische Fahne, aufgezogen nach den Attentaten von Paris vom vergangenen Samstag, erinnert mich an meine Kindheit: Damals liefen jeden Samstag und Sonntag die Soldaten der US-amerikanischen Garnison, die nur ein paar hundert Meter von uns entfernt und nur wenige Meter vor der südwestlichen Berliner Stadtgrenze, die damals zugleich Staatsgrenze war, lag, durch die Straßen unserer Wohngegend, in Marschordnung, zur Seite den Führer der Teileinheit, und sangen dabei ihre, späterhin aus „Full Metal Jacket“ wohlbekannten, Gesänge.

Jeden Abend zur gleichen Zeit ertönte von der Garnison, den McNair Barracks, her die Melodie des „Taps“, des Zapfenstreichs der US-amerikanischen Streitkräfte, die mir so zu einer der vertrautesten Melodien überhaupt geworden. Es war ein unbeschreibliches Gefühl von Welt, von Heimat und Geborgenheit, das hierdurch vermittelt wurde und das in der Erinnerung geblieben ist noch nach fast dreißig Jahren.

Freilich eben nicht das Gefühl, unbedroht zu sein! Im Gegenteil! Erst die Tatsache, dass es da draußen in der Welt Bedrohungen gab, und die Art und Weise, wie diese Bedrohung positiv, nämlich im Modus des Beschütztwerdens, widergespiegelt wurde: erst diese doppelte Bedingtheit, jene durch die Gefahr und jene durch den Schutz, gab mir, gab uns, so behaupte ich, überhaupt erst das Gefühl der Einbettung, des In-der-Welt-seins, das Gefühl, das unbedeutende eigene, kleine Leben stehe in einem merkwürdigen, mystischen Zusammenhang mit der großen Welt, dem großen Leben da draußen, das nur durch die Nachrichten im Fernsehen, die man in ihrem tieferen, historischen Sinn ohnehin kaum begriff,  oder höchstens einmal durch die Gespräche der Eltern in die eigene Lebenswelt drang.

Dass es Amerikaner waren und nicht etwa Russen, die uns beschützten und die da Woche für Woche um unser Haus patrouillierten, die mit ihren Panzern und Lastkraftwagen die Straße vor unserem Haus hinunterdonnerten und die sich mit dem zu Tränen rührenden Signal ihres Zapfenstreiches in mein Herz spielten, war unwesentlich.

Meine Generation wurde noch im Kalten Krieg geboren, aber sie erlebte ihn nicht mehr. Wesentlich war die Tatsache, dass es überhaupt etwas wie einen historischen Kontext gab, in den die eigene Biographie eingebettet war, einen „großen“ Überbau, der sich über der Partikularität der eigenen kleinen Existenz wölbte; der  zwar konkrete Gefährdungen bereithalten mochte, an sich aber, als er selbst, die große, weite Affirmation bedeutete, die Bejahung und Bestätigung der Faktizität des eigenen Daseins.

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