Der Wettlauf zum Meer und die Schlacht bei Langemarck

Die Marneschlacht war gescheitert. Die deutsche Oberste Heeresleitung (OHL) unter ihrem neuen Chef General Erich v. Falkenhayn setzte nun alles daran, die Franzosen im Norden zu umgehen und sie zugleich von den heraneilenden britischen Interventionstruppen (BEF=British Expedition Forces) abzuschneiden, die vom Ärmelkanal aus den Franzosen zur Hilfe kamen. Zugleich galt es, die belgische Armee niederzuwerfen. Vom 14. September bis zum 19. Oktober vollzog sich zwischen dem Fluss Aisne nordöstlich von Paris und der belgischen Nordseeküste das, was als „Wettlauf zum Meer“ in die Geschichtsbücher einging.

Es begann mit der Schlacht an der Aisne, nordöstlich der Marne. Die frisch eingetroffenen Briten unter ihrem Oberbefehlshaber General French wollten die deutschen Linien in einem schnellen Vorstoß durchbrechen, scheiterten aber damit. Die Deutschen reagierten, indem sie ihre Verbände nach Norden warfen, um so den Gegner einzukreisen und nach Süden zu drücken. Doch auch dieses Manöver war erfolglos. So verschoben sich die beiden Frontlinien in dem Versuch, einander gegenseitig zu umgehen, immer mehr nach Norden, erst durch Nordostfrankreich, dann über belgisches Territorium: Arras, La Bassée, Ypern, und schließlich Ostende und Zeebrügge. Über fast 200 Kilometer hinweg lagen sich die Gegner hier parallel gegenüber, manchmal keine hundert Meter voneinander entfernt.

Im Rahmen dieser Bewegung gelang es den Deutschen bis Mitte Oktober, erst Lille, dann das im Hinterland gelegene Antwerpen einzunehmen, beides wichtige Knotenpunkte. Am 15. Oktober kapitulierte die Küstenstadt Ostende. Dies bedeutete das Ende eines nennenswerten Widerstandes der belgischen Streitkräfte gegen die deutschen Invasoren. Die Kämpfe verlegten sich nunmehr direkt an die Nordseeküste. An der Mündung des Flusses Yser entbrannten im Oktober heftige Gefechte zwischen Engländern und Deutschen. Die erste Flandernschlacht begann.
Hier spielten sich am 10. November 1914 auch die Kämpfe bei Langemarck ab. Soldaten des XXIII. Reservekorps sowie des XV. Armeekorps, unter ihnen vorwiegend Gymnasiasten und Studenten, die sich freiwillig gemeldet hatten, rückten westlich des Ortes, der im Umkreis der hart umkämpften Stadt Ypern lag, unter Absingen des Deutschlandliedes gegen die Franzosen vor und erlitten dabei schwere Verluste. Der verantwortliche Kommandiere General, Berthold v. Deimling, erhielt für diese Aktion den wenig schmeichelhaften Beinamen „Schlächter von Ypern“, der Angriff selber brachte keinen nennenswerten Geländegewinn.
Dennoch wurde Langemarck schnell zum nationalen Mythos stilisiert. Die Oberste Heeresleitung meldete:

„Westlich Langemarck brachen junge Regimenter unter dem Gesange ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen vor und nahmen sie. Etwa 2.000 Mann französischer Linieninfanterie wurden gefangengenommen und sechs Maschinengewehre erbeutet.“
In der Weimarer Zeit, noch mehr im Nationalsozialismus verklärte man den Opfergang von Langemarck zum nationalen Mythos. Tatsächlich aber war der Angriff bei Langemarck aus deutscher Sicht militärisch und moralisch wenig sinnvoll. Vergessen werden darf aber nicht, dass Dasselbe für ähnliche Aktionen auf alliierter Seite galt. Langemarck fand gleichwohl Eingang ins kollektive Gedächtnis der Deutschen, auch jenseits der Glorifizierung vor 1945. So finden die Kämpfe auch in dem berühmten Antikriegsbuch „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque Erwähnung.

Flandern aber, also der nördliche Teil Belgiens, wurde nun für die kommenden eineinhalb Jahre zum Hauptaustragungsort der Kampfhandlungen im Westen. Daran wird auch deutlich, wie zentral die Rolle der britischen Intervention auf französischer Seite für den Verlauf des Krieges war: Denn erst durch das Eingreifen der Engländer wurde der Schwerpunkt der Kämpfe nach Norden verlegt. Nach dem Scheitern des Schlieffenplans und dem Rückzug auf Marne und Aisne war es nun Ziel der Deutschen, Calais in Besitz zu nehmen und dort die britische Nachschublinie zu durchtrennen.
Zugleich markiert die Erste Flandernschlacht den Übergang vom Bewegungskrieg zum Stellungskrieg. Die Truppenführer erkannten, dass sie den Gegner operativ nicht überflügeln konnten, und verlegten sich stur darauf, Vorstöße der Gegenseite mit schwerem Artillerie- und Maschinengewehrfeuer abzufangen und dann ihrerseits vorzugehen, in der Hoffnung, dann einen erschöpften Gegner vorzufinden, der weniger Widerstand leisten würde.
Das aber erwies sich als Trugschluss. Die Zeit des Stellungskrieges, des schrecklichen, aufreibenden Lebens in den Gräben und Unterständen begann.

Header: Fritz Grotemeyer, Soldaten der Infanterie ziehen singend in die Schlacht bei Langemarck am 10. November 1914 (nach 1914). © Preußischer Kulturbesitz

Obiger Text erschien in: Ralf-Georg Reuth, Im Großen Krieg. Leben und Sterben des Leutnants Fritz Rümmelein (München 2014). © Konstantin Sakkas

Novemberevolution und Waffenstillstand in Deutschland 1918

 Am 9. November 1918 trat der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Philipp Scheidemann auf den Balkon des Reichstages und verkündete der wartenden Menschenmenge: „Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen, es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik.“Bis dahin war es ein weiter Weg. Das Deutsche Reich von 1871 war zwar eine konstitutionelle Monarchie, doch in den einzelnen Bundesstaaten, die hauptsächlich die Staatsgewalt ausübten, wurden die Parlamente überwiegend nach einem Zensuswahlrecht gewählt, das die besitzlosen Schichten benachteiligte. In Preußen war dies das Dreiklassenwahlrecht, das der König in der oktroyierten Verfassungscharta von 1850 den männlichen Untertanen gewährt hatte.  Auch die Reichsleitung, bestehend aus dem Reichskanzler und den Staatssekretären als Ressortchefs, war dem Kaiser, nicht dem Reichstag verantwortlich. Im Ersten Weltkrieg, der anders als die drei Bismarckschen Kabinettskriege 1864, 1866 und 1870/71 als „Volkskrieg“ unter totaler Mobilisierung aller menschlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Ressourcen geführt wurde, wurde der Ruf nach politischer Mitsprache und nach parlamentarischer Verantwortlichkeit der Regierung unüberhörbar. Nach der Niederlage des mit dem Deutschen Reich verbündeten Königreichs Bulgarien in der Schlacht bei Dobro Polje und dem Durchbruch der alliierten Orientarmee bei Saloniki Ende September 1918, als General Ludendorff mit einem Mal Hals über Kopf die Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen forderte, konnte sich auch Kaiser Wilhelm II. diesem Ruf nicht mehr entziehen. Unter dem neuen Reichskanzler, dem liberalen Prinzen Max von Baden, kam es zu den „Oktoberreformen“. Erstmals wurden auch Abgeordnete aus Zentrum und SPD in die Reichsleitung berufen. Seit dem 28. Oktober schließlich war das Reich eine parlamentarische Monarchie.

Doch bereits vier Tage zuvor hatte der Chef der Marineleitung, Admiral v. Hipper, ohne Rücksprache mit der Regierung an die deutsche Hochseeflotte den Befehl zu einer letzten Entscheidungsschlacht herausgegeben. Seit der Skagerrak-Schlacht 1916 hatte der Großteil der Flotte untätig vor Anker gelegen. Nach dem Zusammenbruch der Salonikifront und dem alliierten Durchbruch an der Westfront bei Amiens wollte man in einem letzten Kraftakt dem Krieg doch noch eine siegreiche Wendung geben. Die deutschen Matrosen hatten sich allerdings schon auf einen baldigen Friedensschluss eingestellt und wollten sich nicht mehr in einer sinnlosen Seeschlacht verheizen lassen. Es kam zum Matrosenaufstand in Kiel und Wilhelmshaven. Soldaten verweigerten ihren Offizieren den Gehorsam und rissen ihnen die Schulterstücke herunter. Arbeiter- und Soldatenräte übernahmen die zivile und militärische Macht. Kaum ein Truppenteil wurde mehr als kaisertreu eingestuft, nicht einmal mehr die traditionsreichen Garderegimenter.

Schnell breitete sich die Revolte von der Küste ins ganze Land aus. Alle politischen Kräfte erkannten, dass die Herrschaft des Kaisers nicht mehr zu retten war. Sowohl die Oberste Heeresleitung unter Feldmarschall von Hindenburg und General Groener, der an die Stelle Ludendorffs als Erster Generalquartiermeister getreten war, als auch die Führung der Sozialdemokraten drängten Wilhelm II., entweder den Tod an der Front zu suchen, oder aber abzudanken und das Land zu verlassen. Damit wollte man eine kommunistische Revolution nach russischem Vorbild verhindern. Während Wilhelm sich noch sträubte, gab Reichskanzler Prinz Max am 9. November eigenmächtig folgenden Erlass heraus: „Seine Majestät der Kaiser und König haben sich entschlossen, dem Throne zu entsagen.“ In allen deutschen Teilstaaten wurden die Könige, Großherzöge Herzöge und Fürsten gestürzt. Aus der Matrosenrevolte war die Novemberrevolution geworden. Der Kaiser verließ das Große Hauptquartier im belgischen Spa und ging ins Exil in die neutralen Niederlande. Von dort aus erklärte er am 28. November formell seine Abdankung. Kronprinz Wilhelm verzichtete auf seine Thronfolgerechte.

Die Angst von Prinz Max und der SPD-Führung vor einem kommunistischen Umsturz – dies zeigten die weiteren Ereignisse am 9. November – war nicht unberechtigt. Schon 1917 hatte sich die SPD in einen gemäßigten Mehrheitsflügel unter Friedrich Ebert und Scheidemann (MSPD) und einen radikalen unabhängigen Flügel (USPD) unter Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gespalten. Kurz nach Scheidemanns Auftritt proklamierte Liebknecht vom Balkon des Stadtschlosses aus vor einer Menschenmenge im Lustgarten die „sozialistische deutsche Republik“ nach dem Vorbild der russischen Bolschewiken. Dennoch konnten sich MSPD und USPD auf einen vorläufigen Kompromiss einigen. Je drei ihrer Vertreter bildeten den „Rat der Volksbeauftragten“, der die Regierungsgeschäfte übernahm. Max von Baden, dem der Kaiser und seine Anhänger die eigenmächtige Abdankungserklärung äußert verübelten, trat noch am Abend zurück und übergab das Kanzleramt an Ebert.

Zwei Tage später, am 11. November, unterzeichnete eine deutsche Delegation unter Leitung des Zentrumspolitikers Matthias Erzberger bei Compiègne im Salonwagen des französischen Oberbefehlshabers Marschall Foch unter großem Druck den Waffenstillstand. Aufgrund der verzweifelten Lage des deutschen Heeres und der Tatsache, dass kein Soldat mehr weiterkämpfen würde, nahm die deutsche Abordnung alle alliierten Bedingungen an: Räumung der französischen und belgischen Gebiete, Internierung der deutschen Flotte, Einziehung von schweren Waffen und Flugzeugen, Besetzung des linken Rheinufers durch Frankreich, Lieferung von Reparationen, sofortige Annullierung des im März mit Russland geschlossenen Friedens von Brest-Litowsk. Der Krieg war vorbei, Deutschland eine Republik.
Header: Philipp Scheidemann ruft am 9. November 1918 in Berlin die deutsche Republik aus (links). Am Tag darauf: Kaiser Wilhelm II. und sein Gefolge auf dem Bahnsteig von Ejisden an der belgischen Grenze kurz vor dem Übertritt auf niederländischen Boden (rechts). Quelle: ZDF/Wikimedia Commons. 


Der Text erschien 2014 in: Ralf-Georg Reuth, Im Großen Krieg. Leben und Sterben des Leutnants Fritz Rümmelein (München 2014).  © Konstantin Sakkas